The Project Gutenberg EBook of Effi Briest, by Theodor Fontane

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Title: Effi Briest

Author: Theodor Fontane

Release Date: March, 2004  [EBook #5323]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on July 1, 2002]
[Most recently updated January 16, 2009]

Edition: 10

Language: German

Character set encoding: ASCII

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, EFFI BRIEST ***




This eBook was prepared by Gunther Olesch from a source file
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Effi Briest

Theodor Fontane



Erstes Kapitel

In Front des schon seit Kurfuerst Georg Wilhelm von der Familie
von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller
Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstrasse, waehrend nach der
Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenfluegel
einen breiten Schatten erst auf einen weiss und gruen quadrierten
Fliesengang und dann ueber diesen hinaus auf ein grosses, in seiner
Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und
Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte
weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenfluegel entsprechend,
lief eine ganz in kleinblaettrigem Efeu stehende, nur an einer
Stelle von einer kleinen weissgestrichenen Eisentuer unterbrochene
Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit
seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn
aufragte. Fronthaus, Seitenfluegel und Kirchhofsmauer bildeten ein
einen kleinen Ziergarten umschliessendes Hufeisen, an dessen offener
Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht
daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett
zu Haeupten und Fuessen an je zwei Stricken hing - die Pfosten der
Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber
und die Schaukel halb versteckend standen ein paar maechtige alte
Platanen.

Auch die Front des Herrenhauses - eine mit Aloekuebeln und ein paar
Gartenstuehlen besetzte Rampe - gewaehrte bei bewoelktem Himmel einen
angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an
Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz
entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses,
die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden
Fliesengange sassen, in ihrem Ruecken ein paar offene, von wildem Wein
umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren
vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenfluegels
hinauffuehrten. Beide, Mutter und Tochter, waren fleissig bei
der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten
zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezaehlte Wollstraehnen und
Seidendocken lagen auf einem grossen, runden Tisch bunt durcheinander,
dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit
grossen schoenen Stachelbeeren gefuellte Majolikaschale. Rasch und
sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber waehrend die
Mutter kein Auge von der Arbeit liess, legte die Tochter, die den
Rufnamen Effi fuehrte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob
sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den
ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen. Es war
ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Komische
gezogenen Uebungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und wenn sie dann
so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflaechen hoch ueber
dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit
auf, aber immer nur fluechtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen
wollte, wie entzueckend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung
muetterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und
weiss gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein
fest zusammengezogener, bronzefarbener Lederguertel die Taille gab;
der Hals war frei, und ueber Schulter und Nacken fiel ein breiter
Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarten sich Uebermut und
Grazie, waehrend ihre lachenden braunen Augen eine grosse, natuerliche
Klugheit und viel Lebenslust und Herzensguete verrieten. Man nannte
sie die "Kleine", was sie sich nur gefallen lassen musste, weil die
schoene, schlanke Mama noch um eine Handbreit hoeher war.

Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und
rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer
Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: "Effi,
eigentlich haettest du doch wohl Kunstreiterin werden muessen. Immer
am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, dass du so was
moechtest."

"Vielleicht, Mama. Aber wenn es so waere, wer waere schuld? Von wem
hab ich es? Doch nur von dir. Oder meinst du, von Papa? Da musst du
nun selber lachen. Und dann, warum steckst du mich in diesen Haenger,
in diesen Jungenkittel? Mitunter denk ich, ich komme noch wieder in
kurze Kleider. Und wenn ich die erst wiederhabe, dann knicks ich auch
wieder wie ein Backfisch, und wenn dann die Rathenower herueberkommen,
setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoss und reite hopp, hopp. Warum
auch nicht? Drei Viertel ist er Onkel und nur ein Viertel Courmacher.
Du bist schuld. Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum machst du
keine Dame aus mir?"

"Moechtest du's?"

"Nein." Und dabei lief sie auf die Mama zu und umarmte sie stuermisch
und kuesste sie.

"Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich
immer, wenn ich dich so sehe ..." Und die Mama schien ernstlich
willens, in Aeusserung ihrer Sorgen und Aengste fortzufahren. Aber
sie kam nicht weit damit, weil in ebendiesem Augenblick drei junge
Maedchen aus der kleinen, in der Kirchhofsmauer angebrachten Eisentuer
in den Garten eintraten und einen Kiesweg entlang auf das Rondell
und die Sonnenuhr zuschritten. Alle drei gruessten mit ihren
Sonnenschirmen zu Effi herueber und eilten dann auf Frau von Briest
zu, um dieser die Hand zu kuessen. Diese tat rasch ein paar Fragen und
lud dann die Maedchen ein, ihnen oder doch wenigstens Effi auf eine
halbe Stunde Gesellschaft zu leisten. "Ich habe ohnehin noch zu
tun, und junges Volk ist am liebsten unter sich. Gehabt euch wohl."
Und dabei stieg sie die vom Garten in den Seitenfluegel fuehrende
Steintreppe hinauf.

Und da war nun die Jugend wirklich allein.

Zwei der jungen Maedchen - kleine, rundliche Persoenchen, zu deren
krausem, rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz
vorzueglich passten - waren Toechter des auf Hansa, Skandinavien und
Fritz Reuter eingeschworenen Kantors Jahnke, der denn auch, unter
Anlehnung an seinen mecklenburgischen Landsmann und Lieblingsdichter
und nach dem Vorbilde von Mining und Lining, seinen eigenen Zwillingen
die Namen Bertha und Hertha gegeben hatte. Die dritte junge Dame war
Hulda Niemeyer, Pastor Niemeyers einziges Kind; sie war damenhafter
als die beiden anderen, dafuer aber langweilig und eingebildet, eine
lymphatische Blondine, mit etwas vorspringenden, bloeden Augen, die
trotzdem bestaendig nach was zu suchen schienen, weshalb denn auch
Klitzing von den Husaren gesagt hatte: "Sieht sie nicht aus, als
erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?" Effi fand, dass der
etwas kritische Klitzing nur zu sehr recht habe, vermied es aber
trotzdem, einen Unterschied zwischen den drei Freundinnen zu machen.
Am wenigsten war ihr in diesem Augenblick danach zu Sinn, und waehrend
sie die Arme auf den Tisch stemmte, sagte sie: "Diese langweilige
Stickerei. Gott sei Dank, dass ihr da seid." "Aber deine Mama haben
wir vertrieben", sagte Hulda. "Nicht doch. Wie sie euch schon sagte,
sie waere doch gegangen; sie erwartet naemlich Besuch, einen alten
Freund aus ihren Maedchentagen her, von dem ich euch nachher erzaehlen
muss, eine Liebesgeschichte mit Held und Heldin und zuletzt mit
Entsagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern. Uebrigens habe
ich Mamas alten Freund schon drueben in Schwantikow gesehen; er ist
Landrat, gute Figur und sehr maennlich."

"Das ist die Hauptsache", sagte Hertha.

"Freilich ist das die Hauptsache, 'Weiber weiblich, Maenner maennlich'
- das ist, wie ihr wisst, einer von Papas Lieblingssaetzen. Und nun
helft mir erst Ordnung schaffen auf dem Tisch hier, sonst gibt es
wieder eine Strafpredigt."

Im Nu waren die Docken in den Korb gepackt, und als alle wieder
sassen, sagte Hulda: "Nun aber, Effi, nun ist es Zeit, nun die
Liebesgeschichte mit Entsagung. Oder ist es nicht so schlimm?"

"Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm. Aber ehe Hertha nicht
von den Stachelbeeren genommen, eher kann ich nicht anfangen - sie
laesst ja kein Auge davon. Uebrigens nimm, soviel du willst, wir
koennen ja hinterher neue pfluecken; nur wirf die Schalen weit weg
oder noch besser, lege sie hier auf die Zeitungsbeilage, wir machen
dann eine Tuete daraus und schaffen alles beiseite. Mama kann es nicht
leiden, wenn die Schlusen so ueberall herumliegen, und sagt immer, man
koenne dabei ausgleiten und ein Bein brechen."

"Glaub ich nicht", sagte Hertha, waehrend sie den Stachelbeeren
fleissig zusprach.

"Ich auch nicht", bestaetigte Effi. "Denkt doch mal nach, ich
falle jeden Tag wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts
gebrochen. Was ein richtiges Bein ist, das bricht nicht so leicht,
meines gewiss nicht und deines auch nicht, Hertha. Was meinst du,
Hulda?"

"Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall."

"Immer Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer."

"Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du."

"Meinetwegen. Denkst du, dass ich darauf warte? Das fehlte noch.
Uebrigens, ich kriege schon einen und vielleicht bald. Da ist mir
nicht bange. Neulich erst hat mir der kleine Ventivegni von drueben
gesagt: 'Fraeulein Effi, was gilt die Wette, wir sind hier noch in
diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.'"

"Und was sagtest du da?"

"'Wohl moeglich', sagte ich, 'wohl moeglich; Hulda ist die Aelteste
und kann sich jeden Tag verheiraten.' Aber er wollte davon nichts
wissen und sagte: 'Nein, bei einer anderen jungen Dame, die geradeso
bruenett ist, wie Fraeulein Hulda blond ist.' Und dabei sah er mich
ganz ernsthaft an... Aber ich komme vom Hundertsten aufs Tausendste
und vergesse die Geschichte."

"Ja, du brichst immer wieder ab; am Ende willst du nicht." "Oh, ich
will schon, aber freilich, ich breche immer wieder ab, weil es alles
ein bisschen sonderbar ist, ja beinah romantisch."

"Aber du sagtest doch, er sei Landrat."

"Allerdings, Landrat. Und er heisst Geert von Innstetten, Baron von
Innstetten."

Alle drei lachten.

"Warum lacht ihr?" sagte Effi pikiert. "Was soll das heissen?"

"Ach, Effi, wir wollen dich ja nicht beleidigen und auch den Baron
nicht. Innstetten, sagtest du? Und Geert? So heisst doch hier kein
Mensch. Freilich, die adeligen Namen haben oft so was Komisches."

"Ja, meine Liebe, das haben sie. Dafuer sind es eben Adelige. Die
duerfen sich das goennen, und je weiter zurueck, ich meine der Zeit
nach, desto mehr duerfen sie sich's goennen. Aber davon versteht ihr
nichts, was ihr mir nicht uebelnehmen duerft. Wir bleiben doch gute
Freunde. Geert von Innstetten also und Baron. Er ist geradeso alt wie
Mama, auf den Tag."

"Und wie alt ist denn eigentlich deine Mama?" "Achtunddreissig."

"Ein schoenes Alter."

"Ist es auch, namentlich wenn man noch so aussieht wie die Mama. Sie
ist doch eigentlich eine schoene Frau, findet ihr nicht auch? Und
wie sie alles so weg hat, immer so sicher und dabei so fein und nie
unpassend wie Papa. Wenn ich ein junger Leutnant waere, so wuerd ich
mich in die Mama verlieben."

"Aber Effi, wie kannst du nur so was sagen", sagte Hulda. "Das ist ja
gegen das vierte Gebot."

"Unsinn. Wie kann das gegen das vierte Gebot sein? Ich glaube, Mama
wuerde sich freuen, wenn sie wuesste, dass ich so was gesagt habe."

"Kann schon sein", unterbrach hierauf Hertha. "Aber nun endlich die
Geschichte."

"Nun, gib dich zufrieden, ich fange schon an ... Also Baron
Innstetten! Als er noch keine zwanzig war, stand er drueben bei den
Rathenowern und verkehrte viel auf den Guetern hier herum, und am
liebsten war er in Schwantikow drueben bei meinem Grossvater Belling.
Natuerlich war es nicht des Grossvaters wegen, dass er so oft drueben
war, und wenn die Mama davon erzaehlt, so kann jeder leicht sehen, um
wen es eigentlich war. Und ich glaube, es war auch gegenseitig." "Und
wie kam es nachher?"

"Nun, es kam, wie's kommen musste, wie's immer kommt. Er war ja
noch viel zu jung, und als mein Papa sich einfand, der schon
Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes
Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von Briest ... Und das
andere, was sonst noch kam, nun, das wisst ihr ... das andere bin
ich."

"Ja, das andere bist du, Effi", sagte Bertha. "Gott sei Dank; wir
haetten dich nicht, wenn es anders gekommen waere. Und nun sage,
was tat Innstetten, was wurde aus ihm? Das Leben hat er sich nicht
genommen, sonst koenntet ihr ihn heute nicht erwarten."

"Nein, das Leben hat er sich nicht genommen. Aber ein bisschen war es
doch so was."

"Hat er einen Versuch gemacht?"

"Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht laenger hier in der Naehe
bleiben, und das ganze Soldatenleben ueberhaupt muss ihm damals wie
verleidet gewesen sein. Es war ja auch Friedenszeit. Kurz und gut, er
nahm den Abschied und fing an, Juristerei zu studieren, wie Papa sagt,
mit einem 'wahren Biereifer'; nur als der Siebziger Krieg kam, trat er
wieder ein, aber bei den Perlebergern statt bei seinem alten Regiment,
und hat auch das Kreuz. Natuerlich, denn er ist sehr schneidig. Und
gleich nach dem Kriege sass er wieder bei seinen Akten, und es heisst,
Bismarck halte grosse Stuecke von ihm und auch der Kaiser, und so kam
es denn, dass er Landrat wurde, Landrat im Kessiner Kreise."

"Was ist Kessin? Ich kenne hier kein Kessin."

"Nein, hier in unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine huebsche
Strecke von hier fort in Pommern, in Hinterpommern sogar, was aber
nichts sagen will, weil es ein Badeort ist (alles da herum ist
Badeort), und die Ferienreise, die Baron Innstetten jetzt macht, ist
eigentlich eine Vetternreise oder doch etwas Aehnliches. Er will hier
alte Freundschaft und Verwandtschaft wiedersehen."

"Hat er denn hier Verwandte?"

"Ja und nein, wie man's nehmen will. Innstettens gibt es hier nicht,
gibt es, glaub ich, ueberhaupt nicht mehr. Aber er hat hier entfernte
Vettern von der Mutter Seite her, und vor allem hat er wohl
Schwantikow und das Bellingsche Haus wiedersehen wollen, an das ihn so
viele Erinnerungen knuepfen. Da war er denn vorgestern drueben, und
heute will er hier in Hohen-Cremmen sein."

"Und was sagt dein Vater dazu?"

"Gar nichts. Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er
neckt sie bloss."

In diesem Augenblick schlug es Mittag, und ehe es noch ausgeschlagen,
erschien Wilke, das alte Briestsche Haus- und Familienfaktotum, um an
Fraeulein Effi zu bestellen: Die gnaedige Frau liesse bitten, dass das
gnaedige Fraeulein zu rechter Zeit auch Toilette mache; gleich nach
eins wuerde der Herr Baron wohl vorfahren. Und waehrend Wilke dies
noch vermeldete, begann er auch schon auf dem Arbeitstisch der Damen
abzuraeumen und griff dabei zunaechst nach dem Zeitungsblatt, auf dem
die Stachelbeerschalen lagen.

"Nein, Wilke, nicht so; das mit den Schlusen, das ist unsere Sache...
Hertha, du musst nun die Tuete machen und einen Stein hineintun, dass
alles besser versinken kann. Und dann wollen wir in einem langen
Trauerzug aufbrechen und die Tuete auf offener See begraben."

Wilke schmunzelte. Is doch ein Daus, unser Fraeulein, so etwa gingen
seine Gedanken. Effi aber, waehrend sie die Tuete mitten auf die rasch
zusammengeraffte Tischdecke legte, sagte: "Nun fassen wir alle vier
an, jeder an einem Zipfel, und singen was Trauriges."

"Ja, das sagst du wohl, Effi. Aber was sollen wir denn singen?"

"Irgendwas; es ist ganz gleich, es muss nur einen Reim auf 'u' haben;
'u' ist immer Trauervokal. Also singen wir:

        Flut, Flut,
        Mach alles wieder gut ..."

Und waehrend Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle
vier auf den Steg hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettelte
Boot und liessen von diesem aus die mit einem Kiesel beschwerte Tuete
langsam in den Teich niedergleiten.

"Hertha, nun ist deine Schuld versenkt", sagte Effi, "wobei mir
uebrigens einfaellt, so vom Boot aus sollen frueher auch arme,
unglueckliche Frauen versenkt worden sein, natuerlich wegen Untreue."

"Aber doch nicht hier."

"Nein, nicht hier", lachte Effi, "hier kommt sowas nicht vor. Aber in
Konstantinopel, und du musst ja, wie mir eben einfaellt, auch davon
wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat
Holzapfel in der Geographiestunde davon erzaehlte."

"Ja", sagte Hulda, "der erzaehlte immer so was. Aber so was vergisst
man doch wieder."

"Ich nicht. Ich behalte so was."



Zweites Kapitel

Sie sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer
gemeinschaftlichen Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfelscher
Unpassendheiten mit Empoerung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte
sich nicht genug tun damit, bis Hulda mit einem Male sagte: "Nun aber
ist es hoechste Zeit, Effi; du siehst ja aus, ja, wie sag ich nur,
du siehst ja aus, wie wenn du vom Kirschenpfluecken kaemst, alles
zerknittert und zerknautscht; das Leinenzeug macht immer so viele
Falten, und der grosse weisse Klappkragen ... ja, wahrhaftig, jetzt
hab ich es, du siehst aus wie ein Schiffsjunge."

"Midshipman, wenn ich bitten darf. Etwas muss ich doch von meinem Adel
haben. Uebrigens, Midshipman oder Schiffsjunge, Papa hat mir erst
neulich wieder einen Mastbaum versprochen, hier dicht neben der
Schaukel, mit Rahen und einer Strickleiter. Wahrhaftig, das sollte mir
gefallen, und den Wimpel oben selbst anzumachen, das liess' ich mir
nicht nehmen. Und du, Hulda, du kaemst dann von der anderen Seite her
herauf, und oben in der Luft wollten wir hurra rufen und uns einen
Kuss geben. Alle Wetter, das sollte schmecken." "'Alle Wetter ...',
wie das nun wieder klingt ... Du sprichst wirklich wie ein Midshipman.
Ich werde mich aber hueten, dir nachzuklettern, ich bin nicht so
waghalsig. Jahnke hat ganz recht, wenn er immer sagt, du haettest
zuviel von dem Bellingschen in dir, von deiner Mama her. Ich bin bloss
ein Pastorskind."

"Ach, geh mir. Stille Wasser sind tief. Weisst du noch, wie du damals,
als Vetter Briest als Kadett hier war, aber doch schon gross genug,
wie du damals auf dem Scheunendach entlangrutschtest. Und warum? Nun,
ich will es nicht verraten. Aber kommt, wir wollen uns schaukeln, auf
jeder Seite zwei; reissen wird es ja wohl nicht, oder wenn ihr nicht
Lust habt, denn ihr macht wieder lange Gesichter, dann wollen wir
Anschlag spielen. Eine Viertelstunde hab ich noch. Ich mag noch nicht
hineingehen, und alles bloss, um einem Landrat guten Tag zu sagen,
noch dazu einem Landrat aus Hinterpommern. Altlich ist er auch, er
koennte ja beinah mein Vater sein, und wenn er wirklich in einer
Seestadt wohnt, Kessin soll ja so was sein, nun, da muss ich ihm in
diesem Matrosenkostuem eigentlich am besten gefallen und muss ihm
beinah wie eine grosse Aufmerksamkeit vorkommen. Fuersten, wenn sie
wen empfangen, soviel weiss ich von meinem Papa her, legen auch immer
die Uniform aus der Gegend des anderen an. Also nun nicht aengstlich
... rasch, rasch, ich fliege aus, und neben der Bank hier ist frei."

Hulda wollte noch ein paar Einschraenkungen machen, aber Effi war
schon den naechsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts hin, bis sie mit
einem Male verschwunden war.

"Effi, das gilt nicht; wo bist du? Wir spielen nicht Versteck, wir
spielen Anschlag", und unter diesen und aehnlichen Vorwuerfen eilten
die Freundinnen ihr nach, weit ueber das Rondell und die beiden
seitwaerts stehenden Platanen hinaus, bis die Verschwundene mit einem
Male aus ihrem Versteck hervorbrach und muehelos, weil sie schon im
Ruecken ihrer Verfolger war, mit "eins, zwei, drei" den Freiplatz
neben der Bank erreichte.

"Wo warst du?"

"Hinter den Rhabarberstauden; die haben so grosse Blaetter, noch
groesser als ein Feigenblatt ..."

"Pfui ..."

"Nein, pfui fuer euch, weil ihr verspielt habt. Hulda, mit ihren
grossen Augen, sah wieder nichts, immer ungeschickt." Und dabei flog
Effi von neuem ueber das Rondell hin, auf den Teich zu, vielleicht
weil sie vorhatte, sich erst hinter einer dort aufwachsenden
dichten Haselnusshecke zu verstecken, um dann, von dieser aus, mit
einem weiten Umweg um Kirchhof und Fronthaus, wieder bis an den
Seitenfluegel und seinen Freiplatz zu kommen. Alles war gut berechnet;
aber freilich, ehe sie noch halb um den Teich herum war, hoerte sie
schon vom Hause her ihren Namen rufen und sah, waehrend sie sich
umwandte, die Mama, die, von der Steintreppe her, mit ihrem
Taschentuch winkte. Noch einen Augenblick, und Effi stand vor ihr.

"Nun bist du doch noch in deinem Kittel, und der Besuch ist da. Nie
haeltst du Zeit."

"Ich halte schon Zeit, aber der Besuch hat nicht Zeit gehalten. Es ist
noch nicht eins; noch lange nicht", und sich nach den Zwillingen hin
umwendend (Hulda war noch weiter zurueck), rief sie diesen zu: "Spielt
nur weiter; ich bin gleich wieder da."

Schon im naechsten Augenblick trat Effi mit der Mama in den grossen
Gartensaal, der fast den ganzen Raum des Seitenfluegels fuellte.

"Mama, du darfst mich nicht schelten. Es ist wirklich erst halb. Warum
kommt er so frueh? Kavaliere kommen nicht zu spaet, aber noch weniger
zu frueh."

Frau von Briest war in sichtlicher Verlegenheit; Effi aber schmiegte
sich liebkosend an sie und sagte: "Verzeih, ich will mich nun eilen;
du weisst, ich kann auch rasch sein, und in fuenf Minuten ist
Aschenputtel in eine Prinzessin verwandelt. So lange kann er warten
oder mit dem Papa plaudern."

Und der Mama zunickend, wollte sie leichten Fusses eine kleine eiserne
Stiege hinauf, die aus dem Saal in den Oberstock hinauffuehrte. Frau
von Briest aber, die unter Umstaenden auch unkonventionell sein
konnte, hielt ploetzlich die schon forteilende Effi zurueck, warf
einen Blick auf das jugendlich reizende Geschoepf, das, noch erhitzt
von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten Lebens vor ihr
stand, und sagte beinahe vertraulich: "Es ist am Ende das beste, du
bleibst, wie du bist. Ja, bleibe so. Du siehst gerade sehr gut aus.
Und wenn es auch nicht waere, du siehst so unvorbereitet aus, so gar
nicht zurechtgemacht, und darauf kommt es in diesem Augenblick an. Ich
muss dir naemlich sagen, meine suesse Effi ...", und sie nahm ihres
Kindes beide Haende, "... ich muss dir naemlich sagen ..."

"Aber Mama, was hast du nur? Mir wird ja ganz angst und bange."

"... Ich muss dir naemlich sagen, Effi, dass Baron Innstetten eben um
deine Hand angehalten hat."

"Um meine Hand angehalten? Und im Ernst?"

"Es ist keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. Du hast ihn
vorgestern gesehen, und ich glaube, er hat dir auch gut gefallen. Er
ist freilich aelter als du, was alles in allem ein Glueck ist, dazu
ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten, und wenn du
nicht nein sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann,
so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du
wirst deine Mama weit ueberholen."

Effi schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese finden
konnte, hoerte sie schon des Vaters Stimme von dem angrenzenden,
noch im Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und gleich danach
ueberschritt Ritterschaftsrat von Briest, ein wohlkonservierter
Fuenfziger von ausgesprochener Bonhomie, die Gartensalonschwelle -
mit ihm Baron Innstetten, schlank, bruenett und von militaerischer
Haltung.

Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervoeses Zittern;
aber nicht auf lange, denn im selben Augenblick fast, wo sich
Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr naeherte, wurden an
dem mittleren der weit offenstehenden und von wildem Wein halb
ueberwachsenen Fenster die rotblonden Koepfe der Zwillinge sichtbar,
und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein: "Effi, komm."

Dann duckte sie sich, und beide Schwestern sprangen von der Banklehne,
darauf sie gestanden, wieder in den Garten hinab, und man hoerte nur
noch ihr leises Kichern und Lachen.



Drittes Kapitel

Noch an demselben Tage hatte sich Baron Innstetten mit Effi Briest
verlobt. Der joviale Brautvater, der sich nicht leicht in seiner
Feierlichkeitsrolle zurechtfand, hatte bei dem Verlobungsmahl, das
folgte, das junge Paar leben lassen, was auf Frau von Briest, die
dabei der nun um kaum achtzehn Jahre zurueckliegenden Zeit gedenken
mochte, nicht ohne herzbeweglichen Eindruck geblieben war. Aber nicht
auf lange; sie hatte es nicht sein koennen, nun war es statt ihrer die
Tochter - alles in allem ebensogut oder vielleicht noch besser. Denn
mit Briest liess sich leben, trotzdem er ein wenig prosaisch war und
dann und wann einen kleinen frivolen Zug hatte. Gegen Ende der Tafel,
das Eis wurde schon herumgereicht, nahm der alte Ritterschaftsrat
noch einmal das Wort, um in einer zweiten Ansprache das allgemeine
Familien-Du zu proponieren. Er umarmte dabei Innstetten und gab ihm
einen Kuss auf die linke Backe. Hiermit war aber die Sache fuer ihn
noch nicht abgeschlossen, vielmehr fuhr er fort, ausser dem "Du"
zugleich intimere Namen und Titel fuer den Hausverkehr zu empfehlen,
eine Art Gemuetlichkeitsrangliste aufzustellen, natuerlich unter
Wahrung berechtigter, weil wohlerworbener Eigentuemlichkeiten. Fuer
seine Frau, so hiess es, wuerde der Fortbestand von "Mama" (denn es
gaebe auch junge Mamas) wohl das beste sein, waehrend er fuer seine
Person, unter Verzicht auf den Ehrentitel "Papa", das einfache Briest
entschieden bevorzugen muesse, schon weil es so huebsch kurz sei. Und
was nun die Kinder angehe - bei welchem Wort er sich, Aug in Auge
mit dem nur etwa um ein Dutzend Jahre juengeren Innstetten, einen
Ruck geben musste -, nun, so sei Effi eben Effi und Geert Geert.
Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank
aufgeschossenen Stamm, und Effi sei dann also der Efeu, der sich
darumzuranken habe. Das Brautpaar sah sich bei diesen Worten etwas
verlegen an. Effi zugleich mit einem Ausdruck kindlicher Heiterkeit,
Frau von Briest aber sagte: "Briest, sprich, was du willst, und
formuliere deine Toaste nach Gefallen, nur poetische Bilder, wenn
ich bitten darf, lass beiseite, das liegt jenseits deiner Sphaere."
Zurechtweisende Worte, die bei Briest mehr Zustimmung als Ablehnung
gefunden hatten. "Es ist moeglich, dass du recht hast, Luise."

Gleich nach Aufhebung der Tafel beurlaubte sich Effi, um einen Besuch
drueben bei Pastors zu machen. Unterwegs sagte sie sich: "Ich glaube,
Hulda wird sich aergern. Nun bin ich ihr doch zuvorgekommen - sie war
immer zu eitel und eingebildet." Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung
nicht ganz; Hulda, durchaus Haltung bewahrend, benahm sich sehr gut
und ueberliess die Bezeugung von Unmut und Aerger ihrer Mutter, der
Frau Pastorin, die denn auch sehr sonderbare Bemerkungen machte. "Ja,
ja, so geht es. Natuerlich. Wenn's die Mutter nicht sein konnte,
muss es die Tochter Sein. Das kennt man. Alte Familien halten immer
zusammen, und wo was is, da kommt was dazu." Der alte Niemeyer kam in
arge Verlegenheit ueber diese fortgesetzten Spitzen Redensarten ohne
Bildung und Anstand und beklagte mal wieder, eine Wirtschafterin
geheiratet zu haben.

Von Pastors ging Effi natuerlich auch zu Kantor Jahnkes; die Zwillinge
hatten schon nach ihr ausgeschaut und empfingen sie im Vorgarten.

"Nun, Effi", sagte Hertha, waehrend alle drei zwischen den rechts und
links bluehenden Studentenblumen auf und ab schritten, "nun, Effi, wie
ist dir eigentlich?"

"Wie mir ist? Oh, ganz gut. Wir nennen uns auch schon du und bei
Vornamen. Er heisst naemlich Geert, was ich euch, wie mir einfaellt,
auch schon gesagt habe."

"Ja, das hast du. Mir ist aber doch so bange dabei. Ist es denn auch
der Richtige?"

"Gewiss ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist
der Richtige. Natuerlich muss er von Adel sein und eine Stellung haben
und gut aussehen."

"Gott, Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders."

"Ja, sonst."

"Und bist du auch schon ganz gluecklich?"

"Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz gluecklich.
Wenigstens denk ich es mir so."

"Und ist es dir denn gar nicht, ja, wie sag ich nur, ein bisschen
genant?"

"Ja, ein bisschen genant ist es mir, aber doch nicht sehr. Und ich
denke, ich werde darueber wegkommen."

Nach diesem im Pfarr- und Kantorhause gemachten Besuche, der
keine halbe Stunde gedauert hatte, war Effi wieder nach drueben
zurueckgekehrt, wo man auf der Gartenveranda eben den Kaffee nehmen
wollte. Schwiegervater und Schwiegersohn gingen auf dem Kieswege
zwischen den zwei Platanen auf und ab. Briest sprach von
dem Schwierigen einer landraetlichen Stellung; sie sei ihm
verschiedentlich angetragen worden, aber er habe jedesmal gedankt.
"So nach meinem eigenen Willen schalten und walten zu koennen ist mir
immer das liebste gewesen, jedenfalls lieber - Pardon, Innstetten -,
als so die Blicke bestaendig nach oben richten zu muessen. Man hat
dann bloss immer Sinn und Merk fuer hohe und hoechste Vorgesetzte. Das
ist nichts fuer mich. Hier leb ich so freiweg und freue mich ueber
jedes gruene Blatt und ueber den wilden Wein, der da drueben in die
Fenster waechst."

Er sprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, und
entschuldigte sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, verschiedentlich
wiederkehrenden "Pardon, Innstetten". Dieser nickte mechanisch
zustimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache, sah vielmehr wie
gebannt immer aufs neue nach dem drueben am Fenster rankenden wilden
Wein hinueber, von dem Briest eben gesprochen, und waehrend er
dem nachhing, war es ihm, als saeh' er wieder die rotblonden
Maedchenkoepfe zwischen den Weinranken und hoere dabei den
uebermuetigen Zuruf: "Effi, komm."

Er glaubte nicht an Zeichen und aehnliches, im Gegenteil, wies alles
Aberglaeubische weit zurueck. Aber er konnte trotzdem von den zwei
Worten nicht los, und waehrend Briest immer weiterperorierte, war es
ihm bestaendig, als waere der kleine Hergang doch mehr als ein blosser
Zufall gewesen.

Innstetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war schon am
folgenden Tag wieder abgereist, nachdem er versprochen, jeden Tag
schreiben zu wollen. "Ja, das musst du", hatte Effi gesagt, ein Wort,
das ihr von Herzen kam, da sie seit Jahren nichts Schoeneres kannte
als beispielsweise den Empfang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder musste
ihr zu diesem Tag schreiben. In den Brief eingestreute Wendungen,
etwa wie "Gertrud und Klara senden Dir mit mir ihre herzlichsten
Glueckwuensche", waren verpoent; Gertrud und Klara, wenn sie
Freundinnen sein wollten, hatten dafuer zu Sorgen, dass ein Brief
mit selbstaendiger Marke dalaege, womoeglich - denn ihr Geburtstag
fiel noch in die Reisezeit mit einer fremden, aus der Schweiz oder
Karlsbad.

Innstetten, wie versprochen, schrieb wirklich jeden Tag; was aber den
Empfang seiner Briefe ganz besonders angenehm machte, war der Umstand,
dass er allwoechentlich nur einmal einen ganz kleinen Antwortbrief
erwartete. Den erhielt er dann auch, voll reizend nichtigen und
ihn jedesmal entzueckenden Inhalts. Was es von ernsteren Dingen
zu besprechen gab, das verhandelte Frau von Briest mit ihrem
Schwiegersohn: Festsetzungen wegen der Hochzeit, Ausstattungs- und
Wirtschaftseinrichtungsfragen. Innstetten, schon an die drei Jahre
im Amt, war in seinem Kessiner Hause nicht glaenzend, aber doch sehr
standesgemaess eingerichtet, und es empfahl sich, in der Korrespondenz
mit ihm ein Bild von allem, was da war, zu gewinnen, um nichts
Unnuetzes anzuschaffen. Schliesslich, als Frau von Briest ueber all
diese Dinge genugsam unterrichtet war, wurde seitens Mutter und
Tochter eine Reise nach Berlin beschlossen, um, wie Briest sich
ausdrueckte, den "Trousseau" fuer Prinzessin Effi zusammenzukaufen.
Effi freute sich sehr auf den Aufenthalt in Berlin, um so mehr, als
der Vater darein gewilligt hatte, im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen.
Was es koste, koenne ja von der Ausstattung abgezogen werden;
Innstetten habe ohnehin alles. Effi ganz im Gegensatz zu der solche
"Mesquinerien" ein fuer allemal sich verbittenden Mama - hatte dem
Vater, ohne jede Sorge darum, ob er's scherz- oder ernsthaft gemeint
hatte, freudig zugestimmt und beschaeftigte sich in ihren Gedanken
viel, viel mehr mit dem Eindruck, den sie beide, Mutter und Tochter,
bei ihrem Erscheinen an der Table d'hote machen wuerden, als mit Spinn
und Mencke, Goschenhofer und aehnlichen Firmen, die vorlaeufig notiert
worden waren. Und diesen ihren heiteren Phantasien entsprach denn
auch ihre Haltung, als die grosse Berliner Woche nun wirklich da war.
Vetter Briest vom Alexanderregiment, ein ungemein ausgelassener junger
Leutnant, der die "Fliegenden Blaetter" hielt und ueber die besten
Witze Buch fuehrte, stellte sich den Damen fuer jede dienstfreie
Stunde zur Verfuegung, und so sassen sie denn mit ihm bei Kranzler am
Eckfenster oder zu statthafter Zeit auch wohl im Cafe Bauer und fuhren
nachmittags in den Zoologischen Garten, um da die Giraffen zu sehen,
von denen Vetter Briest, der uebrigens Dagobert hiess, mit Vorliebe
behauptete, sie saehen aus wie adlige alte Jungfern. Jeder Tag verlief
programmaessig, und am dritten oder vierten Tag gingen sie, wie
vorgeschrieben, in die Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner
Cousine die "Insel der Seligen" zeigen wollte. Fraeulein Cousine stehe
zwar auf dem Punkte, sich zu verheiraten, es sei aber doch vielleicht
gut, die "Insel der Seligen" schon vorher kennengelernt zu haben. Die
Tante gab ihm einen Schlag mit dem Faecher, begleitete diesen Schlag
aber mit einem so gnaedigen Blick, dass er keine Veranlassung hatte,
den Ton zu aendern. Es waren himmlische Tage fuer alle drei, nicht zum
wenigsten fuer den Vetter, der so wundervoll zu chaperonnieren und
kleine Differenzen immer rasch auszugleichen verstand. An solchen
Meinungsverschiedenheiten zwischen Mutter und Tochter war nun,
wie das so geht, all die Zeit ueber kein Mangel, aber sie traten
gluecklicherweise nie bei den zu machenden Einkaeufen hervor. Ob man
von einer Sache sechs oder drei Dutzend erstand, Effi war mit allem
gleichmaessig einverstanden, und wenn dann auf dem Heimweg von
dem Preis der eben eingekauften Gegenstaende gesprochen wurde, so
verwechselte sie regelmaessig die Zahlen. Frau von Briest, sonst so
kritisch, auch ihrem eigenen geliebten Kinde gegenueber, nahm dies
anscheinend mangelnde Interesse nicht nur von der leichten Seite,
sondern erkannte sogar einen Vorzug darin. Alle diese Dinge, so sagte
sie sich, bedeuten Effi nicht viel. Effi ist anspruchslos; sie lebt in
ihren Vorstellungen und Traeumen, und wenn die Prinzessin Friedrich
Karl vorueberfaehrt und sie von ihrem Wagen aus freundlich gruesst, so
gilt ihr das mehr als eine ganze Truhe voll Weisszeug.

Das alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem Besitze mehr
oder weniger alltaeglicher Dinge lag Effi nicht viel, aber wenn sie
mit der Mama die Linden hinauf- und hinunterging und nach Musterung
der schoensten Schaufenster in den Demuthschen Laden eintrat, um fuer
die gleich nach der Hochzeit geplante italienische Reise allerlei
Einkaeufe zu machen, so zeigte sich ihr wahrer Charakter. Nur das
Eleganteste gefiel ihr, und wenn sie das Beste nicht haben konnte, so
verzichtete sie auf das Zweitbeste, weil ihr dies Zweite nun nichts
mehr bedeutete. Ja, sie konnte verzichten, darin hatte die Mama recht,
und in diesem Verzichtenkoennen lag etwas von Anspruchslosigkeit; wenn
es aber ausnahmsweise mal wirklich etwas zu besitzen galt, so musste
dies immer was ganz Apartes sein. Und darin war sie anspruchsvoll.



Viertes Kapitel

Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rueckreise nach
Hohen-Cremmen antraten. Es waren glueckliche Tage gewesen, vor
allem auch darin, dass man nicht unter unbequemer und beinahe
unstandesgemaesser Verwandtschaft gelitten hatte. "Fuer Tante
Therese", so hatte Effi gleich nach der Ankunft gesagt, "muessen wir
diesmal inkognito bleiben. Es geht nicht, dass sie hier ins Hotel
kommt. Entweder Hotel du Nord oder Tante Therese; beides zusammen
passt nicht." Die Mama hatte sich schliesslich einverstanden damit
erklaert, ja, dem Liebling zur Besiegelung des Einverstaendnisses
einen Kuss auf die Stirn gegeben.

Mit Vetter Dagobert war das natuerlich etwas ganz anderes gewesen, der
hatte nicht bloss den Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hilfe
jener eigentuemlich guten Laune, wie sie bei den Alexanderoffizieren
beinahe traditionell geworden, sowohl Mutter wie Tochter von Anfang an
anzuregen und aufzuheitern gewusst, und diese gute Stimmung dauerte
bis zuletzt. "Dagobert", so hiess es noch beim Abschied, "du kommst
also zu meinem Polterabend, und natuerlich mit Cortege. Denn
nach den Auffuehrungen (aber kommt mir nicht mit Dienstmann oder
Mausefallenhaendler) ist Ball. Und du musst bedenken, mein erster
grosser Ball ist vielleicht auch mein letzter. Unter sechs Kameraden
- natuerlich beste Taenzer - wird gar nicht angenommen. Und mit dem
Fruehzug koennt ihr wieder zurueck." Der Vetter versprach alles, und
so trennte man sich.

Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havellaendischen Bahnstation
ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde nach
Hohen-Cremmen hinueber. Briest war sehr froh, Frau und Tochter wieder
zu Hause zu haben, und stellte Fragen ueber Fragen, deren Beantwortung
er meist nicht abwartete. Statt dessen erging er sich in Mitteilung
dessen, was er inzwischen erlebt. "Ihr habt mir da vorhin von der
Nationalgalerie gesprochen und von der 'Insel der Seligen' - nun,
wir haben hier, waehrend ihr fort wart, auch so was gehabt: unser
Inspektor Pink und die Gaertnersfrau. Natuerlich habe ich Pink
entlassen muessen, uebrigens ungern. Es ist sehr fatal, dass solche
Geschichten fast immer in die Erntezeit fallen. Und Pink war sonst ein
ungewoehnlich tuechtiger Mann, hier leider am unrechten Fleck. Aber
lassen wir das; Wilke wird schon unruhig."

Bei Tische hoerte Briest besser zu; das gute Einvernehmen mit dem
Vetter, von dem ihm viel erzaehlt wurde, hatte seinen Beifall, weniger
das Verhalten gegen Tante Therese. Man sah aber deutlich, dass er
inmitten seiner Missbilligung sich eigentlich darueber freute; denn
ein kleiner Schabernack entsprach ganz seinem Geschmack, und Tante
Therese war wirklich eine laecherliche Figur. Er hob sein Glas und
stiess mit Frau und Tochter an. Auch als nach Tisch einzelne der
huebschesten Einkaeufe von ihm ausgepackt und seiner Beurteilung
unterbreitet wurden, verriet er viel Interesse, das selbst noch
anhielt oder wenigstens nicht ganz hinstarb, als er die Rechnung
ueberflog. "Etwas teuer, oder sagen wir lieber sehr teuer; indessen
es tut nichts. Es hat alles so viel Schick, ich moechte sagen so viel
Animierendes, dass ich deutlich fuehle, wenn du mir solchen Koffer und
solche Reisedecke zu Weihnachten schenkst, so sind wir zu Ostern auch
in Rom und machen nach achtzehn Jahren unsere Hochzeitsreise. Was
meinst du, Luise? Wollen wir nachexerzieren? Spaet kommt ihr, doch ihr
kommt."

Frau von Briest machte eine Handbewegung, wie wenn sie sagen wollte:
"Unverbesserlich", und ueberliess ihn im uebrigen seiner eigenen
Beschaemung, die aber nicht gross war.

Ende August war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) rueckte naeher,
und sowohl im Herrenhause wie in der Pfarre und Schule war man
unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke, getreu
seiner Fritz-Reuter-Passion, hatte sich's als etwas besonders
"Sinniges" ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining und Mining
auftreten zu lassen, natuerlich plattdeutsch, waehrend Hulda das
Kaethchen von Heilbronn in der Holunderbaumszene darstellen sollte,
Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer,
der sich den Vater der Idee nennen durfte, hatte keinen Augenblick
gesaeumt, auch die versaeumte Nutzanwendung auf Innstetten und Effi
hinzuzudichten. Er selbst war mit seiner Arbeit zufrieden und hoerte,
gleich nach der Leseprobe, von allen Beteiligten viel Freundliches
darueber, freilich mit Ausnahme seines Patronatsherrn und alten
Freundes Briest, der, als er die Mischung von Kleist und Niemeyer
mit angehoert hatte, lebhaft protestierte, wenn auch keineswegs aus
literarischen Gruenden. "Hoher Herr und immer wieder Hoher Herr - was
soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles. Innstetten,
unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von Charakter
und Schneid, aber die Briests - verzeih den Berolinismus, Luise-, die
Briests sind schliesslich auch nicht von schlechten Eltern. Wir sind
doch nun mal eine historische Familie, lass mich hinzufuegen Gott sei
Dank, und die Innstettens sind es nicht; die Innstettens sind bloss
alt, meinetwegen Uradel, aber was heisst Uradel? Ich will nicht, dass
eine Briest oder doch mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder
das Widerspiel unserer Effi erkennen muss - ich will nicht, dass eine
Briest mittelbar oder unmittelbar in einem fort von 'Hoher Herr'
spricht. Da muesste denn doch Innstetten wenigstens ein verkappter
Hohenzoller sein, es gibt ja dergleichen. Das ist er aber nicht, und
so kann ich nur wiederholen, es verschiebt die Situation."

Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zaehigkeit eine ganze
Zeitlang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo
das "Kaethchen", schon halb im Kostuem, ein sehr eng anliegendes
Sammetmieder trug, liess er sich - der es auch sonst nicht an
Huldigungen gegen Hulda fehlen liess - zu der Bemerkung hinreissen,
das Kaethchen liege sehr gut da, welche Wendung einer Waffenstreckung
ziemlich gleichkam oder doch zu solcher hinueberleitete. Dass alle
diese Dinge vor Effi geheimgehalten wurden, braucht nicht erst gesagt
zu werden. Bei mehr Neugier auf seiten dieser letzteren waere das nun
freilich ganz unmoeglich gewesen, aber Effi hatte so wenig Verlangen,
in die Vorbereitungen und geplanten Ueberraschungen einzudringen, dass
sie der Mama mit allem Nachdruck erklaerte, sie koenne es abwarten,
und Wenn diese dann zweifelte, so schloss Effi mit der wiederholten
Versicherung: Es waere wirklich so, die Mama koenne es glauben. Und
warum auch nicht? Es sei ja doch alles nur Theaterauffuehrung und
huebscher und poetischer als "Aschenbroedel", das sie noch am letzten
Abend in Berlin gesehen haette, huebscher und poetischer koenne es ja
doch nicht Sein. Da haette sie wirklich selber mitspielen moegen, wenn
auch nur, um dem laecherlichen Pensionslehrer einen Kreidestrich auf
den Ruecken zu machen. "Und wie reizend im letzten Akt 'Aschenbroedels
Erwachen als Prinzessin' oder wenigstens als Graefin; wirklich, es
war ganz wie ein Maerchen." In dieser Weise sprach sie oft, war meist
ausgelassener als vordem und aergerte sich bloss ueber das bestaendige
Tuscheln und Geheimtun der Freundinnen. "Ich wollte, sie haetten sich
weniger wichtig und waeren mehr fuer mich da. Nachher bleiben sie doch
bloss stecken, und ich muss mich um sie aengstigen und mich schaemen,
dass es meine Freundinnen sind." So gingen Effis Spottreden, und es
war ganz unverkennbar, dass sie sich um Polterabend und Hochzeit nicht
allzusehr kuemmerte. Frau von Briest hatte so ihre Gedanken darueber,
aber zu Sorgen kam es nicht, weil sich Effi, was doch ein gutes
Zeichen war, ziemlich viel mit ihrer Zukunft beschaeftigte und sich,
phantasiereich wie sie war, viertelstundenlang in Schilderungen ihres
Kessiner Lebens erging, Schilderungen, in denen sich nebenher und
sehr zur Erheiterung der Mama eine merkwuerdige Vorstellung von
Hinterpommern aussprach oder vielleicht auch, mit kluger Berechnung,
aussprechen sollte. Sie gefiel sich naemlich darin, Kessin als
einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie recht
aufhoerten.

"Heute hat Goschenhofer das letzte geschickt", sagte Frau von Briest,
als sie wie gewoehnlich in Front des Seitenfluegels mit Effi am
Arbeitstisch sass, auf dem die Leinen- und Waeschevorraete bestaendig
wuchsen, waehrend der Zeitungen, die bloss Platz wegnahmen, immer
weniger wurden. "Ich hoffe, du hast nun alles, Effi. Wenn du aber noch
kleine Wuensche hegst, so musst du sie jetzt aussprechen, womoeglich
in dieser Stunde noch. Papa hat den Raps vorteilhaft verkauft und ist
ungewoehnlich guter Laune."

"Ungewoehnlich? Er ist immer in guter Laune."

"In ungewoehnlich guter Laune", wiederholte die Mama. "Und sie muss
genutzt werden. Sprich also. Mehrmals, als wir noch in Berlin waren,
war es mir, als ob du doch nach dem einen oder anderen noch ein ganz
besonderes Verlangen gehabt haettest."

"Ja, liebe Mama, was soll ich da sagen. Eigentlich habe ich ja alles,
was man braucht, ich meine, was man hier braucht. Aber da mir's nun
mal bestimmt ist, so hoch noerdlich zu kommen ... ich bemerke, dass
ich nichts dagegen habe, im Gegenteil, ich freue mich darauf, auf die
Nordlichter und auf den helleren Glanz der Sterne ... da mir's nun mal
so bestimmt ist, so haette ich wohl gern einen Pelz gehabt."

"Aber Effi, Kind, das ist doch alles bloss leere Torheit. Du kommst ja
nicht nach Petersburg oder nach Archangel."

"Nein; aber ich bin doch auf dem Wege dahin..."

"Gewiss, Kind. Auf dem Wege dahin bist du; aber was heisst das?
Wenn du von hier nach Nauen faehrst, bist du auch auf dem Wege nach
Russland. Im uebrigen, wenn du's wuenschst, so sollst du einen Pelz
haben. Nur das lass mich im voraus sagen, ich rate dir davon ab. Ein
Pelz ist fuer aeltere Personen, selbst deine alte Mama ist noch zu
jung dafuer, und wenn du mit deinen siebzehn Jahren in Nerz oder
Marder auftrittst, so glauben die Kessiner, es sei eine Maskerade."

Das war am 2. September, dass sie so sprachen, ein Gespraech, das sich
wohl fortgesetzt haette, wenn nicht gerade Sedantag gewesen waere.
So aber wurden sie durch Trommel- und Pfeifenklang unterbrochen,
und Effi, die schon vorher von dem beabsichtigten Aufzuge gehoert,
aber es wieder vergessen hatte, stuerzte mit einem Male von dem
gemeinschaftlichen Arbeitstisch fort und an Rondell und Teich vorueber
auf einen kleinen, an die Kirchhofsmauer angebauten Balkon zu, zu dem
sechs Stufen, nicht viel breiter als Leitersprossen, hinauffuehrten.
Im Nu war sie oben, und richtig, da kam auch schon die ganze
Schuljugend heran, Jahnke gravitaetisch am rechten Fluegel, waehrend
ein kleiner Tambourmajor, weit voran, an der Spitze des Zuges
marschierte, mit einem Gesichtsausdruck, als ob ihm oblaege, die
Schlacht bei Sedan noch einmal zu schlagen. Effi winkte mit dem
Taschentuch, und der Begruesste versaeumte nicht, mit seinem blanken
Kugelstock zu salutieren.

Eine Woche spaeter sassen Mutter und Tochter wieder am alten Fleck,
auch wieder mit ihrer Arbeit beschaeftigt. Es war ein wunderschoener
Tag; der in einem zierlichen Beet um die Sonnenuhr herum stehende
Heliotrop bluehte noch, und die leise Brise, die ging, trug den Duft
davon zu ihnen herueber.

"Ach, wie wohl ich mich fuehle", sagte Effi, "so wohl und so
gluecklich; ich kann mir den Himmel nicht schoener denken. Und am
Ende, wer weiss, ob sie im Himmel so wundervollen Heliotrop haben."

"Aber Effi, so darfst du nicht sprechen; das hast du von deinem Vater,
dem nichts heilig ist und der neulich sogar sagte, Niemeyer saehe aus
wie Lot. Unerhoert. Und was soll es nur heissen? Erstlich weiss er
nicht, wie Lot ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose
Ruecksichtslosigkeit gegen Hulda. Ein Glueck, dass Niemeyer nur die
einzige Tochter hat, dadurch faellt es eigentlich in sich zusammen. In
einem freilich hat er nur zu recht gehabt, in all und jedem, was er
ueber 'Lots Frau', unsere gute Frau Pastorin, sagte, die uns denn auch
wirklich wieder mit ihrer Torheit und Anmassung den ganzen Sedantag
ruinierte. Wobei mir uebrigens einfaellt, dass wir, als Jahnke mit
der Schule vorbeikam, in unserem Gespraech unterbrochen wurden -
wenigstens kann ich mir nicht denken, dass der Pelz, von dem du damals
sprachst, dein einziger Wunsch gewesen sein sollte. Lass mich also
wissen, Schatz, was du noch weiter auf dem Herzen hast." "Nichts,
Mama."

"Wirklich nichts?"

"Nein, wirklich nichts; ganz im Ernst ... Wenn es aber doch am Ende
was sein sollte ..."

"Nun ..."

"... so muesste es ein japanischer Bettschirm sein, schwarz und
goldene Voegel darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel ... Und
dann vielleicht noch eine Ampel fuer unser Schlafzimmer, mit rotem
Schein."

Frau von Briest schwieg.

"Nun siehst du, Mama, du schweigst und siehst aus, als ob ich etwas
besonders Unpassendes gesagt haette."

"Nein, Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun schon
gewiss nicht. Denn ich kenne dich ja. Du bist eine phantastische
kleine Person, malst dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus, und je
farbenreicher sie sind, desto schoener und begehrlicher erscheinen sie
dir. Ich sah das so recht, als wir die Reisesachen kauften. Und nun
denkst du dir's ganz wundervoll, einen Bettschirm mit allerhand
fabelhaftem Getier zu haben, alles im Halblicht einer roten Ampel.
Es kommt dir vor wie ein Maerchen, und du moechtest eine Prinzessin
sein."

Effi nahm die Hand der Mama und kuesste sie. "Ja, Mama, so bin ich."

"Ja, so bist du. Ich weiss es wohl. Aber meine liebe Effi, wir muessen
vorsichtig im Leben sein, und zumal wir Frauen. Und wenn du nun nach
Kessin kommst, einem kleinen Ort, wo nachts kaum eine Laterne brennt,
so lacht man ueber dergleichen. Und wenn man bloss lachte. Die, die
dir ungewogen sind, und solche gibt es immer, sprechen von schlechter
Erziehung, und manche sagen auch wohl noch Schlimmeres."

"Also nichts Japanisches und auch keine Ampel. Aber ich bekenne dir,
ich hatte es mir so schoen und poetisch gedacht, alles in einem roten
Schimmer zu sehen."

Frau von Briest war bewegt. Sie stand auf und kuesste Effi. "Du
bist ein Kind. Schoen und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die
Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, dass es statt Licht und
Schimmer ein Dunkel gibt."

Effi schien antworten zu wollen, aber in diesem Augenblick kam Wilke
und brachte Briefe. Der eine war aus Kessin von Innstetten. "Ach, von
Geert", sagte Effi, und waehrend sie den Brief beiseite steckte, fuhr
sie in ruhigem Ton fort:

"Aber das wirst du doch gestatten, dass ich den Fluegel schraeg in die
Stube stelle. Daran liegt mir mehr als an einem Kamin, den mir Geert
versprochen hat. Und das Bild von dir, das stell ich dann auf eine
Staffelei; ganz ohne dich kann ich nicht sein. Ach, wie werd ich mich
nach euch sehnen, vielleicht auf der Reise schon und dann in Kessin
ganz gewiss. Es soll ja keine Garnison haben, nicht einmal einen
Stabsarzt, und ein Glueck, dass es wenigstens ein Badeort ist.
Vetter Briest, und daran will ich mich aufrichten, dessen Mutter und
Schwester immer nach Warnemuende gehen - nun, ich sehe doch wirklich
nicht ein, warum der die lieben Verwandten nicht auch einmal nach
Kessin hin dirigieren sollte. Dirigieren, das klingt ohnehin so
nach Generalstab, worauf er, glaub ich, ambiert. Und dann kommt er
natuerlich mit und wohnt bei uns. Uebrigens haben die Kessiner, wie
mir neulich erst wer erzaehlt hat, ein ziemlich grosses Dampfschiff,
das zweimal die Woche nach Schweden hinueberfaehrt. Und auf dem Schiff
ist dann Ball (sie haben da natuerlich auch Musik), und er tanzt sehr
gut ..."

"Wer?"

"Nun, Dagobert."

"Ich dachte, du meintest Innstetten. Aber jedenfalls ist es an der
Zeit, endlich zu wissen, was er schreibt ... Du hast ja den Brief noch
in der Tasche."

"Richtig. Den haett ich fast vergessen." Und sie oeffnete den Brief
und ueberflog ihn.

"Nun, Effi, kein Wort? Du strahlst nicht und lachst nicht einmal,
und er schreibt doch immer so heiter und unterhaltlich und gar nicht
vaeterlich weise."

"Das wuerde ich mir auch verbitten. Er hat sein Alter, und ich habe
meine Jugend. Und ich wuerde ihm mit den Fingern drohen und ihm
sagen: 'Geert, ueberlege, was besser ist.'" "Und dann wuerde er dir
antworten: 'Was du hast, Effi, das ist das Bessere.' Denn er ist nicht
nur ein Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht und verstaendig
und weiss recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das immer und
stimmt sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so bleibt,
so werdet ihr eine Musterehe fuehren."

"Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich
schaeme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr fuer das, was
man eine Musterehe nennt."

"Das sieht dir aehnlich. Und nun sage mir, wofuer bist du denn
eigentlich?"

"Ich bin... nun, ich bin fuer gleich und gleich und natuerlich auch
fuer Zaertlichkeit und Liebe. Und wenn es Zaertlichkeit und Liebe
nicht sein koennen, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein
Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich
fuer Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz
Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf Elchwild oder Auerhahn, oder wo der
alte Kaiser vorfaehrt und fuer jede Dame, auch fuer die jungen, ein
gnaediges Wort hat. Und wenn wir dann in Berlin sind, dann bin ich
fuer Hofball und Galaoper, immer dicht neben der grossen Mittelloge."

"Sagst du das so bloss aus Uebermut und Laune?"

"Nein, Mama, das ist mein voelliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber
gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung -
ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, dass ich lachen oder
weinen muss. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile."

"Wie bist du da nur mit uns fertig geworden?"

"Ach, Mama, wie du nur so was sagen kannst. Freilich, wenn im Winter
die liebe Verwandtschaft vorgefahren kommt und sechs Stunden bleibt
oder wohl auch noch laenger, und Tante Gundel und Tante Olga mich
mustern und mich naseweis finden - und Tante Gundel hat es mir auch
mal gesagt -, ja, da macht sich's mitunter nicht sehr huebsch, das
muss ich zugeben. Aber sonst bin ich hier immer gluecklich gewesen, so
gluecklich."

Und waehrend sie das sagte, warf sie sich heftig weinend vor der Mama
auf die Knie und kuesste ihre beiden Haende.

"Steh auf, Effi. Das sind so Stimmungen, die ueber einen kommen,
wenn man so jung ist wie du und vor der Hochzeit steht und vor dem
Ungewissen. Aber nun lies mir den Brief vor, wenn er nicht was ganz
Besonderes enthaelt oder vielleicht Geheimnisse."

"Geheimnisse", lachte Effi und sprang in ploetzlich veraenderter
Stimmung wieder auf. "Geheimnisse! Ja, er nimmt immer einen Anlauf,
aber das meiste koennte ich auf dem Schulzenamt anschlagen lassen, da,
wo immer die landraetlichen Verordnungen stehen. Nun, Geert ist ja
auch Landrat."

"Lies, lies."

"Liebe Effi! ... So faengt es naemlich immer an, und manchmal nennt er
mich auch seine 'kleine Eva'."

"Lies, lies ... Du sollst ja lesen."

"Also: Liebe Effi! Je naeher wir unsrem Hochzeitstage kommen, je
sparsamer werden Deine Briefe. Wenn die Post kommt, suche ich immer
zuerst nach Deiner Handschrift, aber wie Du weisst (und ich hab es ja
auch nicht anders gewollt), in der Regel vergeblich. Im Hause sind
jetzt die Handwerker, die die Zimmer, freilich nur wenige, fuer Dein
Kommen herrichten sollen. Das Beste wird wohl erst geschehen, wenn wir
auf der Reise sind. Tapezierer Madelung, der alles liefert, ist ein
Original, von dem ich Dir mit naechstem erzaehle, vor allem aber, wie
gluecklich ich bin ueber Dich, ueber meine suesse kleine Effi. Mir
brennt hier der Boden unter den Fuessen, und dabei wird es in unserer
guten Stadt immer stiller und einsamer. Der letzte Badegast ist
gestern abgereist; er badete zuletzt bei neun Grad, und die
Badewaerter waren immer froh, wenn er wieder heil heraus war. Denn sie
fuerchteten einen Schlaganfall, was dann das Bad in Misskredit bringt,
als ob die Wellen hier schlimmer waeren als woanders. Ich juble, wenn
ich denke, dass ich in vier Wochen schon mit Dir von der Piazzetta aus
nach dem Lido fahre oder nach Murano hin, wo sie Glasperlen machen und
schoenen Schmuck. Und der schoenste sei fuer Dich. Viele Gruesse den
Eltern und den zaertlichsten Kuss Dir von Deinem Geert." Effi faltete
den Brief wieder zusammen, um ihn in das Kuvert zu stecken.

"Das ist ein sehr huebscher Brief", sagte Frau von Briest, "und dass
er in allem das richtige Mass haelt, das ist ein Vorzug mehr."

"Ja, das rechte Mass, das haelt er."

"Meine liebe Effi, lass mich eine Frage tun; wuenschtest du, dass
der Brief nicht das richtige Mass hielte, wuenschtest du, dass er
zaertlicher waere, vielleicht ueberschwenglich zaertlich?" "Nein,
nein, Mama. Wahr und wahrhaftig nicht, das wuensche ich nicht. Da ist
es doch besser so."

"Da ist es doch besser so. Wie das nun wieder klingt. Du bist so
sonderbar. Und dass du vorhin weintest. Hast du was auf deinem Herzen?
Noch ist es Zeit. Liebst du Geert nicht?" "Warum soll ich ihn nicht
lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Bertha, und ich liebe Hertha.
Und ich liebe auch den alten Niemeyer. Und dass ich euch liebe, davon
spreche ich gar nicht erst. Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen
und guetig gegen mich sind und mich verwoehnen. Und Geert wird mich
auch wohl verwoehnen. Natuerlich auf seine Art. Er will mir ja schon
Schmuck schenken in Venedig. Er hat keine Ahnung davon, dass ich mir
nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber, und ich schaukle mich
lieber, und am liebsten immer in der Furcht, dass es irgendwo reissen
oder brechen und ich niederstuerzen koennte. Den Kopf wird es ja nicht
gleich kosten."

"Und liebst du vielleicht auch deinen Vetter Briest?" "Ja, sehr. Der
erheitert mich immer."

"Und haettest du Vetter Briest heiraten moegen?"

"Heiraten? Um Gottes willen nicht. Er ist ja noch ein halber Junge.
Geert ist ein Mann, ein schoener Mann, ein Mann, mit dem ich Staat
machen kann und aus dem was wird in der Welt. Wo denkst du hin, Mama."

"Nun, das ist recht, Effi, das freut mich. Aber du hast noch was auf
der Seele."

"Vielleicht."

"Nun, sprich."

"Sieh, Mama, dass er aelter ist als ich, das schadet nichts, das ist
vielleicht recht gut: Er ist ja doch nicht alt und ist gesund und
frisch und so soldatisch und so schneidig. Und ich koennte beinah
sagen, ich waere ganz und gar fuer ihn, wenn er nur ... ja, wenn er
nur ein bisschen anders waere."

"Wie denn, Effi?"

"Ja, wie. Nun, du darfst mich nicht auslachen. Es ist etwas, was ich
erst ganz vor kurzem aufgehorcht habe, drueben im Pastorhause. Wir
sprachen da von Innstetten, und mit einem Male zog der alte Niemeyer
seine Stirn in Falten, aber in Respekts- und Bewunderungsfalten, und
sagte: 'Ja, der Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von
Prinzipien.'"

"Das ist er auch, Effi."

"Gewiss. Und ich glaube, Niemeyer sagte nachher sogar, er sei auch ein
Mann von Grundsaetzen. Und das ist, glaub ich, noch etwas mehr. Ach,
und ich... ich habe keine. Sieh, Mama, da liegt etwas, was mich quaelt
und aengstigt. Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig,
aber ... ich fuerchte mich vor ihm."



Fuenftes Kapitel

Die Hohen-Cremmer Festtage lagen zurueck; alles war abgereist, auch
das junge Paar, noch am Abend des Hochzeitstages.

Der Polterabend hatte jeden zufriedengestellt, besonders die
Mitspielenden, und Hulda war dabei das Entzuecken aller jungen
Offiziere gewesen, sowohl der Rathenower Husaren wie der etwas
kritischer gestimmten Kameraden vom Alexanderregiment. Ja, alles war
gut und glatt verlaufen, fast ueber Erwarten. Nur Bertha und Hertha
hatten so heftig geschluchzt, dass Jahnkes plattdeutsche Verse so
gut wie verlorengegangen waren. Aber auch das hatte wenig geschadet.
Einige feine Kenner waren sogar der Meinung gewesen, das sei das
Wahre; Steckenbleiben und Schluchzen und Unverstaendlichkeit - in
diesem Zeichen (und nun gar, wenn es so huebsche rotblonde Krauskoepfe
waeren) werde immer am entschiedensten gesiegt. Eines ganz besonderen
Triumphes hatte sich Vetter Briest in seiner selbstgedichteten Rolle
ruehmen duerfen. Er war als Demuthscher Kommis erschienen, der in
Erfahrung gebracht, die junge Braut habe vor, gleich nach der Hochzeit
nach Italien zu reisen, weshalb er einen Reisekoffer abliefern wolle.
Dieser Koffer entpuppte sich natuerlich als eine Riesenbonbonniere von
Hoevel. Bis um drei Uhr war getanzt worden, bei welcher Gelegenheit
der sich mehr und mehr in eine hoechste Champagnerstimmung
hineinredende alte Briest allerlei Bemerkungen ueber den an manchen
Hoefen immer noch ueblichen Fackeltanz und die merkwuerdige Sitte
des Strumpfbandaustanzens gemacht hatte, Bemerkungen, die nicht
abschliessen wollten und, sich immer mehr steigernd, am Ende so weit
gingen, dass ihnen durchaus ein Riegel vorgeschoben werden musste.
"Nimm dich zusammen, Briest", war ihm in ziemlich ernstem Ton
von seiner Frau zugefluestert worden; "du stehst hier nicht, um
Zweideutigkeiten zu sagen, sondern um die Honneurs des Hauses zu
machen. Wir haben eben eine Hochzeit und nicht eine Jagdpartie."
Worauf Briest geantwortet, er saehe darin keinen so grossen
Unterschied; uebrigens sei er gluecklich. Auch der Hochzeitstag selbst
war gut verlaufen. Niemeyer hatte vorzueglich gesprochen, und einer
der alten Berliner Herren, der halb und halb zur Hofgesellschaft
gehoerte, hatte sich auf dem Rueckweg von der Kirche zum Hochzeitshaus
dahin geaeussert, es sei doch merkwuerdig, wie reich gesaet in einem
Staate wie der unsrige die Talente seien. "Ich sehe darin einen
Triumph unserer Schulen und vielleicht mehr noch unserer Philosophie.
Wenn ich bedenke, dass dieser Niemeyer, ein alter Dorfpastor, der
anfangs aussah wie ein Hospitalit ... ja, Freund, sagen Sie selbst,
hat er nicht gesprochen wie ein Hofprediger? Dieser Takt und diese
Kunst der Antithese, ganz wie Koegel, und an Gefuehl ihm noch ueber.
Koegel ist zu kalt. Freilich, ein Mann in seiner Stellung muss kalt
sein. Woran scheitert man denn im Leben ueberhaupt? Immer nur an der
Waerme." Der noch unverheiratete, aber wohl eben deshalb zum vierten
Male in einem "Verhaeltnis" stehende Wuerdentraeger, an den sich diese
Worte gerichtet hatten, stimmte selbstverstaendlich zu. "Nur zu wahr,
lieber Freund", sagte er. "Zuviel Waerme! ... ganz vorzueglich ...
Uebrigens muss ich Ihnen nachher eine Geschichte erzaehlen."

Der Tag nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag. Die Morgensonne
blinkte; trotzdem war es schon herbstlich frisch, und Briest, der eben
gemeinschaftlich mit seiner Frau das Fruehstueck genommen, erhob sich
von seinem Platz und stellte sich, beide Haende auf dem Ruecken, gegen
das mehr und mehr verglimmende Kaminfeuer. Frau von Briest, eine
Handarbeit in Haenden, rueckte gleichfalls naeher an den Kamin
und sagte zu Wilke, der gerade eintrat, um den Fruehstueckstisch
abzuraeumen: "Und nun, Wilke, wenn Sie drin im Saal, aber das geht
vor, alles in Ordnung haben, dann sorgen Sie, dass die Torten nach
drueben kommen, die Nusstorte zu Pastors und die Schuessel mit kleinen
Kuchen zu Jahnkes. Und nehmen Sie sich mit den Glaesern in acht. Ich
meine die duenngeschliffenen."

Briest war schon bei der dritten Zigarette, sah sehr wohl aus und
erklaerte, nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natuerlich
die eigene ausgenommen.

"Ich weiss nicht, Briest, wie du zu solcher Bemerkung kommst. Mir war
ganz neu, dass du darunter gelitten haben willst. Ich wuesste auch
nicht warum."

"Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts uebel,
auch nicht einmal so was. Im uebrigen, was wollen wir von uns
sprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreise gemacht haben.
Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise.
Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug ab. Sie muessen jetzt schon bei
Regensburg sein, und ich nehme an, dass er ihr - selbstverstaendlich
ohne auszusteigen - die Hauptkunstschaetze der Walhalla herzaehlt.
Innstetten ist ein vorzueglicher Kerl, aber er hat so was von einem
Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein Naturkind. Ich
fuerchte, dass er sie mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quaelen
wird."

"Jeder quaelt seine Frau. Und Kunstenthusiasmus ist noch lange nicht
das Schlimmste."

"Nein, gewiss nicht; jedenfalls wollen wir darueber nicht streiten; es
ist ein weites Feld. Und dann sind auch die Menschen so verschieden.
Du, nun ja, du haettest dazu getaugt. Ueberhaupt haettest du besser zu
Innstetten gepasst als Effi. Schade, nun ist es zu spaet."

"Ueberaus galant, abgesehen davon, dass es nicht passt. Unter
allen Umstaenden aber, was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist
er mein Schwiegersohn, und es kann zu nichts fuehren, immer auf
Jugendlichkeiten zurueckzuweisen."

"Ich habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen wollen."

"Sehr guetig. Uebrigens nicht noetig. Ich bin in animierter Stimmung."

"Und auch in guter?"

"Ich kann es fast sagen. Aber du darfst sie nicht verderben. Nun, was
hast du noch? Ich sehe, dass du was auf dem Herzen hast."

"Gefiel dir Effi? Gefiel dir die ganze Geschichte? Sie war so
sonderbar, halb wie ein Kind, und dann wieder sehr selbstbewusst und
durchaus nicht so bescheiden, wie sie's solchem Manne gegenueber sein
muesste. Das kann doch nur so zusammenhaengen, dass sie noch nicht
recht weiss, was sie an ihm hat. Oder ist es einfach, dass sie ihn
nicht recht liebt? Das waere schlimm. Denn bei all seinen Vorzuegen,
er ist nicht der Mann, sich diese Liebe mit leichter Manier zu
gewinnen."

Frau von Briest schwieg und zaehlte die Stiche auf dem Kanevas.

Endlich sagte sie: "Was du da sagst, Briest, ist das Gescheiteste, was
ich seit drei Tagen von dir gehoert habe, deine Rede bei Tisch mit
eingerechnet. Ich habe auch so meine Bedenken gehabt. Aber ich glaube,
wir koennen uns beruhigen."

"Hat sie dir ihr Herz ausgeschuettet?"

"So moecht ich es nicht nennen. Sie hat wohl das Beduerfnis zu
sprechen, aber sie hat nicht das Beduerfnis, sich so recht von Herzen
auszusprechen, und macht vieles in sich selber ab; sie ist mitteilsam
und verschlossen zugleich, beinah versteckt; ueberhaupt ein ganz
eigenes Gemisch."

"Ich bin ganz deiner Meinung. Aber wenn sie dir nichts gesagt hat,
woher weisst du's?"

"Ich sagte nur, sie habe mir nicht ihr Herz ausgeschuettet. Solche
Generalbeichte, so alles von der Seele herunter, das liegt nicht in
ihr. Es fuhr alles bloss ruckweise und ploetzlich aus ihr heraus, und
dann war es wieder vorueber. Aber gerade weil es so ungewollt und wie
von ungefaehr aus ihrer Seele kam, deshalb war es mir so wichtig."

"Und wann war es denn und bei welcher Gelegenheit?"

"Es werden jetzt gerade drei Wochen sein, und wir sassen im Garten,
mit allerhand Ausstattungsdingen, grossen und kleinen, beschaeftigt,
als Wilke einen Brief von Innstetten brachte. Sie steckte ihn zu sich,
und ich musste sie eine Viertelstunde spaeter erst erinnern, dass sie
ja einen Brief habe. Dann las sie ihn, aber verzog kaum eine Miene.
Ich bekenne dir, dass mir bang ums Herz dabei wurde, so bang, dass ich
gern eine Gewissheit haben wollte, so viel, wie man in diesen Dingen
haben kann."

"Sehr wahr, sehr wahr." "Was meinst du damit?"

"Nun, ich meine nur ... Aber das ist ja ganz gleich. Sprich nur
weiter; ich bin ganz Ohr."

"Ich fragte also rundheraus, wie's stuende, und weil ich bei ihrem
eigenen Charakter einen feierlichen Ton vermeiden und alles so leicht
wie moeglich, ja beinah scherzhaft nehmen wollte, so warf ich die
Frage hin, ob sie vielleicht den Vetter Briest, der ihr in Berlin sehr
stark den Hof gemacht hatte, ob sie den vielleicht lieber heiraten
wuerde ..."

"Und?"

"Da haettest du sie sehen sollen. Ihre naechste Antwort war ein
schnippisches Lachen. Der Vetter sei doch eigentlich nur ein grosser
Kadett in Leutnantsuniform. Und einen Kadetten koenne sie nicht einmal
lieben, geschweige heiraten. Und dann sprach sie von Innstetten, der
ihr mit einem Male der Traeger aller maennlichen Tugenden war."

"Und wie erklaerst du dir das?"

"Ganz einfach. So geweckt und temperamentvoll und beinahe
leidenschaftlich sie ist, oder vielleicht auch, weil sie es ist, sie
gehoert nicht zu denen, die so recht eigentlich auf Liebe gestellt
sind, wenigstens nicht auf das, was den Namen ehrlich verdient.
Sie redet zwar davon, sogar mit Nachdruck und einem gewissen
Ueberzeugungston, aber doch nur, weil sie irgendwo gelesen hat, Liebe
sei nun mal das Hoechste, das Schoenste, das Herrlichste. Vielleicht
hat sie's auch bloss von der sentimentalen Person, der Hulda, gehoert
und spricht es ihr nach. Aber sie empfindet nicht viel dabei. Wohl
moeglich, dass es alles mal kommt, Gott verhuete es, aber noch ist es
nicht da."

"Und was ist da? Was hat sie?"

"Sie hat nach meinem und auch nach ihrem eigenen Zeugnis zweierlei:
Vergnuegungssucht und Ehrgeiz.

"Nun, das kann passieren. Da bin ich beruhigt."

"Ich nicht. Innstetten ist ein Karrieremacher - von Streber will ich
nicht sprechen, das ist er auch nicht, dazu ist er zu wirklich vornehm
-, also Karrieremacher, und das wird Effis Ehrgeiz befriedigen."

"Nun also. Das ist doch gut."

"Ja, das ist gut! Aber es ist erst die Haelfte. Ihr Ehrgeiz wird
befriedigt werden, aber ob auch ihr Hang nach Spiel und Abenteuer?
Ich bezweifle. Fuer die stuendliche kleine Zerstreuung und Anregung,
fuer alles, was die Langeweile bekaempft, diese Todfeindin einer
geistreichen kleinen Person, dafuer wird Innstetten sehr schlecht
sorgen. Er wird sie nicht in einer geistigen Ode lassen, dazu ist er
zu klug und zu weltmaennisch, aber er wird sie auch nicht sonderlich
amuesieren. Und was das Schlimmste ist, er wird sich nicht einmal
recht mit der Frage beschaeftigen, wie das wohl anzufangen sei. Das
wird eine Weile so gehen, ohne viel Schaden anzurichten, aber zuletzt
wird sie's merken, und dann wird es sie beleidigen. Und dann weiss ich
nicht, was geschieht. Denn so weich und nachgiebig sie ist, sie hat
auch was Rabiates und laesst es auf alles ankommen."

In diesem Augenblick trat Wilke vom Saal her ein und meldete, dass er
alles nachgezaehlt und alles vollzaehlig gefunden habe; nur von den
feinen Weinglaesern sei eins zerbrochen, aber schon gestern, als das
Hoch ausgebracht wurde - Fraeulein Hulda habe mit Leutnant Nienkerken
zu scharf angestossen.

"Versteht sich, von alter Zeit her immer im Schlaf, und unterm
Holunderbaum ist es natuerlich nicht besser geworden. Eine alberne
Person, und ich begreife Nienkerken nicht." "Ich begreife ihn
vollkommen."

"Er kann sie doch nicht heiraten." "Nein."

"Also zu was?"

"Ein weites Feld, Luise."

Dies war am Tage nach der Hochzeit. Drei Tage spaeter kam eine kleine
gekritzelte Karte aus Muenchen, die Namen alle nur mit zwei Buchstaben
angedeutet. "Liebe Mama! Heute vormittag die Pinakothek besucht. Geert
wollte auch noch nach dem andern hinueber, das ich hier nicht nenne,
weil ich wegen der Rechtschreibung in Zweifel bin, und fragen mag ich
ihn nicht. Er ist uebrigens engelsgut gegen mich und erklaert mir
alles. Ueberhaupt alles sehr schoen, aber anstrengend. In Italien
wird es wohl nachlassen und besser werden. Wir wohnen in den 'Vier
Jahreszeiten', was Geert veranlasste, mir zu sagen, draussen sei
Herbst, aber er habe in mir den Fruehling. Ich finde es sehr sinnig.
Er ist ueberhaupt sehr aufmerksam. Freilich, ich muss es auch sein,
namentlich wenn er was sagt oder erklaert. Er weiss uebrigens alles
so gut, dass er nicht einmal nachzuschlagen braucht. Mit Entzuecken
spricht er von Euch, namentlich von Mama. Hulda findet er etwas
zierig; aber der alte Niemeyer hat es ihm ganz angetan. Tausend
Gruesse von Eurer ganz berauschten, aber auch etwas mueden Effi."

Solche Karten trafen nun taeglich ein, aus Innsbruck, aus Verona, aus
Vicenza, aus Padua, eine jede fing an: "Wir haben heute vormittag die
hiesige beruehmte Galerie besucht", oder wenn es nicht die Galerie
war, so war es eine Arena oder irgendeine Kirche "Santa Maria" mit
einem Zunamen. Aus Padua kam, zugleich mit der Karte, noch ein
wirklicher Brief. "Gestern waren wir in Vicenza. Vicenza muss man
sehen wegen des Palladio; Geert sagte mir, dass in ihm alles Moderne
wurzele. Natuerlich nur in bezug auf Baukunst. Hier in Padua (wo wir
heute frueh ankamen) sprach er im Hotelwagen etliche Male vor sich
hin: 'Er liegt in Padua begraben', und war ueberrascht, als er von mir
vernahm, dass ich diese Worte noch nie gehoert haette. Schliesslich
aber sagte er, es sei eigentlich ganz gut und ein Vorzug, dass ich
nichts davon wuesste. Er ist ueberhaupt sehr gerecht. Und vor allem
ist er engelsgut gegen mich und gar nicht ueberheblich und auch gar
nicht alt. Ich habe noch immer das Ziehen in den Fuessen, und das
Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an.
Aber es muss ja sein. Ich freue mich sehr auf Venedig. Da bleiben wir
fuenf Tage, ja vielleicht eine ganze Woche. Geert hat mir schon von
den Tauben auf dem Markusplatz vorgeschwaermt, und dass man sich da
Tueten mit Erbsen kauft und dann die schoenen Tiere damit fuettert. Es
soll Bilder geben, die das darstellen, schoene blonde Maedchen, 'ein
Typus wie Hulda', sagte er. Wobei mir denn auch die Jahnkeschen
Maedchen einfallen. Ach, ich gaebe was drum, wenn ich mit ihnen auf
unserem Hof auf einer Wagendeichsel sitzen und unsere Tauben fuettern
koennte. Die Pfauentaube mit dem starken Kropf duerft ihr aber nicht
schlachten, die will ich noch wiedersehen. Ach, es ist so schoen hier.
Es soll auch das Schoenste sein. Eure glueckliche, aber etwas muede
Effi."

Frau von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte:

"Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht."

"Ja", sagte Briest, "sie hat Sehnsucht. Diese verwuenschte Reiserei
..."

"Warum sagst du das jetzt? Du haettest es ja hindern koennen. Aber das
ist so deine Art, hinterher den Weisen zu spielen. Wenn das Kind in
den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu."

"Ach, Luise, komme mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist
unser Kind, aber seit dem 3. Oktober ist sie Baronin Innstetten. Und
wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen
und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so
kann ich ihn daran nicht hindern. Das ist eben das, was man sich
verheiraten nennt."

"Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenueber hast du's immer
bestritten, immer bestritten, dass die Frau in einer Zwangslage sei."

"Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu
weites Feld."



Sechstes Kapitel

Mitte November - sie waren bis Capri und Sorrent gekommen - lief
Innstettens Urlaub ab, und es entsprach seinem Charakter und seinen
Gewohnheiten, genau Zeit und Stunde zu halten.

Am 14. frueh traf er denn auch mit dem Kurierzug in Berlin ein, wo
Vetter Briest ihn und die Cousine begruesste und vorschlug, die zwei
bis zum Abgang des Stettiner Zuges noch zur Verfuegung bleibenden
Stunden zum Besuch des St.-Privat-Panoramas zu benutzen und diesem
Panoramabesuch ein kleines Gabelfruehstueck folgen zu lassen. Beides
wurde dankbar akzeptiert. Um Mittag war man wieder auf dem Bahnhof und
nahm hier, nachdem, wie herkoemmlich, die gluecklicherweise nie ernst
gemeinte Aufforderung, "doch auch mal herueberzukommen", ebenso von
Effi wie von Innstetten ausgesprochen worden war, unter herzlichem
Haendeschuetteln Abschied voneinander. Noch als der Zug sich schon in
Bewegung setzte, gruesste Effi vom Coupe aus. Dann machte sie sich's
bequem und schloss die Augen; nur von Zeit zu Zeit richtete sie sich
wieder auf und reichte Innstetten die Hand.

Es war eine angenehme Fahrt, und puenktlich erreichte der Zug den
Bahnhof Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem noch zwei
Meilen entfernten Kessin hinueberfuehrte. Bei Sommerzeit, namentlich
waehrend der Bademonate, benutzte man statt der Chaussee lieber den
Wasserweg und fuhr auf einem alten Raddampfer das Fluesschen Kessine,
dem Kessin selbst seinen Namen verdankte, hinunter; am 1. Oktober
aber stellte der "Phoenix", von dem seit langem vergeblich gewuenscht
wurde, dass er in einer passagierfreien Stunde sich seines Namens
entsinnen und verbrennen moege, regelmaessig seine Fahrten ein,
weshalb denn auch Innstetten bereits von Stettin aus an seinen
Kutscher Kruse telegrafiert hatte: "Fuenf Uhr Bahnhof Klein-Tantow.
Bei gutem Wetter offener Wagen."

Und nun war gutes Wetter, und Kruse hielt in offenem Gefaehrt am
Bahnhof und begruesste die Ankommenden mit dem vorschriftsmaessigen
Anstand eines herrschaftlichen Kutschers. "Nun, Kruse, alles in
Ordnung?"

"Zu Befehl, Herr Landrat."

"Dann, Effi, bitte, steig ein." Und waehrend Effi dem nachkam und
einer von den Bahnhofsleuten einen kleinen Handkoffer vorn beim
Kutscher unterbrachte, gab Innstetten Weisung, den Rest des Gepaecks
mit dem Omnibus nachzuschicken. Gleich danach nahm auch er seinen
Platz, bat, sich Populaer machend, einen der Umstehenden um Feuer und
rief Kruse zu: "Nun vorwaerts, Kruse." Und ueber die Schienenweg, die
vielgleisig an der Uebergangsstelle lagen, ging es in Schraeglinie den
Bahndamm hinunter und gleich danach an einem schon an der Chaussee
gelegenen Gasthaus vorueber, das den Namen "Zum Fuersten Bismarck"
fuehrte. Denn an ebendieser Stelle gabelte der Weg und zweigte, wie
rechts nach Kessin, so links nach Varzin hin ab. Vor dem Gasthof stand
ein mittelgrosser, breitschultriger Mann in Pelz und Pelzmuetze, welch
letztere er, als der Herr Landrat vorueberfuhr, mit vieler Wuerde vom
Haupte nahm. "Wer war denn das?" sagte Effi, die durch alles, was sie
sah, aufs hoechste interessiert und schon deshalb bei bester Laune
war. "Er sah ja aus wie ein Starost, wobei ich freilich bekennen muss,
nie einen Starosten gesehen zu haben."

"Was auch nicht schadet, Effi Du hast es trotzdem sehr gut getroffen.
Er sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch so was. Er ist
naemlich ein halber Pole, heisst Golchowski, und wenn wir hier Wahl
haben oder eine Jagd, dann ist er obenauf. Eigentlich ein ganz
unsicherer Passagier, dem ich nicht ueber den Weg traue und der wohl
viel auf dem Gewissen hat. Er spielt sich aber auf den Loyalen hin
aus, und wenn die Varziner Herrschaften hier vorueberkommen, moechte
er sich am liebsten vor den Wagen werfen. Ich weiss, dass er dem
Fuersten auch widerlich ist. Aber was hilft's? Wir duerfen es nicht
mit ihm verderben, weil wir ihn brauchen. Er hat hier die ganze Gegend
in der Tasche und versteht die Wahlmache wie kein anderer, gilt auch
fuer wohlhabend. Dabei leiht er auf Wucher, was sonst die Polen nicht
tun; in der Regel das Gegenteil."

"Er sah aber gut aus."

"Ja, gut aussehen tut er. Gut aussehen tun die meisten hier. Ein
huebscher Schlag Menschen. Aber das ist auch das Beste, was man von
ihnen sagen kann. Eure maerkischen Leute sehen unscheinbarer aus und
verdriesslicher, und in ihrer Haltung sind sie weniger respektvoll,
eigentlich gar nicht, aber ihr Ja ist Ja und Nein ist Nein, und man
kann sich auf sie verlassen. Hier ist alles unsicher."

"Warum sagst du mir das? Ich muss nun doch hier mit ihnen leben."

"Du nicht, du wirst nicht viel von ihnen hoeren und sehen. Denn Stadt
und Land sind hier sehr verschieden, und du wirst nur unsere Staedter
kennenlernen, unsere guten Kessiner."

"Unsere guten Kessiner. Ist es Spott, oder sind wie wirklich so gut?"

"Dass sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie
sind doch anders als die andern; ja, sie haben gar keine Aehnlichkeit
mit der Landbevoelkerung hier."

"Und wie kommt das?"

"Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und
ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwaerts findest, das sind
sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht gehoert hast, slawische
Leute, die hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch
viel laenger. Alles aber, was hier an der Kueste hin in den kleinen
See- und Handelsstaedten wohnt, das sind von weither Eingewanderte,
die sich um das kaschubische Hinterland wenig kuemmern, weil sie wenig
davon haben und auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie
angewiesen sind, das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben,
und da sie das mit aller Welt tun und mit aller Welt in Verbindung
stehen, so findest du zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt
Ecken und Enden. Auch in unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich
nur ein Nest ist."

Aber das ist ja entzueckend, Geert. Du sprichst immer von Nest, und
nun finde ich, wenn du nicht uebertrieben hast, eine ganz neue Welt
hier. Allerlei Exotisches. Nicht wahr, so was Aehnliches meintest du
doch?" Er nickte.

"Eine ganz neue Welt, sag ich, vielleicht einen Neger oder einen
Tuerken oder vielleicht sogar einen Chinesen."

"Auch einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist moeglich, dass
wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt;
jetzt ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stueck Erde
begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn du nicht furchtsam bist,
will ich dir bei Gelegenheit mal sein Grab zeigen; es liegt zwischen
den Duenen, bloss Strandhafer drumrum und dann und wann ein paar
Immortellen, und immer hoert man das Meer. Es ist sehr schoen und sehr
schauerlich."

"Ja, schauerlich, und ich moechte wohl mehr davon wissen. Aber doch
lieber nicht, ich habe dann immer gleich Visionen und Traeume und
moechte doch nicht, wenn ich diese Nacht hoffentlich gut schlafe,
gleich einen Chinesen an mein Bett treten sehen."

"Das wird er auch nicht."

"Das wird er auch nicht. Hoer, das klingt ja sonderbar, als ob es doch
moeglich waere. Du willst mir Kessin interessant machen, aber du gehst
darin ein bisschen weit. Und solche fremde Leute habt ihr viele in
Kessin?"

"Sehr viele. Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus
Menschen, deren Eltern oder Grosseltern noch ganz woanders sassen."

"Hoechst merkwuerdig. Bitte, sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was
Gruseliges. Ein Chinese, find ich, hat immer was Gruseliges."

"Ja, das hat er", lachte Geert. "Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von
ganz anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bisschen zu
sehr Kaufmann, ein bisschen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit
Wechseln von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muss sich
vorsehen mit ihnen. Aber sonst ganz gemuetlich. Und damit du siehst,
dass ich dir nichts vorgemacht habe, will ich dir nur so eine kleine
Probe geben, so eine Art Register oder Personenverzeichnis."

"Ja, Geert, das tu."

"Da haben wir beispielsweise keine fuenfzig Schritt von uns,
und unsere Gaerten stossen sogar zusammen, den Maschinen- und
Baggermeister Macpherson, einen richtigen Schotten und Hochlaender."

"Und traegt sich auch noch so?"

"Nein, Gott sei Dank nicht, denn es ist ein verhutzeltes Maennchen,
auf das weder sein Clan noch Walter Scott besonders stolz sein
wuerden. Und dann haben wir in demselben Haus, wo dieser Macpherson
wohnt, auch noch einen alten Wundarzt, Beza mit Namen, eigentlich
bloss Barbier; der stammt aus Lissabon, gerade daher, wo auch der
beruehmte General de Meza herstammt - Meza, Beza, du hoerst die
Landesverwandtschaft heraus. Und dann haben wir flussaufwaerts am
Bollwerk - das ist naemlich der Kai, wo die Schiffe liegen - einen
Goldschmied namens Stedingk, der aus einer alten schwedischen Familie
stammt; ja, ich glaube, es gibt sogar Reichsgrafen, die so heissen,
und des weiteren, und damit will ich dann vorlaeufig abschliessen,
haben wir den guten alten Doktor Hannemann, der natuerlich ein Daene
ist und lange in Island war und sogar ein kleines Buch geschrieben hat
ueber den letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla."

"Das ist ja aber grossartig, Geert. Das ist ja wie sechs Romane, damit
kann man ja gar nicht fertig werden. Es klingt erst spiessbuergerlich
und ist doch hinterher ganz apart. Und dann muesst ihr ja doch auch
Menschen haben, schon weil es eine Seestadt ist, die nicht bloss
Chirurgen oder Barbiere sind oder sonst dergleichen. Ihr muesst doch
auch Kapitaene haben, irgendeinen fliegenden Hollaender oder ..."

"Da hast du ganz recht. Wir haben sogar einen Kapitaen, der war
Seeraeuber unter den Schwarzflaggen."

"Kenn ich nicht. Was sind Schwarzflaggen?"

"Das sind Leute weit dahinten in Tonkin und an der Suedsee ... Seit er
aber wieder unter Menschen ist, hat er auch wieder die besten Formen
und ist ganz unterhaltlich."

"Ich wuerde mich aber doch vor ihm fuerchten."

"Was du nicht noetig hast, zu keiner Zeit, und auch dann nicht, wenn
ich ueber Land bin oder zum Tee beim Fuersten, denn zu allem andern,
was wir haben, haben wir ja Gott sei Dank auch Rollo ..."

"Rollo?"

"Ja, Rollo. Du denkst dabei, vorausgesetzt, dass du bei Niemeyer oder
Jahnke von dergleichen gehoert hast, an den Normannenherzog, und
unserer hat auch so was. Es ist aber bloss ein Neufundlaender, ein
wunderschoenes Tier, das mich liebt und dich auch lieben wird. Denn
Rollo ist ein Kenner. Und solange du den um dich hast, so lange bist
du sicher und kann nichts an dich heran, kein Lebendiger und kein
Toter. Aber sieh mal den Mond da drueben. Ist es nicht schoen?"

Effi, die, still in sich versunken, jedes Wort halb aengstlich, halb
begierig eingesogen hatte, richtete sich jetzt auf und sah nach rechts
hinueber, wo der Mond, unter weissem, aber rasch hinschwindendem
Gewoelk, eben aufgegangen war. Kupferfarben stand die grosse Scheibe
hinter einem Erlengehoelz und warf ihr Licht auf eine breite
Wasserflaeche, die die Kessine hier bildete. Oder vielleicht war es
auch schon ein Haff, an dem das Meer draussen seinen Anteil hatte.

Effi war wie benommen. "Ja, du hast recht, Geert, wie schoen; aber
es hat zugleich so was Unheimliches. In Italien habe ich nie solchen
Eindruck gehabt, auch nicht, als wir von Mestre nach Venedig
hinueberfuhren. Da war auch Wasser und Sumpf und Mondschein, und ich
dachte, die Bruecke wuerde brechen; aber es war nicht so gespenstig.
Woran liegt es nur? Ist es doch das Noerdliche?"

Innstetten lachte. "Wir sind hier fuenfzehn Meilen noerdlicher als
in Hohen-Cremmen, und eh der erste Eisbaer kommt, musst du noch eine
Weile warten. Ich glaube, du bist nervoes von der langen Reise und
dazu das St.-Privat-Panorama und die Geschichte von dem Chinesen."

"Du hast mir ja gar keine erzaehlt."

"Nein, ich hab ihn nur eben genannt. Aber ein Chinese ist schon an und
fuer sich eine Geschichte ..."

"Ja", lachte sie.

"Und jedenfalls hast du's bald ueberstanden. Siehst du da vor dir das
kleine Haus mit dem Licht? Es ist eine Schmiede. Da biegt der Weg. Und
wenn wir die Biegung gemacht haben, dann siehst du schon den Turm von
Kessin oder richtiger beide..."

"Hat es denn zwei?"

"Ja, Kessin nimmt sich auf. Es hat jetzt auch eine katholische
Kirche."

Eine halbe Stunde spaeter hielt der Wagen an der ganz am
entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen landraetlichen Wohnung,
einem einfachen, etwas altmodischen Fachwerkhaus, das mit seiner Front
auf die nach den Seebaedern hinausfuehrende Hauptstrasse, mit seinem
Giebel aber auf ein zwischen der Stadt und den Duenen liegendes
Waeldchen, das die "Plantage" hiess, herniederblickte.

Dies altmodische Fachwerkhaus war uebrigens nur Innstettens
Privatwohnung, nicht das eigentliche Landratsamt, welches letztere,
schraeg gegenueber, an der anderen Seite der Strasse lag.

Kruse hatte nicht noetig, durch einen dreimaligen Peitschenknips die
Ankunft zu vermelden; laengst hatte man von Tuer und Fenstern aus nach
den Herrschaften ausgeschaut, und ehe noch der Wagen heran war, waren
bereits alle Hausinsassen auf dem die ganze Breite des Buergersteigs
einnehmenden Schwellstein versammelt, vorauf Rollo, der im selben
Augenblick, wo der Wagen hielt, diesen zu umkreisen begann. Innstetten
war zunaechst seiner jungen Frau beim Aussteigen behilflich und
ging dann, dieser den Arm reichend, unter freundlichem Gruss an der
Dienerschaft vorueber, die nun dem jungen Paar in den mit praechtigen
alten Wandschraenken umstandenen Hausflur folgte. Das Hausmaedchen,
eine huebsche, nicht mehr ganz jugendliche Person, die ihre stattliche
Fuelle fast ebenso gut kleidete wie das zierliche Muetzchen auf
dem blonden Haar, war der gnaedigen Frau beim Ablegen von Muff und
Mantel behilflich und bueckte sich eben, um ihr auch die mit Pelz
gefuetterten Gummistiefel auszuziehen. Aber ehe sie noch dazu kommen
konnte, sagte Innstetten: "Es wird das beste sein, ich stelle dir
gleich hier unsere gesamte Hausgenossenschaft vor, mit Ausnahme
der Frau Kruse, die sich - ich vermute sie wieder bei ihrem
unvermeidlichen schwarzen Huhn - nicht gerne sehen laesst." Alles
laechelte. "Aber lassen wir Frau Kruse ... Dies hier ist mein alter
Friedrich, der schon mit mir auf der Universitaet war ... Nicht
wahr, Friedrich, gute Zeiten damals ... Und dies hier ist Johanna,
maerkische Landsmaennin von dir, wenn du, was aus Pasewalker Gegend
stammt, noch fuer voll gelten lassen willst, und dies ist Christel,
der wir mittags und abends unser leibliches Wohl anvertrauen und die
zu kochen versteht, das kann ich dir versichern. Und dies hier ist
Rollo. Nun, Rollo, wie geht's?"

Rollo schien nur auf diese spezielle Ansprache gewartet zu haben,
denn im selben Augenblick, wo er seinen Namen hoerte, gab er einen
Freudenblaff, richtete sich auf und legte die Pfoten auf seines Herrn
Schulter.

"Schon gut, Rollo, schon gut. Aber sieh da, das ist die Frau; ich hab
ihr von dir erzaehlt und ihr gesagt, dass du ein schoenes Tier seist
und sie schuetzen wuerdest." Und nun liess Rollo ab und setzte
sich vor Innstetten nieder, zugleich neugierig zu der jungen Frau
aufblickend. Und als diese ihm die Hand hinhielt, umschmeichelte er
sie.

Effi hatte waehrend dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden, sich
umzuschauen. Sie war wie gebannt von allem, was sie sah, und dabei
geblendet von der Fuelle von Licht. In der vorderen Flurhaelfte
brannten vier, fuenf Wandleuchter, die Leuchten selbst sehr primitiv,
von blossem Weissblech, was aber den Glanz und die Helle nur
noch steigerte. Zwei mit roten Schleiern bedeckte Astrallampen,
Hochzeitsgeschenk von Niemeyer, standen auf einem zwischen zwei
Eichenschraenken angebrachten Klapptisch, in Front davon das Teezeug,
dessen Laempchen unter dem Kessel schon angezuendet war. Aber noch
viel, viel anderes und zum Teil sehr Sonderbares kam zu dem allen
hinzu. Quer ueber den Flur fort liefen drei die Flurdecke in ebenso
viele Felder teilende Balken; an dem vordersten hing ein Schiff mit
vollen Segeln, hohem Hinterdeck und Kanonenluken, waehrend weiterhin
ein riesiger Fisch in der Luft zu schwimmen schien. Effi nahm ihren
Schirm, den sie noch in Haenden hielt, und stiess leis an das Ungetuem
an, so dass es sich in eine langsam schaukelnde Bewegung setzte.

"Was ist das, Geert?" fragte sie.

"Das ist ein Haifisch."

"Und ganz dahinten das, was aussieht wie eine grosse Zigarre vor einem
Tabaksladen?"

"Das ist ein junges Krokodil. Aber das kannst du dir alles morgen viel
besser und genauer ansehen; jetzt komm und lass uns eine Tasse Tee
nehmen. Denn trotz aller Plaids und Decken wirst du gefroren haben. Es
war zuletzt empfindlich kalt."

Er bot nun Effi den Arm, und waehrend sich die beiden Maedchen
zurueckzogen und nur Friedrich und Rollo folgten, trat man, nach links
hin, in des Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein. Effi war hier
aehnlich ueberrascht wie draussen im Flur; aber ehe sie sich darueber
aeussern konnte, schlug Innstetten eine Portiere zurueck, hinter der
ein zweites, etwas groesseres Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten,
gelegen war. "Das, Effi, ist nun also dein. Friedrich und Johanna
haben es, so gut es ging, nach meinen Anordnungen herrichten muessen.
Ich finde es ganz ertraeglich und wuerde mich freuen, wenn es dir auch
gefiele."

Sie nahm ihren Arm aus dem seinigen und hob sich auf die Fussspitzen,
um ihm einen herzlichen Kuss zu geben.

"Ich armes kleines Ding, wie du mich verwoehnst. Dieser Fluegel und
dieser Teppich, ich glaube gar, es ist ein tuerkischer, und das Bassin
mit den Fischchen und dazu der Blumentisch. Verwoehnung, wohin ich
sehe."

"Ja, meine liebe Effi, das musst du dir nun schon gefallen lassen,
dafuer ist man jung und huebsch und liebenswuerdig, was die Kessiner
wohl auch schon erfahren haben werden, Gott weiss woher. Denn an dem
Blumentisch wenigstens bin ich unschuldig. Friedrich, wo kommt der
Blumentisch her?" "Apotheker Gieshuebler ... Es liegt auch eine Karte
bei." "Ah, Gieshuebler, Alonzo Gieshuebler", sagte Innstetten und
reichte lachend und in beinahe ausgelassener Laune die Karte mit dem
etwas fremdartig klingenden Vornamen zu Effi hinueber. "Gieshuebler,
von dem hab ich dir zu erzaehlen vergessen - beilaeufig, er fuehrt
auch den Doktortitel, hat's aber nicht gern, wenn man ihn dabei nennt,
das aergere, so meint er, die richtigen Doktoren bloss, und darin wird
er wohl recht haben. Nun, ich denke, du wirst ihn kennenlernen, und
zwar bald; er ist unsere beste Nummer hier, Schoengeist und Original
und vor allem Seele von Mensch, was doch immer die Hauptsache bleibt.
Aber lassen wir das alles und setzen uns und nehmen unsern Tee. Wo
soll es sein? Hier bei dir oder drin bei mir? Denn eine weitere Wahl
gibt es nicht. Eng und klein ist meine Huette."

Sie setzte sich ohne Besinnen auf ein kleines Ecksofa. "Heute bleiben
wir hier, heute bist du bei mir zu Gast. Oder lieber so: den Tee
regelmaessig bei mir, das Fruehstueck bei dir; dann kommt jeder zu
seinem Recht, und ich bin neugierig, wo mir's am besten gefallen
wird."

"Das ist eine Morgen- und Abendfrage."

"Gewiss. Aber wie sie sich stellt, oder richtiger, wie wir uns dazu
stellen, das ist es eben."

Und sie lachte und schmiegte sich an ihn und wollte ihm die Hand
kuessen.

"Nein, Effi, um Himmels willen nicht, nicht so. Mir liegt nicht daran,
die Respektsperson zu sein, das bin ich fuer die Kessiner. Fuer dich
bin ich ..."

"Nun was?"

"Ach lass. Ich werde mich hueten, es zu sagen."



Siebentes Kapitel

Es war schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte. Sie
hatte Muehe, sich zurechtzufinden. Wo war sie? Richtig, in Kessin, im
Hause des Landrats von Innstetten, und sie war seine Frau, Baronin
Innstetten. Und sich aufrichtend, sah sie sich neugierig um; am Abend
vorher war sie zu muede gewesen, um alles, was sie da halb fremdartig,
halb altmodisch umgab, genauer in Augenschein zu nehmen. Zwei Saeulen
stuetzten den Deckenbalken, und gruene Vorhaenge schlossen den
alkovenartigen Schlafraum, in welchem die Betten standen, von dem
Rest des Zimmers ab; nur in der Mitte fehlte der Vorhang oder
war zurueckgeschlagen, was ihr von ihrem Bett aus eine bequeme
Orientierung gestattete. Da, zwischen den zwei Fenstern, stand der
schmale, bis hoch hinaufreichende Trumeau, waehrend rechts daneben,
und schon an der Flurwand hin, der grosse schwarze Kachelofen
aufragte, der noch (soviel hatte sie schon am Abend vorher bemerkt)
nach alter Sitte von aussen her geheizt wurde. Sie fuehlte jetzt, wie
seine Waerme herueberstroemte.

Wie schoen es doch war, im eigenen Hause zu sein; soviel Behagen
hatte sie waehrend der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in
Sorrent.

Aber wo war Innstetten? Alles still um sie her, niemand da. Sie hoerte
nur den Ticktackschlag einer kleinen Penduele und dann und wann einen
dumpfen Ton im Ofen, woraus sie schloss, dass vom Flur her ein paar
neue Scheite nachgeschoben wuerden. Allmaehlich entsann sie sich auch,
dass Geert am Abend vorher von einer elektrischen Klingel gesprochen
hatte, nach der sie dann auch nicht lange mehr zu suchen brauchte;
dicht neben ihrem Kissen war der kleine weisse Elfenbeinknopf, auf den
sie nun leise drueckte.

Gleich danach erschien Johanna. "Gnaedige Frau haben befohlen."

"Ach, Johanna, ich glaube, ich habe mich verschlafen. Es muss schon
spaet sein."

"Eben neun."

"Und der Herr ...", es wollte ihr nicht gluecken, so ohne ,weiteres
von ihrem "Mann" zu sprechen ..., "der Herr, er muss sehr leise
gemacht haben; ich habe nichts gehoert."

"Das hat er gewiss. Und gnaed'ge Frau werden fest geschlafen haben.
Nach der langen Reise ..."

"Ja, das hab ich. Und der Herr, ist er immer so frueh auf?" Immer,
gnaed'ge Frau. Darin ist er streng; er kann das lange sch1afen nicht
leiden, und wenn er drueben in sein Zimmer tritt, da muss der Ofen
warm sein, und der Kaffee darf auch nicht auf sich warten lassen."

"Da hat er also schon gefruehstueckt?"

"Oh, nicht doch, gnaed'ge Frau ... der gnaed'ge Herr..."

Effi fuehlte, dass sie die Frage nicht haette tun und die Vermutung,
Innstetten koenne nicht auf sie gewartet haben, lieber nicht haette
aussprechen sollen. Es lag ihr denn auch daran, diesen ihren Fehler,
so gut es ging, wieder auszugleichen, und als sie sich erhoben und vor
dem Trumeau Platz genommen hatte, nahm sie das Gespraech wieder auf
und sagte: "Der Herr hat uebrigens ganz recht. Immer frueh auf,
das war auch Regel in meiner Eltern Haus. Wo die Leute den Morgen
verschlafen, da gibt es den ganzen Tag keine Ordnung mehr. Aber der
Herr wird es so streng mit mir nicht nehmen; eine ganze Weile hab
ich diese Nacht nicht schlafen koennen und habe mich sogar ein wenig
geaengstigt."

"Was ich hoeren muss, gnaed'ge Frau! Was war es denn?"

"Es war ueber mir ein ganz sonderbarer Ton, nicht laut, aber doch sehr
eindringlich. Erst klang es, wie wenn lange Schleppenkleider ueber die
Diele hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paarmal,
als ob ich kleine weisse Atlasschuhe saehe. Es war, als tanze man
oben, aber ganz leise." Johanna, waehrend das Gespraech so ging, sah
ueber die Schulter der jungen Frau fort in den hohen, schmalen Spiegel
hinein, um die Mienen Effis besser beobachten zu koennen. Dann sagte
sie: "Ja, das ist oben im Saal. Frueher hoerten wir es in der Kueche
auch. Aber jetzt hoeren wir es nicht mehr; wir haben uns daran
gewoehnt."

"Ist es denn etwas Besonderes damit?"

"O Gott bewahre, nicht im geringsten. Eine Weile wusste man nicht
recht, woher es kaeme, und der Herr Prediger machte ein verlegenes
Gesicht, trotzdem Doktor Gieshuebler immer nur darueber lachte. Nun
aber wissen wir, dass es die Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig
und stockig, und deshalb stehen immer die Fenster auf, wenn nicht
gerade Sturm ist. Und da ist denn fast immer ein starker Zug oben und
fegt die alten weissen Gardinen, die ausserdem viel zu lang sind,
ueber die Dielen hin und her. Das klingt dann so wie seidne Kleider
oder auch wie Atlasschuhe, wie die gnaed'ge Frau eben bemerkte."

"Natuerlich ist es das. Aber ich begreife nur nicht, warum dann die
Gardinen nicht abgenommen werden. Oder man koennte sie ja kuerzer
machen. Es ist ein so sonderbares Geraeusch, das einem auf die Nerven
faellt. Und nun, Johanna, bitte, geben Sie mir noch das kleine
Tuch, und tupfen Sie mir die Stirn. Oder nehmen Sie lieber den
Rafraichisseur aus meiner Reisetasche ... Ach, das ist schoen und
erfrischt mich. Nun werde ich hinuebergehen. Er ist doch noch da, oder
war er schon aus?"

"Der gnaed'ge Herr war schon aus, ich glaube, drueben auf dem Amt.
Aber seit einer Viertelstunde ist er zurueck. Ich werde Friedrich
sagen, dass er das Fruehstueck bringt."

Und damit verliess Johanna das Zimmer, waehrend Effi noch einen
Blick in den Spiegel tat und dann ueber den Flur fort, der bei der
Tagesbeleuchtung viel von seinem Zauber vom Abend vorher eingebuesst
hatte, bei Geert eintrat.

Dieser sass an seinem Schreibtisch, einem etwas schwerfaelligen
Zylinderbuero, das er aber, als Erbstueck aus dem elterlichen Hause,
nicht missen mochte.

Effi stand hinter ihm und umarmte und kuesste ihn, noch eh euch von
seinem Platz erheben konnte.

"Schon?"

"Schon, sagst du. Natuerlich um mich zu verspotten."

Innstetten schuettelte den Kopf. "Wie werd ich das?" Effi fand aber
ein Gefallen daran, sich anzuklagen, und wollte von den Versicherungen
ihres Mannes, dass sein "schon" ganz aufrichtig gemeint gewesen sei,
nichts hoeren. "Du musst von der Reise her wissen, dass ich morgens
nie habe warten lassen. Im Laufe des Tages, nun ja, da ist es etwas
anderes. Es ist wahr, ich bin nicht sehr puenktlich, aber ich bin
keine Langschlaeferin. Darin, denk ich, haben mich die Eltern gut
erzogen."

"Darin? In allem, meine suesse Effi."

"Das sagst du so, weil wir noch in den Flitterwochen sind ... aber
nein, wir sind ja schon heraus. Um Himmels willen, Geert, daran habe
ich noch gar nicht gedacht, wir sind ja schon ueber sechs Wochen
verheiratet, sechs Wochen und einen Tag. Ja, das ist etwas anderes,
da nehme ich es nicht mehr als Schmeichelei, da nehme ich es als
Wahrheit."

In diesem Augenblick trat Friedrich ein und brachte den Kaffee.
Der Fruehstueckstisch stand in Schraeglinie vor einem Meinen,
rechtwinkligen Sofa, das gerade die eine Ecke des Wohnzimmers
ausfuellte. Hier setzten sich beide. "Der Kaffee ist ja vorzueglich",
sagte Effi, waehrend sie zugleich das Zimmer und seine Einrichtung
musterte. "Das ist noch Hotelkaffee oder wie der bei Bottegone ...
erinnerst du dich noch, in Florenz, mit dem Blick auf den Dom. Davor
muss ich der Mama schreiben, solchen Kaffee haben wir in Hohen-Cremmen
nicht. Ueberhaupt, Geert, ich sehe nun erst, wie vornehm ich mich
verheiratet habe. Bei uns konnte alles nur so gerade passieren."

"Torheit, Effi. Ich habe nie eine bessere Hausfuehrung gesehen als bei
euch."

"Und dann, wie du wohnst. Als Papa sich den neuen Gewehrschrank
angeschafft und ueber seinem Schreibtisch einen Bueffelkopf und dicht
darunter den alten Wrangel angebracht hatte (er war naemlich mal
Adjutant bei dem Alten), da dacht er wunder was er getan; aber wenn
ich mich hier umsehe, daneben ist unsere ganze Hohen-Cremmener
Herrlichkeit ja bloss duerftig und alltaeglich. Ich weiss gar nicht,
womit ich das alles vergleichen soll; schon gestern abend, als ich
nur so fluechtig darueber hinsah, kamen mir allerhand Gedanken." "Und
welche, wenn ich fragen darf?"

"Ja, welche. Du darfst aber nicht drueber lachen. Ich habe mal ein
Bilderbuch gehabt, wo ein persischer oder indischer Fuerst (denn
er trug einen Turban) mit untergeschlagenen Beinen auf einem roten
Seidenkissen sass, und in seinem Ruecken war ausserdem noch eine
grosse rote Seidenrolle, die links und rechts ganz bauschig zum
Vorschein kam, und die Wand hinter dem indischen Fuersten starrte
von Schwertern und Dolchen und Parderfellen und Schilden und langen
tuerkischen Flinten. Und sieh, ganz so sieht es hier bei dir aus,
und wenn du noch die Beine unterschlaegst, ist die Aehnlichkeit
vollkommen."

"Effi, du bist ein entzueckendes, liebes Geschoepf. Du weisst gar
nicht, wie sehr ich's finde und wie gern ich dir in jedem Augenblick
zeigen moechte, dass ich's finde."

"Nun, dazu ist ja noch vollauf Zeit; ich bin ja erst siebzehn und habe
noch nicht vor zu sterben."

"Wenigstens nicht vor mir. Freilich, wenn ich dann stuerbe, naehme ich
dich am liebsten mit. Ich will dich keinem andern lassen; was meinst
du dazu?"

"Das muss ich mir doch noch ueberlegen. Oder lieber, lassen wir's
ueberhaupt. Ich spreche nicht gern von Tod, ich bin fuer Leben. Und
nun sage mir, wie leben wir hier? Du hast mir unterwegs allerlei
Sonderbares von Stadt und Land erzaehlt, aber wie wir selber hier
leben werden, davon kein Wort. Dass hier alles anders ist als in
Hohen-Cremmen und Schwantikow, das seh ich wohl, aber wir muessen doch
in dem 'guten Kessin', wie du's immer nennst, auch etwas wie Umgang
und Gesellschaft haben koennen. Habt ihr denn Leute von Familie in der
Stadt?"

"Nein, meine liebe Effi; nach dieser Seite hin gehst du grossen
Enttaeuschungen entgegen. In der Naehe haben wir ein paar Adlige, die
du kennenlernen wirst, aber hier in der Stadt ist gar nichts."

"Gar nichts? Das kann ich nicht glauben. Ihr seid doch bis zu
dreitausend Menschen, und unter dreitausend Menschen muss es doch
ausser so kleinen Leuten wie Barbier Beza (so hiess er ja wohl) doch
auch noch eine Elite geben, Honoratioren oder dergleichen."

Innstetten lachte. "Ja, Honoratioren, die gibt es. Aber bei Licht
besehen ist es nicht viel damit. Natuerlich haben wir einen Prediger
und einen Amtsrichter und einen Rektor und einen Lotsenkommandeur, und
von solchen beamteten Leuten findet sich schliesslich wohl ein ganzes
Dutzend zusammen, aber die meisten davon: gute Menschen und schlechte
Musikanten. Und was dann noch bleibt, das sind bloss Konsuln."

"Bloss Konsuln. Ich bitte dich, Geert, wie kannst du nur sagen 'bloss
Konsuln'. Das ist doch etwas sehr Hohes und Grosses, und ich moecht
beinah sagen Furchtbares. Konsuln, das sind doch die mit dem
Rutenbuendel, draus, glaub ich, ein Beil heraussah."

"Nicht ganz, Effi Die heissen Liktoren."

"Richtig, die heissen Liktoren. Aber Konsuln ist doch auch etwas sehr
Vornehmes und Hochgesetzliches. Brutus war doch ein Konsul."

"Ja, Brutus war ein Konsul. Aber unsere sind ihm nicht sehr aehnlich
und begnuegen sich damit, mit Zucker und Kaffee zu handeln oder eine
Kiste mit Apfelsinen aufzubrechen, und verkaufen dir dann das Stueck
pro zehn Pfennige."

"Nicht moeglich."

"Sogar gewiss. Es sind kleine, pfiffige Kaufleute, die, wenn
fremdlaendische Schiffe hier einlaufen und in irgendeiner
Geschaeftsfrage nicht recht aus noch ein wissen, dann mit ihrem
Rat zur Hand sind, und wenn sie diesen Rat gegeben und irgendeinem
hollaendischen oder portugiesischen Schiff einen Dienst geleistet
haben, so werden sie zuletzt zu beglaubigten Vertretern solcher
fremder Staaten, und gerade so viele Botschafter und Gesandte, wie wir
in Berlin haben, so viele Konsuln haben wir auch in Kessin, und wenn
irgendein Festtag ist, und es gibt hier viele Festtage, dann werden
alle Wimpel gehisst, und haben wir gerade eine grelle Morgensonne, so
siehst du an solchem Tag ganz Europa von unsern Daechern flaggen und
das Sternenbanner und den chinesischen Drachen dazu."

"Du bist in einer spoettischen Laune, Geert, und magst auch wohl recht
haben. Aber ich, fuer meine kleine Person, muss dir gestehen, dass ich
dies alles entzueckend finde und dass unsere havellaendischen Staedte
daneben verschwinden. Wenn sie da Kaisers Geburtstag feiern, so flaggt
es immer bloss schwarz und weiss und allenfalls ein bisschen rot
dazwischen, aber das kann sich doch nicht vergleichen mit der Welt von
Flaggen, von der du sprichst. Ueberhaupt, wie ich dir schon sagte, ich
finde immer wieder und wieder, es hat alles so was Fremdlaendisches
hier, und ich habe noch nichts gehoert und gesehen, was mich nicht in
eine gewisse Verwunderung gesetzt haette, gleich gestern abend das
merkwuerdige Schiff draussen im Flur und dahinter der Haifisch und das
Krokodil und hier dein eigenes Zimmer. Alles so orientalisch, und ich
muss es wiederholen, alles wie bei einem indischen Fuersten ..."

"Meinetwegen. Ich gratuliere, Fuerstin ..."

"Und dann oben der Saal mit seinen langen Gardinen, die ueber die
Diele hinfegen."

"Aber was weisst du denn von dem Saal, Effi?"

"Nichts, als was ich dir eben gesagt habe. Wohl eine Stunde lang, als
ich in der Nacht aufwachte, war es mir, als ob ich Schuhe auf der
Erde schleifen hoerte und als wuerde getanzt und fast auch wie Musik.
Aber alles ganz leise. Und das hab ich dann heute frueh an Johanna
erzaehlt, bloss um mich zu entschuldigen, dass ich hinterher so lange
geschlafen. Und da sagte sie mir, das sei von den langen Gardinen oben
im Saal. Ich denke, wir machen kurzen Prozess damit und schneiden die
Gardinen etwas ab oder schliessen wenigstens die Fenster; es wird
ohnehin bald stuermisch genug werden. Mitte November ist ja die Zeit."

Innstetten sah in einer kleinen Verlegenheit vor sich hin und schien
schwankend, ob er auf all das antworten solle. Schliesslich entschied
er sich fuer Schweigen. "Du hast ganz recht, Effi, wir wollen die
langen Gardinen oben kuerzer machen. Aber es eilt nicht damit, um
so weniger, als es nicht sicher ist, ob es hilft. Es kann auch was
anderes sein, im Rauchfang oder der Wurm im Holz oder ein Iltis. Wir
haben naemlich hier Iltisse. Jedenfalls aber, eh wir Aenderungen
vornehmen, musst du dich in unserem Hauswesen erst umsehen, natuerlich
unter meiner Fuehrung; in einer Viertelstunde zwingen wir's. Und dann
machst du Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich bist du
so am reizendsten - Toilette fuer unseren Freund Gieshuebler; es ist
jetzt zehn vorueber, und ich muesste mich sehr in ihm irren, wenn er
nicht um elf oder doch spaetestens um die Mittagsstunde hier antreten
und dir seinen Respekt devotest zu Fuessen legen sollte. Das ist
naemlich die Sprache, drin er sich ergeht. Uebrigens, wie ich dir
schon sagte, ein kapitaler Mann, der dein Freund werden wird, wenn ich
ihn und dich recht kenne."



Achtes Kapitel

Elf war es laengst vorueber; aber Gieshuebler hatte sich noch immer
nicht sehen lassen. "Ich kann nicht laenger warten", hatte Geert
gesagt, den der Dienst abrief. "Wenn Gieshuebler noch erscheint, so
sei moeglichst entgegenkommend, dann wird es vorzueglich gehen; er
darf nicht verlegen werden; ist er befangen, so kann er kein Wort
finden oder sagt die sonderbarsten Dinge; weisst du ihn aber in
Zutrauen und gute Laune zu bringen, dann redet er wie ein Buch. Nun,
du wirst es schon machen. Erwarte mich nicht vor drei; es gibt drueben
allerlei zu tun. Und das mit dem Saal oben wollen wir noch ueberlegen;
es wird aber wohl am besten sein, wir lassen es beim alten."

Damit ging Innstetten und liess seine junge Frau allein. Diese sass,
etwas zurueckgelehnt, in einem lauschigen Winkel am Fenster und
stuetzte sich, waehrend sie hinaussah, mit ihrem linken Arm auf ein
kleines Seitenbrett, das aus dem Zylinderbuero herausgezogen war. Die
Strasse war die Hauptverkehrsstrasse nach dem Strand hin, weshalb denn
auch in Sommerzeit ein reges Leben hier herrschte, jetzt aber, um
Mitte November, war alles leer und still, und nur ein paar arme
Kinder, deren Eltern in etlichen ganz am aeussersten Rand der
"Plantage" gelegenen Strohdachhaeusern wohnten, klappten in ihren
Holzpantinen an dem Innstettenschen Hause vorueber. Effi empfand aber
nichts von dieser Einsamkeit, denn ihre Phantasie war noch immer bei
den wunderlichen Dingen, die sie, kurz vorher, waehrend ihrer Umschau
haltenden Musterung im Hause gesehen hatte. Diese Musterung hatte mit
der Kueche begonnen, deren Herd eine moderne Konstruktion aufwies,
waehrend an der Decke hin, und zwar bis in die Maedchenstube hinein,
ein elektrischer Draht lief - beides vor kurzem erst hergerichtet.
Effi war erfreut gewesen, als ihr Innstetten davon erzaehlt hatte,
dann aber waren sie von der Kueche wieder in den Flur zurueck- und von
diesem in den Hof hinausgetreten, der in seiner ersten Haelfte nicht
viel mehr als ein zwischen zwei Seitenfluegeln hinlaufender ziemlich
schmaler Gang war. In diesen Fluegeln war alles untergebracht, was
sonst noch zu Haushalt und Wirtschaftsfuehrung gehoerte, rechts
Maedchenstube, Bedientenstube, Rollkammer, links eine zwischen
Pferdestall und Wagenremise gelegene, von der Familie Kruse bewohnte
Kutscherwohnung. Ueber dieser, in einem Verschlag, waren die Huehner
einlogiert, und eine Dachklappe ueber dem Pferdestall bildete den Aus-
und Einschlupf fuer die Tauben. All dies hatte sich Effi mit vielem
Interesse angesehen, aber dies Interesse sah sich doch weit ueberholt,
als sie, nach ihrer Rueckkehr vom Hof ins Vorderhaus, unter
Innstettens Fuehrung die nach oben fuehrende Treppe hinaufgestiegen
war. Diese war schief, baufaellig, dunkel; der Flur dagegen, auf den
sie muendete, wirkte beinah heiter, weil er viel Licht und einen guten
landschaftlichen Ausblick hatte: nach der einen Seite hin, ueber die
Daecher des Stadtrandes und die "Plantage" fort, auf eine hoch auf
einer Duene stehende hollaendische Windmuehle, nach der anderen Seite
hin auf die Kessine, die hier, unmittelbar vor ihrer Einmuendung,
ziemlich breit war und einen stattlichen Eindruck machte. Diesem
Eindruck konnte man sich unmoeglich entziehen, und Effi hatte denn
auch nicht gesaeumt, ihrer Freude lebhaften Ausdruck zu geben. "Ja,
sehr schoen, sehr malerisch", hatte Innstetten, ,ohne weiter darauf
einzugehen, geantwortet und dann eine mit ihren Fluegeln etwas schief
haengende Doppeltuer geoeffnet, die nach rechts hin in den sogenannten
Saal fuehrte. Dieser lief durch die ganze Etage; Vorder- und
Hinterfenster standen offen, und die mehr erwaehnten langen Gardinen
bewegten sich in dem starken Luftzug hin und her. In der Mitte der
einen Laengswand sprang ein Kamin vor mit einer grossen Steinplatte,
waehrend an der Wand gegenueber ein paar blecherne Leuchter hingen,
jeder mit zwei Lichtoeffnungen, ganz so wie unten im Flur, aber alles
stumpf und ungepflegt. Effi war einigermassen enttaeuscht, sprach es
auch aus und erklaerte, statt des oeden und aermlichen Saals doch
lieber die Zimmer an der gegenuebergelegenen Flurseite sehen zu
wollen. "Da ist nun eigentlich vollends nichts", hatte Innstetten
geantwortet, aber doch die Tueren geoeffnet. Es befanden sich hier
vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getuencht, gerade wie der Saal
und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei Binsenstuehle,
die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war ein kleines,
nur einen halber Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen
darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen
Hut auf dem Kopf. Effi sah es und sagte: "Was soll der Chinese?"
Innstetten selbst schien von dem Bildchen ueberrascht und versicherte,
dass er es nicht wisse. "Das hat Christel angeklebt oder Johanna.
Spielerei. Du kannst sehen, es ist aus einer Fibel herausgeschnitten."
Effi fand es auch und war nur verwundert, dass Innstetten alles so
ernsthaft nahm, als ob es doch etwas sei. Dann hatte sie noch einmal
einen Blick in den Saal getan und sich dabei dahin geaeussert, wie es
doch eigentlich schade sei, dass das alles leerstehe. "Wir haben unten
ja nur drei Zimmer, und wenn uns wer besucht, so wissen wir nicht
aus noch ein. Meinst du nicht, dass man aus dem Saal zwei huebsche
Fremdenzimmer machen koennte? Das waere so was fuer die Mama; nach
hinten heraus koennte sie schlafen und haette den Blick auf den
Fluss und die beiden Molen, und vorn haette sie die Stadt und die
hollaendische Windmuehle. In Hohen-Cremmen haben wir noch immer bloss
eine Bockmuehle. Nun sage, was meinst du dazu? Naechsten Mai wird doch
die Mama wohl kommen."

Innstetten war mit allem einverstanden gewesen und hatte nur zum
Schluss gesagt: "Alles ganz gut. Aber es ist doch am Ende besser, wir
logieren die Mama drueben ein, auf dem Landratsamt; die ganze erste
Etage steht da leer, geradeso wie hier, und sie ist da noch mehr fuer
sich."

Das war so das Resultat des ersten Umgangs im Hause gewesen; dann
hatte Effi drueben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell, wie
Innstetten angenommen, und nun sass sie in ihres Gatten Zimmer und
beschaeftigte sich in ihren Gedanken abwechselnd mit dem kleinen
Chinesen oben und mit Gieshuebler, der noch immer nicht kam. Vor einer
Viertelstunde war freilich ein kleiner, schiefschultriger und fast
schon so gut wie verwachsener Herr in einem kurzen eleganten Pelzrock
und einem hohen, sehr glatt gebuersteten Zylinder an der anderen
Seite der Strasse vorbeigegangen und hatte nach ihrem Fenster
hinuebergesehen. Aber das konnte Gieshuebler wohl nicht gewesen
sein! Nein, dieser schiefschultrige Herr, der zugleich etwas so
Distinguiertes hatte, das musste der Herr Gerichtspraesident gewesen
sein, und sie entsann sich auch wirklich, in einer Gesellschaft bei
Tante Therese mal einen solchen gesehen zu haben, bis ihr mit einem
Male einfiel, dass Kessin bloss einen Amtsrichter habe.

Waehrend sie diesen Betrachtungen noch nachging, wurde der Gegenstand
derselben, der augenscheinlich erst eine Morgen- oder vielleicht auch
eine Ermutigungspromenade um die Plantage herum gemacht hatte, wieder
sichtbar, und eine Minute spaeter erschien Friedrich, um Apotheker
Gieshuebler anzumelden.

"Ich lasse sehr bitten."

Der armen jungen Frau schlug das Herz, weil es das erste Mal war, dass
sie sich als Hausfrau und noch dazu als erste Frau der Stadt zu zeigen
hatte.

Friedrich half Gieshuebler den Pelzrock ablegen und oeffnete dann
wieder die Tuer.

Effi reichte dem verlegen Eintretenden die Hand, die dieser mit einem
gewissen Ungestuem kuesste. Die junge Frau schien sofort einen grossen
Eindruck auf ihn gemacht zu haben.

"Mein Mann hat mir bereits gesagt ... Aber ich empfange Sie hier in
meines Mannes Zimmer ... er ist drueben auf dem Amt und kann jeden
Augenblick zurueck sein ... Darf ich Sie bitten, bei mir eintreten zu
wollen?"

Gieshuebler folgte der voranschreitenden Effi ins Nebenzimmer, wo
diese auf einen der Fauteuils wies, waehrend sie sich selbst ins Sofa
setzte. "Dass ich Ihnen sagen koennte, welche Freude Sie mir gestern
durch die schoenen Blumen und Ihre Karte gemacht haben. Ich hoerte
sofort auf, mich hier als eine Fremde zu fuehlen, und als ich dies
Innstetten aussprach, sagte er mir, wir wuerden ueberhaupt gute
Freunde sein."

"Sagte er so? Der gute Herr Landrat. Ja, der Herr Landrat und Sie,
meine gnaedigste Frau, da sind, das bitte ich sagen zu duerfen, zwei
liebe Menschen zueinander gekommen. Denn wie Ihr Herr Gemahl ist, das
weiss ich, und wie Sie sind, meine gnaedigste Frau, das sehe ich."

"Wenn Sie nur nicht mit zu freundlichen Augen sehen. Ich bin so sehr
jung. Und Jugend ..."

"Ach, meine gnaedigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die
Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schoen und liebenswuerdig,
und das Alter, auch in seinen Tugenden taugt es nicht viel.
Persoenlich kann ich in dieser Frage freilich nicht mitsprechen, vom
Alter wohl, aber von der Jugend nicht, denn ich bin eigentlich nie
jung gewesen. Personen meines Schlages sind nie jung. Ich darf wohl
sagen, das ist das traurigste von der Sache. Man hat keinen rechten
Mut, man hat kein Vertrauen zu sich selbst, man wagt kaum, eine Dame
zum Tanz aufzufordern, weil man ihr eine Verlegenheit ersparen will,
und so gehen die Jahre hin, und man wird alt, und das Leben war arm
und leer."

Effi gab ihm die Hand. "Ach, Sie duerfen so was nicht sagen. Wir
Frauen sind gar nicht so schlecht."

"O nein, gewiss nicht ..."

"Und wenn ich mir so zurueckrufe", fuhr Effi fort, "was ich alles
erlebt habe ... viel ist es nicht, denn ich bin wenig herausgekommen
und habe fast immer auf dem Lande gelebt ... aber wenn ich es mir
zurueckrufe, so finde ich doch, dass wir immer das lieben, was
liebenswert ist. Und dann sehe ich doch auch gleich, dass Sie anders
sind als andere, dafuer haben wir Frauen ein scharfes Auge. Vielleicht
ist es auch der Name, der in Ihrem Falle mitwirkt. Das war immer eine
Lieblingsbehauptung unseres alten Pastors Niemeyer; der Name, so
liebte er zu sagen, besonders der Taufname, habe was geheimnisvoll
Bestimmendes, und Alonzo Gieshuebler, so mein ich, schliesst eine ganz
neue Welt vor einem auf, ja, fast moecht ich sagen duerfen, Alonzo ist
ein romantischer Name, ein Preziosaname."

Gieshuebler laechelte mit einem ganz ungemeinen Behagen und fand den
Mut, seinen fuer seine Verhaeltnisse viel zu hohen Zylinder, den er
bis dahin in der Hand gedreht hatte, beiseite zu stellen. "Ja, meine
gnaedigste Frau, da treffen Sie's."

"Oh, ich verstehe. Ich habe von den Konsuln gehoert, deren Kessin so
viele haben soll, und in dem Hause des spanischen Konsuls hat Ihr
Herr Vater mutmasslich die Tochter eines seemaennischen Kapitanos
kennengelernt, wie ich annehme, irgendeine schoene Andalusierin.
Andalusierinnen sind immer schoen."

"Ganz wie Sie vermuten, meine Gnaedigste. Und meine Mutter war
wirklich eine schoene Frau, so schlecht es mir persoenlich zusteht,
die Beweisfuehrung zu uebernehmen. Aber als Ihr Herr Gemahl vor
drei Jahren hierherkam, lebte sie noch und hatte noch ganz die
Feueraugen. Er wird es mir bestaetigen. Ich persoenlich bin mehr ins
Gieshueblersche geschlagen, Leute von wenig Exterieur, aber sonst
leidlich im Stande. Wir sitzen hier schon in der vierten Generation,
volle hundert Jahre, und wenn es einen Apothekeradel gaebe..." 

"So wuerden Sie ihn beanspruchen duerfen. Und ich meinerseits nehme ihn
fuer bewiesen an und sogar fuer bewiesen ohne jede Einschraenkung. Uns
aus den alten Familien wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens
bin ich von meinem Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede
gute Gesinnung, sie komme, woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten
lassen. Ich bin eine geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der
am Tag vor der Fehrbelliner Schlacht den Ueberfall von Rathenow
ausfuehrte, wovon Sie vielleicht einmal gehoert haben..."

"O gewiss, meine Gnaedigste, das ist ja meine Spezialitaet." 

"Eine Briest also. Und mein Vater, da reichen keine hundert Male, dass
er zu mir gesagt hat: Effi (so heisse ich naemlich), Effi hier sitzt es,
bloss hier, und als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und
als Luther sagte, 'hier stehe ich', da war er erst recht von Adel. Und
ich denke, Herr Gieshuebler, Innstetten hatte ganz recht, als er mir
versicherte, wir wurden gute Freundschaft halten."

Gieshuebler haette nun am liebsten gleich eine Liebeserklaerung gemacht
und gebeten, dass er als Cid oder irgend sonst ein Campeador fuer sie
kaempfen und sterben koenne. Da dies alles aber nicht ging und sein Herz
es nicht mehr aushalten konnte, so stand er auf, suchte nach seinem Hut,
den er auch gluecklicherweise gleich fand, und zog sich, nach
wiederholtem Handkuss, rasch zurueck, ohne weiter ein Wort gesagt zu
haben.



Neuntes Kapitel

So war Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr noch
eine halbe Woche Zeit, sich einzurichten und die verschiedensten
Briefe nach Hohen-Cremmen zu schreiben, an die Mama, an Hulda und die
Zwillinge; dann aber hatten die Stadtbesuche begonnen, die zum Teil
(es regnete gerade so, dass man sich diese Ungewoehnlichkeit schon
gestatten konnte) in einer geschlossenen Kutsche gemacht wurden. Als
man damit fertig war, kam der Landadel an die Reihe. Das dauerte
laenger, da sich bei den meist grossen Entfernungen an jedem Tag
nur eine Visite machen liess. Zuerst war man bei den Borckes in
Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz und Kroschentin,
wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und den Grasenabbs den
pflichtschuldigen Besuch abstattete. Noch ein paar andere folgten,
unter denen auch der alte Baron von Gueldenklee auf Papenhagen war.
Der Eindruck, den Effi empfing, war ueberall derselbe: mittelmaessige
Menschen von meist zweifelhafter Liebenswuerdigkeit, die, waehrend
sie vorgaben, ueber Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen,
eigentlich nur Effis Toilette musterten, die von einigen als zu
praetentioes fuer eine so jugendliche Dame, von andern als zuwenig
dezent fuer eine Dame von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde.
Man merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn fuer Aeusserliches
und eine merkwuerdige Verlegenheit und Unsicherheit bei Beruehrung
grosser Fragen. In Rothenmoor bei den Borckes und dann auch bei den
Familien in Morgnitz und Dabergotz war sie fuer "rationalistisch
angekraenkelt", bei den Grasenabbs in Kroschentin aber rundweg fuer
eine "Atheistin" erklaert worden. Allerdings hatte die alte Frau von
Grasenabb, eine Sueddeutsche (geborene Stiefel von Stiefelstein),
einen schwachen Versuch gemacht, Effi wenigstens fuer den Deismus zu
retten; Sidonie von Grasenabb aber, eine dreiundvierzigjaehrige alte
Jungfer, war barsch dazwischengefahren: "Ich sage dir, Mutter, einfach
Atheistin, kein Zollbreit weniger, und dabei bleibt es", worauf
die Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter fuerchtete, klueglich
geschwiegen hatte.

Die ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen gedauert, und es war
am 2. Dezember, als man zu schon spaeter Stunde von dem letzten dieser
Besuche nach Kessin zurueckkehrte. Dieser letzte Besuch hatte den
Gueldenklees auf Papenhagen gegolten, bei welcher Gelegenheit
Innstetten dem Schicksal nicht entgangen war, mit dem alten
Gueldenklee politisieren zu muessen. "Ja, teuerster Landrat, wenn ich
so den Wechsel der Zeiten bedenke! Heute vor einem Menschenalter oder
ungefaehr so lange, ja, da war auch ein 2. Dezember, und der gute
Louis und Napoleonsneffe - wenn er so was war und nicht eigentlich
ganz woanders herstammte -, der kartaetschte damals auf die Pariser
Kanaille. Na, das mag ihm verziehen sein, fuer so was war er der
rechte Mann, und ich halte zu dem Satz: 'Jeder hat es gerade so
gut und so schlecht, wie er's verdient.' Aber dass er nachher alle
Schaetzung verlor und Anno siebzig so mir nichts, dir nichts auch mit
uns anbinden wollte, sehen Sie, Baron, das war, ja wie sag ich, das
war eine Insolenz. Es ist ihm aber auch heimgezahlt worden. Unser
Alter da oben laesst sich nicht spotten, der steht zu uns."

"Ja", sagte Innstetten, der klug genug war, auf solche Philistereien
anscheinend ernsthaft einzugehen, "der Held und Eroberer von
Saarbruecken wusste nicht, was er tat. Aber Sie duerfen nicht zu
streng mit ihm persoenlich abrechnen. Wer ist am Ende Herr in seinem
Hause? Niemand. Ich richte mich auch schon darauf ein, die Zuegel der
Regierung in andere Haende zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war
vollends ein Stueck Wachs in den Haenden seiner katholischen Frau,
oder sagen wir lieber, seiner jesuitischen Frau."

"Wachs in den Haenden seiner Frau, die ihm dann eine Nase drehte.
Natuerlich, Innstetten, das war er. Aber damit wollen Sie diese Puppe
doch nicht etwa retten? Er ist und bleibt gerichtet. An und fuer sich
ist es uebrigens noch gar nicht mal erwiesen", und sein Blick suchte
bei diesen Worten etwas aengstlich nach dem Auge seiner Ehehaelfte,
"ob nicht Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten kann; nur
freilich, die Frau muss danach sein. Aber wer war diese Frau? Sie war
ueberhaupt keine Frau, im guenstigsten Fall war sie eine Dame, das
sagt alles; 'Dame' hat beinah immer einen Beigeschmack. Diese Eugenie
- ueber deren Verhaeltnis zu dem juedischen Bankier ich hier gern
hingehe, denn ich hasse Tugendhochmut - hatte was vom Cafe chantant,
und wenn die Stadt, in der sie lebte, das Babel war, so war sie das
Weib von Babel. Ich mag mich nicht deutlicher ausdruecken, denn ich
weiss", und er verneigte sich gegen Effi, "was ich deutschen Frauen
schuldig bin. Um Vergebung, meine Gnaedigste, dass ich diese Dinge
vor Ihren Ohren ueberhaupt beruehrt habe." So war die Unterhaltung
gegangen, nachdem man vorher von Wahl, Nobiling und Raps gesprochen
hatte, und nun sassen Innstetten und Effi wieder daheim und plauderten
noch eine halbe Stunde. Die beiden Maedchen im Hause waren schon zu
Bett, denn es war nah an Mitternacht.

Innstetten, in kurzem Hausrock und Saffianschuhen, ging auf und ab;
Effi war noch in ihrer Gesellschaftstoilette; Faecher und Handschuhe
lagen neben ihr. "Ja", sagte Innstetten, waehrend er sein
Aufundabschreiten im Zimmer unterbrach, "diesen Tag muessten wir nun
wohl eigentlich feiern, und ich weiss nur noch nicht, womit. Soll
ich dir einen Siegesmarsch vorspielen oder den Haifisch draussen in
Bewegung setzen oder dich im Triumph ueber den Flur tragen? Etwas muss
doch geschehen, denn du musst wissen, das war nun heute die letzte
Visite."

"Gott sei Dank war sie's", sagte Effi. "Aber das Gefuehl, dass wir
nun Ruhe haben, ist, denk ich, gerade Feier genug. Nur einen Kuss
koenntest du mir geben. Aber daran denkst du nicht. Auf dem ganzen
weiten Weg nicht geruehrt, frostig wie ein Schneemann. Und immer nur
die Zigarre."

"Lass, ich werde mich schon bessern und will vorlaeufig nur wissen,
wie stehst du zu dieser ganzen Umgangs- und Verkehrsfrage? Fuehlst
du dich zu dem einen oder andern hingezogen? Haben die Borckes die
Grasenabbs geschlagen oder umgekehrt, oder haeltst du's mit dem alten
Gueldenklee? Was er da ueber die Eugenie sagte, machte doch einen sehr
edlen und reinen Eindruck."

"Ei, sieh, Herr von Innstetten, auch medisant! Ich lerne Sie von einer
ganz neuen Seite kennen."

"Und wenn's unser Adel nicht tut", fuhr Innstetten fort, ohne sich
stoeren zu lassen, "wie stehst du zu den Kessiner Stadthonoratioren?
Wie stehst du zur Ressource? Daran haengt doch am Ende Leben und
Sterben. Ich habe dich da neulich mit unserem reserveleutnantlichen
Amtsrichter sprechen sehen, einem zierlichen Maennchen, mit dem sich
vielleicht durchkommen liesse, wenn er nur endlich von der Vorstellung
loskoennte, die Wiedereroberung von Le Bourget durch sein Erscheinen
in der Flanke zustande gebracht zu haben. Und seine Frau! Sie gilt als
die beste Bostonspielerin und hat auch die huebschesten Anlegemarken.
Also nochmals, Effi, wie wird es werden in Kessin? Wirst du dich
einleben? Wirst du populaer werden und mir die Majoritaet sichern,
wenn ich in den Reichstag will? Oder bist du fuer Einsiedlertum, fuer
Abschluss von der Kessiner Menschheit, so Stadt wie Land?"

"Ich werde mich wohl fuer Einsiedlertum entschliessen, wenn mich
die Mohrenapotheke nicht herausreisst. Bei Sidonie werd ich dadurch
freilich noch etwas tiefer sinken, aber darauf muss ich es ankommen
lassen; dieser Kampf muss eben gekaempft werden. Ich steh und falle
mit Gieshuebler. Es klingt etwas komisch, aber er ist wirklich der
einzige, mit dem sich ein Wort reden laesst, der einzige richtige
Mensch hier."

"Das ist er", sagte Innstetten. "Wie gut du zu waehlen verstehst."

"Haette ich sonst dich?" sagte Effi und haengte sich an seinen Arm.

Das war am 2. Dezember. Eine Woche spaeter war Bismarck in Varzin,
und nun wusste Innstetten, dass bis Weihnachten, und vielleicht noch
darueber hinaus, an ruhige Tage fuer ihn gar nicht mehr zu denken sei.
Der Fuerst hatte noch von Versailles her eine Vorliebe fuer ihn und
lud ihn, wenn Besuch da war, haeufig zu Tisch, aber auch allein, denn
der jugendliche, durch Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete
Landrat stand ebenso in Gunst bei der Fuerstin.

Zum 14. erfolgte die erste Einladung. Es lag Schnee, weshalb
Innstetten die fast zweistuendige Fahrt bis an den Bahnhof, von wo
noch eine Stunde Eisenbahn war, im Schlitten zu machen vorhatte.
"Warte nicht auf mich, Effi. Vor Mitternacht kann ich nicht zurueck
sein; wahrscheinlich wird es zwei oder noch spaeter. Ich stoere dich
aber nicht. Gehab dich wohl, und auf Wiedersehen morgen frueh." Und
damit stieg er ein, und die beiden isabellfarbenen Graditzer jagten im
Fluge durch die Stadt hin und dann landeinwaerts auf den Bahnhof zu.

Das war die erste lange Trennung, fast auf zwoelf Stunden. Arme
Effi. Wie sollte sie den Abend verbringen? Frueh zu Bett, das war
gefaehrlich, dann wachte sie auf und konnte nicht wieder einschlafen
und horchte auf alles. Nein, erst recht muede werden und dann ein
fester Schlaf, das war das beste. Sie schrieb einen Brief an die Mama
und ging dann zu Frau Kruse, deren gemuetskranker Zustand - sie hatte
das schwarze Huhn oft bis in die Nacht hinein auf ihrem Schoss - ihr
Teilnahme einfloesste. Die Freundlichkeit indessen, die sich darin
aussprach, wurde von der in ihrer ueberheizten Stube sitzenden und
nur still und stumm vor sich hinbruetenden Frau keinen Augenblick
erwidert, weshalb Effi, als sie wahrnahm, dass ihr Besuch mehr als
Stoerung wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und nur noch
fragte, ob die Kranke etwas haben wolle. Diese lehnte aber alles ab.

Inzwischen war es Abend geworden, und die Lampe brannte schon. Effi
stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Waeldchen
hinaus, auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war von dem
Bilde ganz in Anspruch genommen und kuemmerte sich nicht um das, was
hinter ihr in dem Zimmer vorging. Als sie sich wieder umsah, bemerkte
sie, dass Friedrich still und geraeuschlos ein Kuvert gelegt und ein
Kabarett auf den Sofatisch gestellt hatte. "Ja so, Abendbrot ...
Da werd ich mich nun wohl setzen muessen." Aber es wollte nicht
schmecken, und so stand sie wieder auf und las den an die Mama
geschriebenen Brief noch einmal durch. Hatte sie schon vorher ein
Gefuehl der Einsamkeit gehabt, so jetzt doppelt. Was haette sie darum
gegeben, wenn die beiden Jahnkeschen Rotkoepfe jetzt eingetreten
waeren oder selbst Hulda. Die war freilich immer so sentimental und
beschaeftigte sich meist nur mit ihren Triumphen; aber so zweifelhaft
und anfechtbar diese Triumphe waren, sie haette sich in diesem
Augenblick doch gern davon erzaehlen lassen. Schliesslich klappte sie
den Fluegel auf, um zu spielen; aber es ging nicht. "Nein, dabei werd
ich vollends melancholisch; lieber lesen." Und so suchte sie nach
einem Buch. Das erste, was ihr zu Haenden kam, war ein dickes rotes
Reisehandbuch, alter Jahrgang, vielleicht schon aus Innstettens
Leutnantstagen her. "Ja, darin will ich lesen; es gibt nichts
Beruhigenderes als solche Buecher. Das Gefaehrliche sind bloss immer
die Karten; aber vor diesem Augenpulver, das ich hasse, werd ich mich
schon hueten." Und so schlug sie denn auf gut Glueck auf: Seite 153.
Nebenan hoerte sie das Ticktack der Uhr und draussen Rollo, der, seit
es dunkel war, seinen Platz in der Remise aufgegeben und sich, wie
jeden Abend, so auch heute wieder, auf die grosse geflochtene Matte,
die vor dem Schlafzimmer lag, ausgestreckt hatte. Das Bewusstsein
seiner Naehe minderte das Gefuehl ihrer Verlassenheit, ja, sie kam
fast in Stimmung, und so begann sie denn auch unverzueglich zu lesen.
Auf der gerade vor ihr aufgeschlagenen Seite war von der "Eremitage",
dem bekannten markgraeflichen Lustschloss in der Naehe von Bayreuth,
die Rede; das lockte sie, Bayreuth, Richard Wagner, und so las sie
denn: Unter den Bildern in der Eremitage nennen wir noch eins, das
nicht durch seine Schoenheit, wohl aber durch sein Alter und durch die
Person, die es darstellt, ein Interesse beansprucht. Es ist dies ein
stark nachgedunkeltes Frauenportraet, kleiner Kopf, mit herben, etwas
unheimlichen Gesichtszuegen und einer Halskrause, die den Kopf zu
tragen scheint. Einige meinen, es sei eine alte Markgraefin aus dem
Ende des fuenfzehnten Jahrhunderts, andere sind der Ansicht, es sei
die Graefin von Orlamuende; darin aber sind beide einig, dass es das
Bildnis der Dame sei, die seither in der Geschichte der Hohenzollern
unter dem Namen der "weissen Frau" eine gewisse Beruehmtheit erlangt
hat.

"Das hab ich gut getroffen", sagte Effi, waehrend sie das Buch
beiseite schob; "ich will mir die Nerven beruhigen, und das erste, was
ich lese, ist die Geschichte von der 'weissen Frau', vor der ich mich
gefuerchtet habe, solange ich denken kann. Aber da nun das Gruseln mal
da ist, will ich doch auch zu Ende lesen."

Und sie schlug wieder auf und las weiter: ... Ebendies alte Portraet
(dessen Original in der Hohenzollernschen Familiengeschichte solche
Rolle spielt) spielt als Bild auch eine Rolle in der Spezialgeschichte
des Schlosses Eremitage, was wohl damit zusammenhaengt, dass es an
einer dem Fremden unsichtbaren Tapetentuer haengt, hinter der sich
eine vom Souterrain her hinauffuehrende Treppe befindet. Es heisst,
dass, als Napoleon hier uebernachtete, die "weisse Frau" aus dem
Rahmen herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten sei. Der Kaiser,
entsetzt auffahrend, habe nach seinem Adjutanten gerufen und bis
an sein Lebensende mit Entruestung von diesem "maudit chateau"
gesprochen.

"Ich muss es aufgeben, mich durch Lektuere beruhigen zu wollen",
sagte Effi. "Lese ich weiter, so komm ich gewiss noch nach einem
Kellergewoelbe, wo der Teufel auf einem Weinfass davongeritten ist.
Es gibt, glaub ich, in Deutschland viel dergleichen, und in einem
Reisehandbuch muss es sich natuerlich alles zusammenfinden. Ich will
also lieber wieder die Augen schliessen und mir, so gut es geht,
meinen Polterabend vorstellen: die Zwillinge, wie sie vor Traenen
nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter Briest, der, als sich alles
verlegen anblickte, mit erstaunlicher Wuerde behauptete, solche
Traenen oeffneten einem das Paradies. Er war wirklich scharmant und
immer so uebermuetig ... Und nun ich! Und gerade hier. Ach, ich
tauge doch gar nicht fuer eine grosse Dame. Die Mama, ja, die haette
hierhergepasst, die haette, wie's einer Landraetin zukommt, den Ton
angegeben, und Sidonie Grasenabb waere ganz Huldigung gegen sie
gewesen und haette sich ueber ihren Glauben oder Unglauben nicht
gross beunruhigt. Aber ich ... ich bin ein Kind und werd es auch wohl
bleiben. Einmal hab ich gehoert, das sei ein Glueck. Aber ich weiss
doch nicht, ob das wahr ist. Man muss doch immer dahin passen, wohin
man nun mal gestellt ist." In diesem Augenblick kam Friedrich, um den
Tisch abzuraeumen. "Wie spaet ist es, Friedrich?"

"Es geht auf neun, gnaed'ge Frau."

"Nun, das laesst sich hoeren. Schicken Sie mir Johanna."

"Gnaed'ge Frau haben befohlen."

"Ja, Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es ist eigentlich noch frueh.
Aber ich bin so allein. Bitte, tun Sie den Brief erst ein, und wenn
Sie wieder da sind, nun, dann wird es wohl Zeit sein. Und wenn auch
nicht."

Effi nahm die Lampe und ging in ihr Schlafzimmer hinueber. Richtig,
auf der Binsenmatte lag Rollo. Als er Effi kommen sah, erhob er sich,
um den Platz freizugeben, und strich mit seinem Behang an ihrer Hand
hin. Dann legte er sich wieder nieder.

Johanna war inzwischen nach dem Landratsamt hinuebergegangen, um
da den Brief einzustecken. Sie hatte sich drueben nicht sonderlich
beeilt, vielmehr vorgezogen, mit der Frau Paaschen, des Amtsdieners
Frau, ein Gespraech zu fuehren. Natuerlich ueber die junge Frau.

"Wie ist sie denn?" fragte die Paaschen.

"Sehr jung ist sie."

"Nun, das ist kein Unglueck, eher umgekehrt. Die Jungen, und das ist
eben das Gute, stehen immer bloss vorm Spiegel und zupfen und stecken
sich was vor und sehen nicht viel und hoeren nicht viel und sind noch
nicht so, dass sie draussen immer die Lichtstuempfe zaehlen und einem
nicht goennen, dass man einen Kuss kriegt, bloss weil sie selber
keinen mehr kriegen."

"Ja", sagte Johanna, "so war meine vorige Madam, und ganz ohne Not.
Aber davon hat unsere Gnaed'ge nichts."

"Ist er denn sehr zaertlich?"

"Oh, sehr. Das koennen Sie doch wohl denken." "Aber dass er sie so
allein laesst ..."

"Ja, liebe Paaschen, Sie duerfen nicht vergessen ... der Fuerst. Und
dann, er ist ja doch am Ende Landrat. Und vielleicht will er auch noch
hoeher."

"Gewiss will er. Und er wird auch noch. Er hat so was. Paaschen sagt
es auch immer, und er kennt seine Leute."

Waehrend dieses Ganges drueben nach dem Amt hinueber war wohl eine
Viertelstunde vergangen, und als Johanna wieder zurueck war, sass
Effi schon vor dem Trumeau und wartete. "Sie sind lange geblieben,
Johanna."

"Ja, gnaed'ge Frau ... Gnaed'ge Frau wollen entschuldigen ... Ich traf
drueben die Frau Paaschen, und da hab ich mich ein wenig verweilt. Es
ist so still hier. Man ist immer froh, wenn man einen Menschen trifft,
mit dem man ein Wort sprechen kann. Christel ist eine sehr gute
Person, aber sie spricht nicht, und Friedrich ist so dusig und auch so
vorsichtig und will mit der Sprache nie recht heraus. Gewiss, man muss
auch schweigen koennen, und die Paaschen, die so neugierig und so ganz
gewoehnlich ist, ist eigentlich gar nicht nach meinem Geschmack; aber
man hat es doch gern, wenn man mal was hoert und sieht."

Effi seufzte. "Ja, Johanna, das ist auch das beste ..."

"Gnaed'ge Frau haben so schoenes Haar, so lang und so seidenweich."

"Ja, es ist sehr weich. Aber das ist nicht gut, Johanna. Wie das Haar
ist, ist der Charakter."

"Gewiss, gnaed'ge Frau. Und ein weicher Charakter ist doch besser als
ein harter. Ich habe auch weiches Haar."

"Ja, Johanna. Und Sie haben auch blondes. Das haben die Maenner am
liebsten."

"Ach, das ist doch sehr verschieden, gnaed'ge Frau. Manche sind doch
auch fuer das schwarze."

"Freilich", lachte Effi, "das habe ich auch schon gefunden. Es wird
wohl an was anderem liegen. Aber die, die blond sind, die haben auch
immer einen weissen Teint, Sie auch, Johanna, und ich moechte mich
wohl verwetten, dass Sie viel Nachstellung haben. Ich bin noch sehr
jung, aber das weiss ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin,
die war auch so blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie, und war
eine Predigertochter ..."

"Ja, denn ..."

"Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 'ja denn'? Das klingt
ja ganz anzueglich und sonderbar, und Sie werden doch nichts gegen
Predigerstoechter haben ... Es war ein sehr huebsches Maedchen, was
selbst unsere Offiziere - wir hatten naemlich Offiziere, noch dazu
rote Husaren - auch immer fanden, und verstand sich dabei sehr gut
auf Toilette, schwarzes Sammetmieder und eine Blume, Rose oder auch
Heliotrop, und wenn sie nicht so vorstehende grosse Augen gehabt
haette ... ach, die haetten Sie sehen sollen, Johanna, wenigstens so
gross (und Effi zog unter Lachen an ihrem rechten Augenlid), so waere
sie geradezu eine Schoenheit gewesen. Sie hiess Hulda, Hulda Niemeyer,
und wir waren nicht einmal so ganz intim; aber wenn ich sie jetzt hier
haette und sie da saesse, da in der kleinen Sofaecke, so wollte ich
bis Mitternacht mit ihr plaudern oder noch laenger. Ich habe solche
Sehnsucht, und...", und dabei zog sie Johannas Kopf dicht an sich
heran, "... ich habe solche Angst."

"Ach, das gibt sich, gnaed'ge Frau, die hatten wir alle." "Die hattet
ihr alle? Was soll das heissen, Johanna?"

"... Und wenn die gnaed'ge Frau wirklich solche Angst haben, so kann
ich mir ja ein Lager hier machen. Ich nehme die Strohmatte und kehre
einen Stuhl um, dass ich eine Kopflehne habe, und dann schlafe ich
hier, bis morgen frueh oder bis der gnaed'ge Herr wieder da ist."

"Er will mich nicht stoeren. Das hat er mir eigens versprochen."

"Oder ich setze mich bloss in die Sofaecke."

"Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht. Der Herr
darf nicht wissen, dass ich mich aengstige, das liebt er nicht. Er
will immer, dass ich tapfer und entschlossen bin, so wie er. Und das
kann ich nicht; ich war immer etwas anfaellig ... Aber freilich, ich
sehe wohl ein, ich muss mich bezwingen und ihm in solchen Stuecken und
ueberhaupt zu Willen sein ... Und dann habe ich ja auch Rollo. Der
liegt ja vor der Tuerschwelle."

Johanna nickte zu jedem Wort und zuendete dann das Licht an, das auf
Effis Nachttisch stand. Dann nahm sie die Lampe. "Befehlen gnaed'ge
Frau noch etwas?"

"Nein, Johanna. Die Laeden sind doch fest geschlossen?" "Bloss
angelegt, gnaed'ge Frau. Es ist sonst so dunkel und so stickig."

"Gut, gut."

Und nun entfernte sich Johanna; Effi aber ging auf ihr Bett zu und
wickelte sich in ihre Decken.

Sie liess das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht gleich
einzuschlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend,
so jetzt ihre Hochzeitsreise zu rekapitulieren und alles an sich
vorueberziehen zu lassen. Aber es kam anders, wie sie gedacht, und
als sie bis Verona war und nach dem Hause der Julia Capulet suchte,
fielen ihr schon die Augen zu. Das Stuempfchen Licht in dem kleinen
Silberleuchter brannte allmaehlich nieder, und nun flackerte es noch
einmal auf und erlosch. Effi schlief eine Weile ganz fest. Aber mit
einem Male fuhr sie mit einem lauten Schrei aus ihrem Schlaf auf, ja,
sie hoerte selber noch den Aufschrei und auch, wie Rollo draussen
anschlug - "wau, wau", klang es den Flur entlang, dumpf und selber
beinahe aengstlich. Ihr war, als ob ihr das Herz stillstaende; sie
konnte nicht rufen, und in diesem Augenblick huschte was an ihr
vorbei, und die nach dem Flur hinausfuehrende Tuer sprang auf. Aber
ebendieser Moment hoechster Angst war auch der ihrer Befreiung, denn
statt etwas Schrecklichem kam jetzt Rollo auf sie zu, suchte mit
seinem Kopf nach ihrer Hand und legte sich, als er diese gefunden,
auf den vor ihrem Bett ausgebreiteten Teppich nieder. Effi selber
aber hatte mit der anderen Hand dreimal auf den Knopf der Klingel
gedrueckt, und keine halbe Minute, so war Johanna da, barfuessig,
den Rock ueber dem Arm und ein grosses kariertes Tuch ueber Kopf und
Schulter geschlagen. "Gott sei Dank, Johanna, dass Sie da sind."

"Was war denn, gnaed'ge Frau? Gnaed'ge Frau haben getraeumt."

"Ja, getraeumt. Es muss so was gewesen sein ... aber es war doch auch
noch was anderes." - "Was denn, gnaed'ge Frau?" "Ich schlief ganz
fest, und mit einem Male fuhr ich auf und schrie ... vielleicht, dass
es ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie, mein Papa hat
es auch und aengstigt uns damit, und nur die Mama sagt immer, er solle
sich nicht so gehenlassen; aber das ist leicht gesagt ... Ich fuhr
also auf aus dem Schlaf und schrie, und als ich mich umsah, so gut es
eben ging in dem Dunkel, da strich was an meinem Bett vorbei, gerade
da, wo Sie jetzt stehen, Johanna, und dann war es weg. Und wenn ich
mich recht frage, was es war ...""Nun, was denn, gnaed'ge Frau?"

"Und wenn ich mich recht frage ... ich mag es nicht sagen, Johanna ...
aber ich glaube, der Chinese."

"Der von oben?" Und Johanna versuchte zu lachen. "Unser kleiner
Chinese, den wir an die Stuhllehne geklebt haben, Christel und ich?
Ach, gnaed'ge Frau haben getraeumt, und wenn Sie schon wach waren, so
war es doch alles noch aus dem Traum."

"Ich wuerd es glauben. Aber es war genau derselbe Augenblick, wo Rollo
draussen anschlug, der muss es also auch gesehen haben, und dann flog
die Tuer auf, und das gute, treue Tier sprang auf mich los, als ob es
mich zu retten kaeme. Ach, meine liebe Johanna, es war entsetzlich.
Und ich so allein und so jung. Ach, wenn ich doch wen hier haette, bei
dem ich weinen koennte. Aber so weit von Hause ... Ach, von Hause ..."
"Der Herr kann jede Stunde kommen."

"Nein, er soll nicht kommen; er soll mich nicht so sehen. Er wuerde
mich vielleicht auslachen, und das koennt ich ihm nie verzeihen. Denn
es war so furchtbar, Johanna ... Sie muessen nun hierbleiben ... Aber
lassen Sie Christel schlafen und Friedrich auch. Es soll es keiner
wissen."

"Oder vielleicht kann ich auch die Frau Kruse holen; die schlaeft doch
nicht, die sitzt die ganze Nacht da."

"Nein, nein, die ist selber so was. Das mit dem schwarzen Huhn, das
ist auch sowas; die darf nicht kommen. Nein, Johanna, Sie bleiben
allein hier. Und wie gut, dass Sie die Laeden nur angelegt. Stossen
Sie sie auf, recht laut, dass ich einen Ton hoere, einen menschlichen
Ton ... ich muss es so nennen, wenn es auch sonderbar klingt ... und
dann machen Sie das Fenster ein wenig auf, dass ich Luft und Licht
habe." Johanna tat, wie ihr geheissen, und Effi fiel in ihre Kissen
zurueck und bald danach in einen lethargischen Schlaf.



Zehntes Kapitel

Innstetten war erst sechs Uhr frueh von Varzin zurueckgekommen und
hatte sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie moeglich in
sein Zimmer zurueckgezogen. Er machte sich's hier bequem und duldete
nur, dass ihn Friedrich mit einer Reisedecke zudeckte.

"Wecke mich um neun!"

Und um diese Stunde war er denn auch geweckt worden. Er stand rasch
auf und sagte: "Bring das Fruehstueck!"

"Die gnaedige Frau schlaeft noch."

"Aber es ist ja schon spaet. Ist etwas passiert?"

"Ich weiss es nicht; ich weiss nur, Johanna hat die Nacht ueber im
Zimmer der gnaedigen Frau schlafen muessen."

"Nun, dann schicke Johanna."

Diese kam denn auch. Sie hatte denselben rosigen Teint wie immer,
schien sich also die Vorgaenge der Nacht nicht sonderlich zu Gemuete
genommen zu haben.

"Was ist das mit der gnaed'gen Frau? Friedrich sagt mir, es Sei was
passiert und Sie haetten drueben geschlafen."

"Ja, Herr Baron. Gnaed'ge Frau klingelte dreimal ganz rasch
hintereinander, dass ich gleich dachte, es bedeutet was. Und so war es
auch. Sie hat wohl getraeumt, aber vielleicht war es auch das andere."

"Welches andere?"

"Ach, der gnaed'ge Herr wissen ja."

"Ich weiss nichts. Jedenfalls muss ein Ende damit gemacht werden. Und
wie fanden Sie die Frau?"

"Sie war wie ausser sich und hielt das Halsband von Rollo, der neben
dem Bett der gnaed'gen Frau stand, fest umklammert. Und das Tier
aengstigte sich auch."

"Und was hatte sie getraeumt oder meinetwegen auch, was hatte sie
gehoert oder gesehen? Was sagte sie?"

"Es sei so hingeschlichen, dicht an ihr vorbei." "Was? Wer?"

"Der von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen Kammer."

"Unsinn, sag ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag davon nicht
mehr hoeren. Und dann blieben Sie bei der Frau?"

"Ja, gnaed'ger Herr. Ich machte mir ein Lager an der Erde dicht neben
ihr. Und ich musste ihre Hand halten, und dann schlief sie ein."

"Und sie schlaeft noch?" "Ganz fest."

"Das ist mir aengstlich, Johanna. Man kann sich gesund schlafen, aber
auch krank. Wir muessen sie wecken, natuerlich vorsichtig, dass sie
nicht wieder erschrickt. Und Friedrich soll das Fruehstueck nicht
bringen; ich will warten, bis die gnaed'ge Frau da ist. Und machen
Sie's geschickt."

Eine halbe Stunde spaeter kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz blass,
und stuetzte sich auf Johanna. Als sie aber Innstettens ansichtig
wurde, stuerzte sie auf ihn zu und umarmte und kuesste ihn. Und dabei
liefen ihr die Traenen uebers Gesicht. "Ach, Geert, Gott sei Dank,
dass du da bist. Nun ist alles wieder gut. Du darfst nicht wieder
fort, du darfst mich nicht wieder allein lassen."

"Meine liebe Effi ... Stellen Sie hin, Friedrich, ich werde schon
alles zurechtmachen ... Meine liebe Effi, ich lasse dich ja nicht
allein aus Ruecksichtslosigkeit oder Laune, sondern weil es so sein
muss; ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienst, ich kann zum
Fuersten oder auch zur Fuerstin nicht sagen: Durchlaucht, ich kann
nicht kommen, meine Frau ist so allein, oder meine Frau fuerchtet
sich. Wenn ich das sagte, wuerden wir in einem ziemlich komischen
Licht dastehen, ich gewiss und du auch. Aber nimm erst eine Tasse
Kaffee."

Effi trank, was sie sichtlich belebte. Dann ergriff sie wieder ihres
Mannes Hand und sagte: "Du sollst recht haben; ich sehe ein, das geht
nicht. Und dann wollen wir ja auch hoeher hinauf. Ich sage wir, denn
ich bin eigentlich begieriger danach als du ..."

"So sind alle Frauen", lachte Innstetten.

"Also abgemacht; du nimmst die Einladungen an nach wie vor, und ich
bleibe hier und warte auf meinen 'hohen Herrn', wobei mir Hulda unterm
Holunderbaum einfaellt. Wie's ihr wohl gehen mag?"

"Damen wie Hulda geht es immer gut. Aber was wolltest du noch sagen?"

"Ich wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn es sein muss.
Aber nicht in diesem Hause. Lass uns die Wohnung wechseln. Es gibt so
huebsche Haeuser am Bollwerk, eins zwischen Konsul Martens und Konsul
Gruetzmacher und eins am Markt, gerade gegenueber von Gieshuebler;
warum koennen wir da nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn
wir Freunde und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehoert, dass in
Berlin Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben
oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher
Kleinigkeiten willen geschieht ..."

"Kleinigkeiten? Portiersfrau? Das sage nicht ..."

"Wenn das um solcher Dinge willen moeglich ist, so muss es doch auch
hier moeglich sein, wo du Landrat bist und die Leute dir zu Willen
sind und viele selbst zu Dank verpflichtet. Gieshuebler wuerde uns
gewiss dabei behilflich sein, wenn auch nur um meinetwegen, denn er
wird Mitleid mit mir haben. Und nun sage, Geert, wollen wir dies
verwunschene Haus aufgeben, dies Haus mit dem ..."

"... Chinesen, willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann das
furchtbare Wort aussprechen, ohne dass er erscheint. Was du da gesehen
hast oder was da, wie du meinst, an deinem Bett vorueberschlich,
das war der kleine Chinese, den die Maedchen oben an die Stuhllehne
geklebt haben; ich wette, dass er einen blauen Rock anhatte und einen
ganz flachen Deckelhut mit einem blanken Knopf oben."

Sie nickte.

"Nun, siehst du, Traum, Sinnestaeuschung. Und dann wird dir Johanna
wohl gestern abend was erzaehlt haben, von der Hochzeit hier oben ..."

"Nein."

"Desto besser."

"Kein Wort hat sie mir erzaehlt. Aber ich sehe doch aus dem allen,
dass es hier etwas Sonderbares gibt. Und dann das Krokodil; es ist
alles so unheimlich."

"Den ersten Abend, als du das Krokodil sahst, fandest du's
maerchenhaft ..."

"Ja, damals ..."

"... Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn es
moeglich waere, das Haus zu verkaufen oder einen Tausch zu machen. Es
ist damit ganz wie mit einer Absage nach Varzin hin. Ich kann hier in
der Stadt die Leute nicht sagen lassen, Landrat Innstetten verkauft
sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten kleinen Chinesen als Spuk
an ihrem Bett gesehen hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von solcher
Laecherlichkeit kann man sich nie wieder erholen."

"Ja, Geert, bist du denn so sicher, dass es so was nicht gibt?" "Will
ich nicht behaupten. Es ist eine Sache, die man glauben und noch
besser nicht glauben kann. Aber angenommen, es gaebe dergleichen,
was schadet es? Dass in der Luft Bazillen herumfliegen, von denen du
gehoert haben wirst, ist viel schlimmer und gefaehrlicher als diese
ganze Geistertummelage. Vorausgesetzt, dass sie sich tummeln, dass so
was wirklich existiert. Und dann bin ich ueberrascht, solcher Furcht
und Abneigung gerade bei dir zu begegnen, bei einer Briest Das ist ja,
wie wenn du aus einem kleinen Buergerhause stammtest. Spuk ist ein
Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne Familien, die
sich ebensogern ihr Wappen nehmen liessen als ihre 'weisse Frau', die
natuerlich auch eine schwarze sein kann."

Effi schwieg.

"Nun, Effi. Keine Antwort?"

"Was soll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und mich willig
gezeigt, aber ich finde doch, dass du deinerseits teilnahmsvoller sein
koenntest. Wenn du wuesstest, wie mir gerade danach verlangt. Ich habe
sehr gelitten, wirklich sehr, und als ich dich sah, da dacht ich, nun
wuerd ich frei werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloss, dass
du nicht Lust haettest, dich laecherlich zu machen, nicht vor dem
Fuersten und auch nicht vor der Stadt. Das ist ein geringer Trost. Ich
finde es wenig und um so weniger, als du dir schliesslich auch noch
widersprichst und nicht bloss persoenlich an diese Dinge zu glauben
scheinst, sondern auch noch einen adligen Spukstolz von mir forderst.
Nun, den hab ich nicht. Und wenn du von Familien sprichst, denen ihr
Spuk soviel wert sei wie ihr Wappen, so ist das Geschmackssache: Mir
gilt mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben wir Briests keinen Spuk.
Die Briests waren immer sehr gute Leute, und damit haengt es wohl
zusammen."

Der Streit haette wohl noch angedauert und vielleicht zu einer ersten
ernstlichen Verstimmung gefuehrt, wenn Friedrich nicht eingetreten
waere, um der gnaedigen Frau einen Brief zu uebergeben. "Von Herrn
Gieshuebler. Der Bote wartet auf Antwort."

Aller Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloss
Gieshueblers Namen zu hoeren tat Effi wohl, und ihr Wohlgefuehl
steigerte sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunaechst war es
gar kein Brief, sondern ein Billett, die Adresse "Frau Baronin von
Innstetten, geb. von Briest" in wundervoller Kanzleihandschrift und
statt des Siegels ein aufgeklebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin
ein Stab steckte. Dieser Stab konnte aber auch ein Pfeil sein. Sie
reichte das Billett ihrem Mann, der es ebenfalls bewunderte. "Nun lies
aber."

Und nun loeste Effi die Oblate und las: "Hochverehrteste Frau,
gnaedigste Frau Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten
Vormittagsgruss eine ganz gehorsamste Bitte hinzufuegen zu duerfen.
Mit dem Mittagszug wird eine vieljaehrige liebe Freundin von mir, eine
Tochter unserer Guten Stadt Kessin, Fraeulein Marietta Trippelli, hier
eintreffen und bis morgen frueh unter uns weilen. Am 17. will sie in
Petersburg sein, um daselbst bis Mitte Januar zu konzertieren. Fuerst
Kotschukoff oeffnet ihr auch diesmal wieder sein gastliches Haus. In
ihrer immer gleichen Guete gegen mich hat die Trippelli mir zugesagt,
den heutigen Abend bei mir zubringen und einige Lieder ganz nach
meiner Wahl (denn sie kennt keine Schwierigkeiten) vortragen zu
wollen. Koennten sich Frau Baronin dazu verstehen, diesem Musikabend
beizuwohnen? Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf dessen Erscheinen ich
mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste Bitte unterstuetzen.
Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet) und natuerlich die
verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzueglicher Ergebenheit A.
Gieshuebler."

"Nun -", sagte Innstetten, "ja oder nein?"

"Natuerlich ja. Das wird mich herausreissen. Und dann kann ich doch
meinem lieben Gieshuebler nicht gleich bei seiner ersten Einladung
einen Korb geben."

"Einverstanden. Also Friedrich, sagen Sie Mirambo, der doch wohl das
Billett gebracht haben wird, wir wuerden die Ehre haben." Friedrich
ging.

Als er fort war, fragte Effi: "Wer ist Mirambo?"

"Der echte Mirambo ist Raeuberhauptmann in Afrika -Tanganjika-See,
wenn deine Geographie so weit reicht -, unserer aber ist bloss
Gieshueblers Kohlenprovisor und Faktotum und wird heute abend in Frack
und baumwollenen Handschuhen sehr wahrscheinlich aufwarten."

Es war ganz ersichtlich, dass der kleine Zwischenfall auf Effi
guenstig eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit
zurueckgegeben hatte, Innstetten aber wollte das Seine tun, diese
Rekonvaleszens zu steigern. "Ich freue mich, dass du ja gesagt hast
und so rasch und ohne Besinnen, und nun moecht ich dir noch einen
Vorschlag machen, um dich ganz wieder in Ordnung zu bringen. Ich sehe
wohl, es schleicht dir von der Nacht her etwas nach, das zu meiner
Effi nicht passt, das durchaus wieder fort muss, und dazu gibt es
nichts Besseres als frische Luft. Das Wetter ist prachtvoll, frisch
und milde zugleich, kaum dass ein Lueftchen geht; was meinst du, wenn
wir eine Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloss so durch
die Plantage hin, und natuerlich im Schlitten und das Gelaeut auf und
die weissen Schneedecken, und wenn wir dann um vier zurueck sind, dann
ruhst du dich aus, und um sieben sind wir bei Gieshuebler und hoeren
die Trippelli."

Effi nahm seine Hand. "Wie gut du bist, Geert, und wie nachsichtig.
Denn ich muss dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich
vorgekommen sein; erst das mit meiner Angst und dann hinterher, dass
ich dir einen Hausverkauf, und was noch schlimmer ist, das mit dem
Fuersten ansinne. Du sollst ihm den Stuhl vor die Tuer setzen - es
ist zum Lachen. Denn schliesslich ist er doch der Mann, der ueber uns
entscheidet. Auch ueber mich. Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich
bin. Ich habe dich eigentlich bloss aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du
musst nicht solch ernstes Gesicht dabei machen. Ich liebe dich ja ...
wie heisst es doch, wenn man einen Zweig abbricht und die Blaetter
abreisst? Von Herzen mit Schmerzen, ueber alle Massen."

Und sie lachte hell auf. "Und nun sage mir", fuhr sie fort, als
Innstetten noch immer schwieg, wo soll es hingehen?" "Ich habe mir
gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem Umweg, und dann auf der
Chaussee zurueck. Und auf der Station essen wir oder noch besser bei
Golchowski, in dem Gasthof 'Zum Fuersten Bismarck', dran wir, wenn du
dich vielleicht erinnerst, am Tag unserer Ankunft vorueberkamen. Solch
Vorsprechen wirkt immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten von
Effis Gnaden ein Wahlgespraech, und wenn er auch persoenlich nicht
viel taugt, seine Wirtschaft haelt er in Ordnung und seine Kueche noch
besser. Auf Essen und Trinken verstehen sich die Leute hier."

Es war gegen elf, dass sie dies Gespraech fuehrten. Um zwoelf hielt
Kruse mit dem Schlitten vor der Tuer, und Effi stieg ein. Johanna
wollte Fusssack und Pelze bringen, aber Effi hatte nach allem, was
noch auf ihr lag, so sehr das Beduerfnis nach frischer Luft, dass sie
alles zurueckwies und nur eine doppelte Decke nahm. Innstetten aber
sagte zu Kruse: "Kruse, wir wollen nun also nach dem Bahnhof, wo wir
zwei beide heute frueh schon mal waren. Die Leute werden sich wundern,
aber es schadet nichts. Ich denke, wir fahren hier an der Plantage
entlang und dann links auf den Kroschentiner Kirchturm zu. Lassen Sie
die Pferde laufen. Um eins muessen wir am Bahnhof sein."

Und so ging die Fahrt. Ueber den weissen Daechern der Stadt stand der
Rauch, denn die Luftbewegung war gering. Auch Utpatels Muehle drehte
sich nur langsam, und im Fluge fuhren sie daran vorueber, dicht
am Kirchhofe hin, dessen Berberitzenstraeucher ueber das Gitter
hinauswuchsen und mit ihren Spitzen Effi streiften, so dass der Schnee
auf ihre Reisedecke fiel. Auf der anderen Seite des Weges war ein
eingefriedeter Platz, nicht viel groesser als ein Gartenbeet, und
innerhalb nichts sichtbar als eine junge Kiefer, die mitten daraus
hervorragte.

"Liegt da auch wer begraben?" fragte Effi. "Ja, der Chinese."

Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch
Kraft genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe:

"Unserer?"

"Ja, unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natuerlich nicht
unterzubringen, und da hat denn Kapitaen Thomsen, der so was wie sein
Freund war, diese Stelle gekauft und ihn hier begraben lassen. Es ist
auch ein Stein da mit Inschrift. Alles natuerlich vor meiner Zeit.
Aber es wird noch immer davon gesprochen."

"Also ist es doch was damit. Eine Geschichte. Du sagtest schon heute
frueh so was. Und es wird am Ende das beste sein, ich hoere, was es
ist. Solange ich es nicht weiss, bin ich, trotz aller guten Vorsaetze,
noch immer ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzaehle mir das Wirkliche.
Die Wirklichkeit kann mich nicht so quaelen wie meine Phantasie."

"Bravo, Effi Ich wollte nicht davon sprechen. Aber nun macht es sich
so von selbst, und das ist gut. Uebrigens ist es eigentlich gar
nichts."

"Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an."

"Ja, das ist leicht gesagt. Der Anfang ist immer das schwerste, auch
bei Geschichten. Nun, ich denke, ich beginne mit Kapitaen Thomsen."

"Gut, gut."

"Also Thomsen, den ich dir schon genannt habe, war viele Jahre lang
ein sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen Schanghai
und Singapur, und mochte wohl schon sechzig sein, als er hier ankam.
Ich weiss nicht, ob er hier geboren war oder ob er andere Beziehungen
hier hatte. Kurz und gut, er war nun da und verkaufte sein Schiff,
einen alten Kasten, draus er nicht viel herausschlug, und kaufte sich
ein Haus, dasselbe, drin wir jetzt wohnen. Denn er war draussen in der
Welt ein vermoegender Mann geworden. Und von daher schreibt sich auch
das Krokodil und der Haifisch und natuerlich auch das Schiff ... Also
Thomsen war nun da, ein sehr adretter Mann (so wenigstens hat man mir
gesagt) und wohlgelitten. Auch beim Buergermeister Kirstein, vor allem
bei dem damaligen Pastor in Kessin, einem Berliner, der kurz vor
Thomsen auch hierhergekommen war und viel Anfeindung hatte."

"Glaub ich. Ich merke das auch; sie sind hier so streng und
selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch."

"Ja und nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo sie gar nicht
streng sind und wo's drunter und drueber geht... Aber sieh nur, Effi,
da haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm dicht vor uns. Wollen
wir nicht den Bahnhof aufgeben und lieber bei der alten Frau von
Grasenabb vorfahren? Sidonie, wenn ich recht berichtet bin, ist nicht
zu Hause. Wir koennten es also wagen ..."

"Ich bitte dich, Geert, wo denkst du hin? Es ist ja himmlisch, so
hinzufliegen, und ich fuehle ordentlich, wie mir so frei wird und wie
alle Angst von mir abfaellt. Und nun soll ich das alles aufgeben,
bloss um den alten Leuten eine Stippvisite zu machen und ihnen sehr
wahrscheinlich eine Verlegenheit zu schaffen. Um Gottes willen nicht.
Und dann will ich vor allem auch die Geschichte hoeren. Also wir waren
bei Kapitaen Thomsen, den ich mir als einen Daenen oder Englaender
denke, sehr sauber, mit weissen Vatermoerdern und ganz weisser Waesche
..."

"Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine junge
Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine Nichte
gewesen, aber die meisten sagen, seine Enkelin, was uebrigens den
Jahren nach kaum moeglich. Und ausser der Enkelin oder der Nichte war
da auch noch ein Chinese, derselbe, der da zwischen den Duenen liegt
und an dessen Grab wir eben voruebergekommen sind."

"Gut, gut."

"Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so
grosse Stuecke auf ihn, dass er eigentlich mehr Freund als Diener war.
Und das ging so Jahr und Tag. Da mit einem Male hiess es, Thomsens
Enkelin, die, glaub ich, Nina hiess, solle sich, nach des Alten
Wunsch, verheiraten, auch mit einem Kapitaen. Und richtig, so war es
auch. Es gab eine grosse Hochzeit im Hause, der Berliner Pastor tat
sie zusammen, und Mueller Utpatel, der ein Konventikler war, und
Gieshuebler, dem man in der Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht
recht traute, waren geladen und vor allem viele Kapitaene mit ihren
Frauen und Toechtern. Und wie man sich denken kann, es ging hoch her.
Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zuletzt
auch mit dem Chinesen. Da mit einemmal hiess es, sie sei fort, die
Braut naemlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und
niemand weiss, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der
Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da
wurd er begraben. Der Berliner Pastor aber soll gesagt haben, man
haette ihn auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben koennen,
denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und geradesogut wie
die anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint hat, sagte
mir Gieshuebler, das wisse man nicht recht."

"Aber ich bin in dieser Sache doch ganz und gar gegen den Pastor; so
was darf man nicht aussprechen, weil es gewagt und unpassend ist. Das
wuerde selbst Niemeyer nicht gesagt haben."

"Und das ist auch dem armen Pastor, der uebrigens Trippel hiess,
sehr verdacht worden, so dass es eigentlich ein Glueck war, dass er
drueberhin starb, sonst haette er seine Stelle verloren. Denn die
Stadt, trotzdem sie ihn gewaehlt, war doch auch gegen ihn, geradeso
wie du, und das Konsistorium natuerlich erst recht."

"Trippel, sagst du? Dann haengt er am Ende mit der Frau Pastor Trippel
zusammen, die wir heute abend sehen sollen?" "Natuerlich haengt er mit
der zusammen. Er war ihr Mann und ist der Vater von der Trippelli."

Effi lachte. "Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in allem. Dass
sie in Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshuebler; aber ich dachte,
sie sei die Tochter von einem italienischen Konsul. Wir haben ja so
viele fremdlaendische Namen hier. Und nun ist sie gut deutsch und
stammt von Trippel. Ist sie denn so vorzueglich, dass sie wagen
konnte, sich so zu italienisieren?"

"Dem Mutigen gehoert die Welt. Uebrigens ist sie ganz tuechtig. Sie
war ein paar Jahre lang in Paris bei der beruehmten Viardot, wo
sie auch den russischen Fuersten kennenlernte, denn die russischen
Fuersten sind sehr aufgeklaert, ueber kleine Standesvorurteile weg,
und Kotschukoff und Gieshuebler - den sie uebrigens 'Onkel' nennt, und
man kann fast von ihm sagen, er sei der geborene Onkel -, diese beiden
sind es recht eigentlich, die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht
haben, was sie jetzt ist. Gieshuebler war es, durch den sie nach Paris
kam, und Kotschukoff hat sie dann in die Trippelli transponiert."

"Ach, Geert, wie reizend ist das alles, und welch Alltagsleben habe
ich doch in Hohen-Cremmen gefuehrt! Nie was Apartes."

Innstetten nahm ihre Hand und sagte: "So darfst du nicht sprechen,
Effi. Spuk, dazu kann man sich stellen, wie man will. Aber huete
dich vor dem Aparten oder was man so das Aparte nennt. Was dir so
verlockend erscheint - und ich rechne auch ein Leben dahin, wie's die
Trippelli fuehrt -, das bezahlt man in der Regel mit seinem Glueck.
Ich weiss wohl, wie sehr du dein Hohen-Cremmen liebst und daran
haengst, aber du spottest doch auch oft darueber und hast keine Ahnung
davon, was stille Tage, wie die Hohen-Cremmer, bedeuten."

"Doch, doch", sagte sie. "Ich weiss es wohl. Ich hoere nur gern einmal
von etwas anderem, und dann wandelt mich die Lust an, mit dabeizusein.
Aber du hast ganz recht. Und eigentlich hab ich doch eine Sehnsucht
nach Ruh und Frieden."

Innstetten drohte ihr mit dem Finger. "Meine einzig liebe Effi, das
denkst du dir nun auch wieder so aus. Immer Phantasien, mal so, mal
so."



Elftes Kapitel

Die Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein Uhr hielt der Schlitten
unten am Bahndamm vor dem Gasthaus "Zum Fuersten Bismarck", und
Golchowski, gluecklich, den Landrat bei sich zu sehen, war beflissen,
ein vorzuegliches Dejeuner herzurichten. Als zuletzt das Dessert und
der Ungarwein aufgetragen wurden, rief Innstetten den von Zeit zu Zeit
erscheinenden und nach der Ordnung sehenden Wirt heran und bat ihn,
sich mit an den Tisch zu setzen und ihnen was zu erzaehlen. Dazu war
Golchowski denn auch der rechte Mann; auf zwei Meilen in der Runde
wurde kein Ei gelegt, von dem er nicht wusste. Das zeigte sich auch
heute wieder. Sidonie Grasenabb, Innstetten hatte recht vermutet, war,
wie vorige Weihnachten, so auch diesmal wieder auf vier Wochen zu
"Hofpredigers" gereist; Frau von Palleske, so hiess es weiter, habe
ihre Jungfer wegen einer fatalen Geschichte Knall und Fall entlassen
muessen, und mit dem alten Fraude steh es schlecht - es werde zwar in
Kurs gesetzt, er sei bloss ausgeglitten, aber es sei ein Schlaganfall
gewesen, und der Sohn, der in Lissa bei den Husaren stehe, werde jede
Stunde erwartet. Nach diesem Geplaenkel war man dann, zu Ernsthafterem
uebergehend, auf Varzin gekommen. "Ja", sagte Golchowski, "wenn man
sich den Fuersten so als Papiermueller denkt! Es ist doch alles sehr
merkwuerdig; eigentlich kann er die Schreiberei nicht leiden und das
bedruckte Papier erst recht nicht, und nun legt er doch selber eine
Papiermuehle an."

"Schon recht, lieber Golchowski", sagte Innstetten, "aber aus solchen
Widerspruechen kommt man im Leben nicht heraus. Und da hilft auch kein
Fuerst und keine Groesse."

"Nein, nein, da hilft keine Groesse."

Wahrscheinlich, dass sich dies Gespraech ueber den Fuersten noch
fortgesetzt haette, wenn nicht in ebendiesem Augenblicke die von der
Bahn her herueberklingende Signalglocke einen bald eintreffenden Zug
angemeldet haette. Innstetten sah nach der Uhr. "Welcher Zug ist das,
Golchowski?"

"Das ist der Danziger Schnellzug; er haelt hier nicht, aber ich gehe
doch immer hinauf und zaehle die Wagen, und mitunter steht auch einer
am Fenster, den ich kenne. Hier, gleich hinter meinem Hofe, fuehrt
eine Treppe den Damm hinauf, Waerterhaus 417 ..."

"Oh, das wollen wir uns zunutze machen", sagte Effi. "Ich sehe so gern
Zuege ..."

"Dann ist es die hoechste Zeit, gnaed'ge Frau."

Und so machten sich denn alle drei auf den Weg und stellten sich,
als sie oben waren, in einem neben dem Waerterhaus gelegenen
Gartenstreifen auf, der jetzt freilich unter Schnee lag, aber doch
eine freigeschaufelte Stelle hatte. Der Bahnwaerter stand schon
da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte der Zug ueber das
Bahnhofsgeleise hin und im naechsten Augenblick an dem Haeuschen und
an dem Gartenstreifen vorueber. Effi war so erregt, dass sie nichts
sah und nur dem letzten Wagen, auf dessen Hoehe ein Bremser sass, ganz
wie benommen nachblickte.

"Sechs Uhr fuenfzig ist er in Berlin", sagte Innstetten, "und noch
eine Stunde spaeter, so koennen ihn die Hohen-Cremmer, wenn der Wind
so steht, in der Ferne vorbeiklappern hoeren. Moechtest du mit, Effi?"

Sie sagte nichts. Als er aber zu ihr hinueberblickte, sah er, dass
eine Traene in ihrem Auge stand.

Effi war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen Sehnsucht
erfasst worden. So gut es ihr ging, sie fuehlte sich trotzdem wie in
einer fremden Welt. Wenn sie sich eben noch an dem einen oder andern
entzueckt hatte, so kam ihr doch gleich nachher zum Bewusstsein, was
ihr fehlte. Da drueben lag Varzin, und da nach der anderen Seite hin
blitzte der Kroschentiner Kirchturm auf und weithin der Morgenitzer,
und da sassen die Grasenabbs und die Borckes, nicht die Bellings und
nicht die Briests. "Ja, die!" Innstetten hatte ganz recht gehabt mit
dem raschen Wechsel ihrer Stimmung, und sie sah jetzt wieder alles,
was zuruecklag, wie in einer Verklaerung. Aber so gewiss sie voll
Sehnsucht dem Zug nachgesehen, sie war doch andererseits viel zu
beweglichen Gemuets, um lange dabei zu verweilen, und schon auf
der Heimfahrt, als der rote Ball der niedergehenden Sonne seinen
Schimmer ueber den Schnee ausgoss, fuehlte sie sich wieder freier;
alles erschien ihr schoen und frisch, und als sie, nach Kessin
zurueckgekehrt, fast mit dem Glockenschlag sieben in den
Gieshueblerschen Flur eintrat, war ihr nicht bloss behaglich, sondern
beinah uebermuetig zu Sinn, wozu die das Haus durchziehende Baldrian-
und Veilchenwurzelluft das ihrige beitragen mochte.

Puenktlich waren Innstetten und Frau erschienen, aber trotz
dieser Puenktlichkeit immer noch hinter den anderen Geladenen
zurueckgeblieben; Pastor Lindequist, die alte Frau Trippel und die
Trippelli selbst waren schon da. Gieshuebler - im blauen Frack mit
mattgoldenen Knoepfen, dazu Pincenez an einem breiten, schwarzen
Bande, das wie ein Ordensband auf der blendendweissen Piqueweste lag
-, Gieshuebler konnte seiner Erregung nur mit Muehe Herr werden. "Darf
ich die Herrschaften miteinander bekannt machen: Baron und Baronin
Innstetten, Frau Pastor Trippel, Fraeulein Marietta Trippelli." Pastor
Lindequist, den alle kannten, stand laechelnd beiseite.

Die Trippelli, Anfang der Dreissig, stark maennlich und von
ausgesprochen humoristischem Typus, hatte bis zu dem Momente der
Vorstellung den Sofaehrenplatz innegehabt. Nach der Vorstellung aber
sagte sie, waehrend sie auf einen in der Naehe stehenden Stuhl mit
hoher Lehne zuschritt: "Ich bitte Sie nunmehro, gnaed'ge Frau, die
Buerden und Faehrlichkeiten Ihres Amtes auf sich nehmen zu wollen.
Denn von 'Faehrlichkeiten'" - und sie wies auf das Sofa - "wird sich
in diesem Falle wohl sprechen lassen. Ich habe Gieshuebler schon vor
Jahr und Tag darauf aufmerksam gemacht, aber leider vergeblich; so gut
er ist, so eigensinnig ist er auch."

"Aber Marietta ..."

"Dieses Sofa naemlich, dessen Geburt um wenigstens fuenfzig Jahre
zurueckliegt, ist noch nach einem altmodischen Versenkungsprinzip
gebaut, und wer sich ihm anvertraut, ohne vorher einen Kissenturm
untergeschoben zu haben, sinkt ins Bodenlose, jedenfalls aber gerade
tief genug, um die Knie wie ein Monument aufragen zu lassen." All dies
wurde seitens der Trippelli mit ebensoviel Bonhomie wie Sicherheit
hingesprochen, in einem Ton, der ausdruecken sollte: "Du bist die
Baronin Innstetten, ich bin die Trippelli."

Gieshuebler liebte seine Kuenstlerfreundin enthusiastisch und dachte
hoch von ihren Talenten; aber all seine Begeisterung konnte ihn doch
nicht blind gegen die Tatsache machen, dass ihr von gesellschaftlicher
Feinheit nur ein bescheidenes Mass zuteil geworden war. Und diese
Feinheit war gerade das, was er persoenlich kultivierte. "Liebe
Marietta", nahm er das Wort, "Sie haben eine so reizend heitere
Behandlung solcher Fragen; aber was mein Sofa betrifft, so haben
Sie wirklich unrecht, und jeder Sachverstaendige mag zwischen uns
entscheiden. Selbst ein Mann wie Fuerst Kotschukoff ..."

"Ach, ich bitt Sie, Gieshuebler, lassen Sie doch den. Immer
Kotschukoff. Sie werden mich bei der gnaed'gen Frau hier noch in den
Verdacht bringen, als ob ich bei diesem Fuersten - der uebrigens nur
zu den kleineren zaehlt und nicht mehr als tausend Seelen hat, das
heisst hatte (frueher, wo die Rechnung noch nach Seelen ging) -, als
ob ich stolz waere, seine tausendundeinste Seele zu sein. Nein, es
liegt wirklich anders; 'immer freiweg', Sie kennen meine Devise,
Gieshuebler. Kotschukoff ist ein guter Kamerad und mein Freund, aber
von Kunst und aehnlichen Sachen versteht er gar nichts, von Musik
gewiss nicht, wiewohl er Messen und Oratorien komponiert - die meisten
russischen Fuersten, wenn sie Kunst treiben, fallen ein bisschen nach
der geistlichen oder orthodoxen Seite hin -, und zu den vielen Dingen,
von denen er nichts versteht, gehoeren auch unbedingt Einrichtungs-
und Tapezierfragen. Er ist gerade vornehm genug, um sich alles als
schoen aufreden zu lassen, was bunt aussieht und viel Geld kostet."

Innstetten amuesierte sich, und Pastor Lindequist war in einem
allersichtlichsten Behagen. Die gute alte Trippel aber geriet ueber
den ungenierten Ton ihrer Tochter aus einer Verlegenheit in die
andere, waehrend Gieshuebler es fuer angezeigt hielt, eine so
schwierig werdende Unterhaltung zu kupieren. Dazu waren etliche
Gesangspiecen das beste. Dass Marietta Lieder von anfechtbarem Inhalt
waehlen wuerde, war nicht anzunehmen, und selbst wenn dies sein
sollte, so war ihre Vortragskunst so gross, dass der Inhalt dadurch
geadelt wurde. "Liebe Marietta", nahm er also das Wort, "ich habe
unser kleines Mahl zu acht Uhr bestellt. Wir haetten also noch
dreiviertel Stunden, wenn Sie nicht vielleicht vorziehen, waehrend
Tisch ein heitres Lied zu singen oder vielleicht erst, wenn wir von
Tisch aufgestanden sind ..."

"Ich bitte Sie, Gieshuebler! Sie, der Mann der Aesthetik. Es gibt
nichts Unaesthetischeres als einen Gesangsvortrag mit vollem Magen.
Ausserdem - und ich weiss, Sie sind ein Mann der ausgesuchten Kueche,
ja Gourmand -, ausserdem schmeckt es besser, wenn man die Sache
hinter sich hat. Erst Kunst und dann Nusseis, das ist die richtige
Reihenfolge."

"Also ich darf Ihnen die Noten bringen, Marietta?"

"Noten bringen. Ja, was heisst das, Gieshuebler? Wie ich Sie kenne,
werden Sie ganze Schraenke voll Noten haben, und ich kann Ihnen doch
nicht den ganzen Bock und Bote vorspielen. Noten! Was fuer Noten,
Gieshuebler, darauf kommt es an. Und dann, dass es richtig liegt,
Altstimme ..."

"Nun, ich werde schon bringen."

Und er machte sich an einem Schrank zu schaffen, ein Fach nach dem
anderen herausziehend, waehrend die Trippelli ihren Stuhl weiter links
um den Tisch herum schob, so dass sie nun dicht neben Effi sass.

"Ich bin neugierig, was er bringen wird", sagte sie. Effi geriet dabei
in eine kleine Verlegenheit.

"Ich moechte annehmen", antwortete sie befangen, "etwas von Gluck,
etwas ausgesprochen Dramatisches ... Ueberhaupt, mein gnaediges
Fraeulein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ich bin
ueberrascht zu hoeren, dass Sie lediglich Konzertsaengerin sind. Ich
daechte, dass Sie, wie wenige, fuer die Buehne berufen sein muessten.
Ihre Erscheinung, Ihre Kraft, Ihr Organ ... ich habe noch so wenig
derart kennengelernt, immer nur auf kurzen Besuchen in Berlin ... und
dann war ich noch ein halbes Kind. Aber ich daechte, 'Orpheus' oder
'Chrimhild' oder die 'Vestalin'."

Die Trippelli wiegte den Kopf und sah in Abgruende, kam aber zu keiner
Entgegnung, weil eben jetzt Gieshuebler wieder erschien und ein halbes
Dutzend Notenhefte vorlegte, die seine Freundin in rascher Reihenfolge
durch die Hand gleiten liess. "'Erlkoenig' ... ah, bah; 'Baechlein,
lass dein Rauschen sein ...' Aber Gieshuebler, ich bitte Sie, Sie sind
ein Murmeltier, Sie haben sieben Jahre lang geschlafen ... Und hier
Loewesche Balladen; auch nicht gerade das Neueste.

'Glocken von Speyer' ... Ach, dies ewige Bim-Bam, das beinah einer
Kulissenreisserei gleichkommt, ist geschmacklos und abgestanden. Aber
hier, 'Ritter Olaf' ... nun, das geht."

Und sie stand auf, und waehrend der Pastor begleitete, sang sie den
"Olaf" mit grosser Sicherheit und Bravour und erntete allgemeinen
Beifall.

Es wurde dann noch aehnlich Romantisches gefunden, einiges aus dem
"Fliegenden Hollaender" und aus "Zampa", dann der "Heideknabe", lauter
Sachen, die sie mit ebensoviel Virtuositaet wie Seelenruhe vortrug,
waehrend Effi von Text und Komposition wie benommen war.

Als die Trippelli mit dem "Heideknaben" fertig war, sagte sie: "Nun
ist es genug", eine Erklaerung, die so bestimmt von ihr abgegeben
wurde, dass weder Gieshuebler noch ein anderer den Mut hatte, mit
weiteren Bitten in sie zu dringen. Am wenigsten Effi Diese sagte nur,
als Gieshueblers Freundin wieder neben ihr sass: "Dass ich Ihnen doch
sagen koennte, mein gnaedigstes Fraeulein, wie dankbar ich Ihnen bin!
Alles so schoen, so sicher, so gewandt. Aber eines, wenn Sie mir
verzeihen, bewundere ich fast noch mehr, das ist die Ruhe, womit
Sie diese Sachen vorzutragen wissen. Ich bin so leicht Eindruecken
hingegeben, und wenn ich die kleinste Gespenstergeschichte hoere, so
zittere ich und kann mich kaum wieder zurechtfinden. Und Sie tragen
das so maechtig und erschuetternd vor und sind selbst ganz heiter und
guter Dinge."

"Ja, meine gnaedigste Frau, das ist in der Kunst nicht anders. Und
nun gar erst auf dem Theater, vor dem ich uebrigens gluecklicherweise
bewahrt geblieben bin. Denn so gewiss ich mich persoenlich gegen seine
Versuchungen gefeit fuehle - es verdirbt den Ruf, also das Beste, was
man hat. Im uebrigen stumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach
versichert haben. Da wird vergiftet und erstochen, und der toten Julia
fluestert Romeo einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder
er drueckt ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand."

"Es ist mir unbegreiflich. Und um bei dem stehenzubleiben, was ich
Ihnen diesen Abend verdanke, beispielsweise bei dem Gespenstischen im
'Olaf', ich versichere Ihnen, wenn ich einen aengstlichen Traum habe
oder wenn ich glaube, ueber mir hoerte ich ein leises Tanzen oder
Musizieren, waehrend doch niemand da ist, oder es schleicht wer an
meinem Bett vorbei, so bin ich ausser mir und kann es tagelang nicht
vergessen."

"Ja, meine gnaedige Frau, was Sie da schildern und beschreiben, das
ist auch etwas anderes, das ist ja wirklich oder kann wenigstens etwas
Wirkliches sein. Ein Gespenst, das durch die Ballade geht, da graule
ich mich gar nicht, aber ein Gespenst, das durch meine Stube geht, ist
mir, geradeso wie andern, sehr unangenehm. Darin empfinden wir also
ganz gleich."

"Haben Sie denn dergleichen auch einmal erlebt?"

"Gewiss. Und noch dazu bei Kotschukoff. Und ich habe mir auch
ausbedungen, dass ich diesmal anders schlafe, vielleicht mit der
englischen Gouvernante zusammen. Das ist naemlich eine Quaekerin, und
da ist man sicher."

"Und Sie halten dergleichen fuer moeglich?"

"Meine gnaedigste Frau, wenn man so alt ist wie ich und viel
rumgestossen wurde und in Russland war und sogar auch ein halbes
Jahr in Rumaenien, da haelt man alles fuer moeglich. Es gibt so viel
schlechte Menschen, und das andere findet sich dann auch, das gehoert
dann sozusagen mit dazu."

Effi horchte auf.

"Ich bin", fuhr die Trippelli fort, "aus einer sehr aufgeklaerten
Familie (bloss mit Mutter war es immer nicht so recht), und doch sagte
mir mein Vater, als das mit dem Psychographen aufkam: 'Hoere, Mane,
das ist was.' Und er hat recht gehabt, es ist auch was damit.
Ueberhaupt, man ist links und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie
werden das noch kennenlernen."

In diesem Augenblick trat Gieshuebler heran und bot Effi den Arm,
Innstetten fuehrte Marietta, dann folgten Pastor Lindequist und die
verwitwete Trippel. So ging man zu Tisch.



Zoelftes Kapitel

Es war spaet, als man aufbrach. Schon bald nach zehn hatte Effi zu
Gieshuebler gesagt, es sei nun wohl Zeit; Fraeulein Trippelli, die
den Zug nicht versaeumen duerfe, muesse ja schon um sechs von Kessin
aufbrechen; die danebenstehende Trippelli aber, die diese Worte
gehoert, hatte mit der ihr eigenen ungenierten Beredsamkeit gegen
solche zarte Ruecksichtnahme protestiert. "Ach, meine gnaedigste Frau,
Sie glauben, dass unsereins einen regelmaessigen Schlaf braucht, das
trifft aber nicht zu; was wir regelmaessig brauchen, heisst Beifall
und hohe Preise. Ja, lachen Sie nur. Ausserdem (so was lernt man)
kann ich auch im Coupe schlafen, in jeder Situation und sogar auf der
linken Seite, und brauche nicht einmal das Kleid aufzumachen. Freilich
bin ich auch nie eingepresst; Brust und Lunge muessen immer frei
sein und vor allem das Herz. Ja, meine gnaedigste Frau, das ist die
Hauptsache. Und dann das Kapitel Schlaf ueberhaupt - die Menge tut es
nicht, was entscheidet, ist die Qualitaet; ein guter Nicker von fuenf
Minuten ist besser als fuenf Stunden unruhige Rumdreherei, mal links,
mal rechts. Uebrigens schlaeft man in Russland wundervoll, trotz des
starken Tees. Es muss die Luft machen oder das spaete Diner oder weil
man so verwoehnt wird. Sorgen gibt es in Russland nicht; darin - im
Geldpunkt sind beide gleich - ist Russland noch besser als Amerika."

Nach dieser Erklaerung der Trippelli hatte Effi von allen Mahnungen
zum Aufbruch Abstand genommen, und so war Mitternacht herangekommen.
Man trennte sich heiter und herzlich und mit einer gewissen
Vertraulichkeit. Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur landraetlichen
Wohnung war ziemlich weit; er kuerzte sich aber dadurch, dass Pastor
Lindequist bat, Innstetten und Frau eine Strecke begleiten zu
duerfen; ein Spaziergang unterm Sternenhimmel sei das beste, um ueber
Gieshueblers Rheinwein hinwegzukommen. Unterwegs wurde man natuerlich
nicht muede, die verschiedensten Trippelliana heranzuziehen; Effi
begann mit dem, was ihr in Erinnerung geblieben, und gleich nach
ihr kam der Pastor an die Reihe. Dieser, ein Ironikus, hatte die
Trippelli, wie nach vielem sehr Weltlichen, so schliesslich auch nach
ihrer kirchlichen Richtung gefragt und dabei von ihr in Erfahrung
gebracht, dass sie nur eine Richtung kenne, die orthodoxe. Ihr Vater
sei freilich ein Rationalist gewesen, fast schon ein Freigeist,
weshalb er auch den Chinesen am liebsten auf dem Gemeindekirchhof
gehabt haette; sie ihrerseits sei aber ganz entgegengesetzter Ansicht,
trotzdem sie persoenlich des grossen Vorzugs geniesse, gar nichts zu
glauben. Aber sie sei sich in ihrem entschiedenen Nichtglauben doch
auch jeden Augenblick bewusst, dass das ein Spezialluxus sei, den
man sich nur als Privatperson gestatten koenne. Staatlich hoere
der Spass auf, und wenn ihr das Kultusministerium oder gar ein
Konsistorialregiment unterstuende, so wuerde sie mit unnachsichtiger
Strenge vorgehen. "Ich fuehle so was von einem Torquemada in mir."
Innstetten war sehr erheitert und erzaehlte seinerseits, dass er etwas
so Heikles, wie das Dogmatische, geflissentlich vermieden, aber dafuer
das Moralische desto mehr in den Vordergrund gestellt habe. Hauptthema
sei das Verfuehrerische gewesen, das bestaendige Gefaehrdetsein, das
in allem oeffentlichen Auftreten liege, worauf die Trippelli leichthin
und nur mit Betonung der zweiten Satzhaelfte geantwortet habe: "Ja,
bestaendig gefaehrdet; am meisten die Stimme."

Unter solchem Geplauder war, ehe man sich trennte, der Trippelli-Abend
noch einmal an ihnen voruebergezogen, und erst drei Tage spaeter
hatte sich Gieshueblers Freundin durch ein von Petersburg aus an Effi
gerichtetes Telegramm noch einmal in Erinnerung gebracht. Es lautete:
Madame la Baronne d'Innstetten, nee de Briest. Bien arrivee. Prince
K. a la gare. Plus epris de moi que jamais. Mille fois merci de votre
bon accueil. Compliments empresses a Monsieur le Baron. Marietta
Trippelli.

Innstetten war entzueckt und gab diesem Entzuecken lebhafteren
Ausdruck, als Effi begreifen konnte.

"Ich verstehe dich nicht, Geert."

"Weil du die Trippelli nicht verstehst. Mich entzueckt die Echtheit;
alles da, bis auf das Puenktchen ueberm i."

"Du nimmst also alles als eine Komoedie?"

"Aber als was sonst? Alles berechnet fuer dort und fuer hier, fuer
Kotschukoff und fuer Gieshuebler. Gieshuebler wird wohl eine Stiftung
machen, vielleicht auch bloss ein Legat fuer die Trippelli."

Die musikalische Soiree bei Gieshuebler hatte Mitte Dezember
stattgefunden, gleich danach begannen die Vorbereitungen fuer
Weihnachten, und Effi, die sonst schwer ueber diese Tage hingekommen
waere, segnete es, dass sie selber einen Hausstand hatte, dessen
Ansprueche befriedigt werden mussten. Es galt nachsinnen, fragen,
anschaffen, und das alles liess truebe Gedanken nicht aufkommen. Am
Tage vor Heiligabend trafen Geschenke von den Eltern aus Hohen-Cremmen
ein, und mit in die Kiste waren allerhand Kleinigkeiten aus dem
Kantorhause gepackt: wunderschoene Reinetten von einem Baum, den Effi
und Jahnke vor mehreren Jahren gemeinschaftlich okuliert hatten, und
dazu braune Puls- und Kniewaermer von Bertha und Hertha. Hulda schrieb
nur wenige Zeilen, weil sie, wie sie sich entschuldigte, fuer X noch
eine Reisedecke zu stricken habe. "Was einfach nicht wahr ist", sagte
Effi. "Ich wette, X. existiert gar nicht. Dass sie nicht davon lassen
kann, sich mit Anbetern zu umgeben die nicht da sind!" Und so kam
Heiligabend heran. Innstetten selbst baute auf fuer seine junge Frau,
der Baum brannte, und ein kleiner Engel schwebte oben in Lueften Auch
eine Krippe war da mit huebschen Transparenten und Inschriften, deren
eine sich in leiser Andeutung auf ein dem Innstettenschen Hause
fuer naechstes Jahr bevorstehendes Ereignis bezog. Effi las es und
erroetete. Dann ging sie auf Innstetten zu, um ihm zu danken, aber
eh sie dies konnte, flog, nach altpommerschem Weihnachtsbrauch, ein
Julklapp in den Hausflur: eine grosse Kiste, drin eine Welt von
Dingen steckte. Zuletzt fand man die Hauptsache, ein zierliches, mit
allerlei japanischen Bildchen ueberklebtes Morsellenkaestchen, dessen
eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen beigegeben war. Es hiess
da:

        Drei Koenige kamen zum Heiligenchrist,
        Mohrenkoenig einer gewesen ist -
        Ein Mohrenapothekerlein
        Erscheinet heute mit Spezerein,
        Doch statt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle,
        Bringt er Pistazien- und Mandel-Morselle.

Effi las es zwei-, dreimal und freute sich darueber. "Die Huldigungen
eines guten Menschen haben doch etwas besonders Wohltuendes. Meinst
du nicht auch, Geert?" "Gewiss meine ich das. Es ist eigentlich das
einzige, was einem Freude macht oder wenigstens Freude machen sollte.
Denn jeder steckt noch so nebenher in allerhand dummem Zeuge drin. Ich
auch. Aber freilich, man ist, wie man ist." Der erste Feiertag war
Kirchtag, am zweiten war man bei Borckes draussen, alles zugegen, mit
Ausnahme von Grasenabbs, die nicht kommen wollten, weil Sidonie nicht
da sei, was man als Entschuldigung allseitig ziemlich sonderlich fand.
Einige tuschelten sogar: "Umgekehrt; gerade deshalb haetten sie kommen
sollen." Am Silvester war Ressourcenball, auf dem Effi nicht fehlen
durfte und auch nicht wollte, denn der Ball gab ihr Gelegenheit,
endlich einmal die ganze Stadtflora beisammen zu sehen. Johanna hatte
mit den Vorbereitungen zum Ballstaate fuer ihre Gnaed'ge vollauf
zu tun, Gieshuebler, der, wie alles, so auch ein Treibhaus hatte,
schickte Kamelien, und Innstetten, so knapp bemessen die Zeit fuer
ihn war, fuhr am Nachmittage noch ueber Land nach Papenhagen, wo drei
Scheunen abgebrannt waren.

Es war ganz still im Hause. Christel, beschaeftigungslos, hatte sich
schlaefrig eine Fussbank an den Herd gerueckt, und Effi zog sich in
ihr Schlafzimmer zurueck, wo sie sich, zwischen Spiegel und Sofa, an
einen kleinen, eigens zu diesem Zweck zurechtgemachten Schreibtisch
setzte, um von hier aus an die Mama zu schreiben, der sie fuer
Weihnachtsbrief und Weihnachtsgeschenke bis dahin bloss in einer Karte
gedankt, sonst aber seit Wochen keine Nachricht gegeben hatte.

Kessin, 31. Dezember. Meine liebe Mama! Das wird nun wohl ein langer
Schreibebrief werden, denn ich habe - die Karte rechnet nicht -
lange nichts von mir hoeren lassen. Als ich das letztemal schrieb,
steckte ich noch in den Weihnachtsvorbereitungen, jetzt liegen die
Weihnachtstage schon zurueck. Innstetten und mein guter Freund
Gieshuebler hatten alles aufgeboten, mir den Heiligen Abend so
angenehm wie moeglich zu machen, aber ich fuehlte mich doch ein wenig
einsam und bangte mich nach Euch. Ueberhaupt, soviel Ursache ich
habe, zu danken und froh und gluecklich zu sein, ich kann ein Gefuehl
des Alleinseins nicht ganz loswerden, und wenn ich mich frueher,
vielleicht mehr als noetig, ueber Huldas ewige Gefuehlstraene mokiert
habe, so werde ich jetzt dafuer bestraft und habe selber mit dieser
Traene zu kaempfen. Denn Innstetten darf es nicht sehen. Ich bin aber
sicher, dass das alles besser werden wird, wenn unser Hausstand sich
mehr belebt, und das wird der Fall sein, meine liebe Mama. Was ich
neulich andeutete, das ist nun Gewissheit, und Innstetten bezeugt mir
taeglich seine Freude darueber. Wie gluecklich ich selber im Hinblick
darauf bin, brauche ich nicht erst zu versichern, schon weil ich dann
Leben und Zerstreuung um mich her haben werde oder, wie Geert sich
ausdrueckt, ein "liebes Spielzeug". Mit diesem Wort wird er wohl recht
haben, aber er sollte es lieber nicht gebrauchen, weil es mir immer
einen kleinen Stich gibt und mich daran erinnert, wie jung ich bin
und dass ich noch halb in die Kinderstube gehoere. Diese Vorstellung
verlaesst mich nicht (Geert meint, es sei krankhaft) und bringt es
zuwege, dass das, was mein hoechstes Glueck sein sollte, doch fast
noch mehr eine bestaendige Verlegenheit fuer mich ist. Ja, meine
liebe Mama, als die guten Flemmingschen Damen sich neulich nach allem
moeglichen erkundigten, war mir zumut, als stuende ich schlecht
vorbereitet in einem Examen, und ich glaube auch, dass ich recht
dumm geantwortet habe. Verdriesslich war ich auch. Denn manches,
was wie Teilnahme aussieht, ist doch bloss Neugier und wirkt um so
zudringlicher, als ich ja noch lange, bis in den Sommer hinein, auf
das frohe Ereignis zu warten habe. Ich denke, die ersten Julitage.
Dann musst Du kommen, oder noch besser, sobald ich einigermassen
wieder bei Wege bin, komme ich, nehme hier Urlaub und mache mich
auf nach Hohen-Cremmen. Ach, wie ich mich darauf freue und auf die
havellaendische Luft - hier ist es fast immer rauh und kalt -, und
dann jeden Tag eine Fahrt ins Luch, alles rot und gelb, und ich sehe
schon, wie das Kind die Haende danach streckt, denn es wird doch wohl
fuehlen, dass es eigentlich da zu Hause ist. Aber das schreibe ich nur
Dir. Innstetten darf nicht davon wissen, und auch Dir gegenueber muss
ich mich wie entschuldigen, dass ich mit dem Kinde nach Hohen-Cremmen
will und mich heute schon anmelde, statt Dich, meine liebe Mama,
dringend und herzlich nach Kessin hin einzuladen, das ja doch
jeden Sommer fuenfzehnhundert Badegaeste hat und Schiffe mit allen
moeglichen Flaggen und sogar ein Duenenhotel. Aber dass ich so wenig
Gastlichkeit zeige, das macht nicht, dass ich ungastlich waere, so
sehr bin ich nicht aus der Art geschlagen, das macht einfach unser
landraetliches Haus, das, soviel Huebsches und Apartes es hat, doch
eigentlich gar kein richtiges Haus ist, sondern nur eine Wohnung fuer
zwei Menschen, und auch das kaum, denn wir haben nicht einmal ein
Esszimmer, was doch genant ist, wenn ein paar Personen zu Besuch sich
einstellen. Wir haben freilich noch Raeumlichkeiten im ersten Stock,
einen grossen Saal und vier kleine Zimmer, aber sie haben alle etwas
wenig Einladendes, und ich wuerde sie Rumpelkammer nennen, wenn sich
etwas Geruempel darin vorfaende; sie sind aber ganz leer, ein paar
Binsenstuehle abgerechnet, und machen, das mindeste zu sagen, einen
sehr sonderbaren Eindruck. Nun wirst Du wohl meinen, das alles sei
ja leicht zu aendern. Aber es ist nicht zu aendern; denn das Haus,
das wir bewohnen, ist ... ist ein Spukhaus; da ist es heraus. Ich
beschwoere Dich uebrigens, mir auf diese meine Mitteilung nicht zu
antworten, denn ich zeige Innstetten immer Eure Briefe, und er waere
ausser sich, wenn er erfuehre, dass ich Dir das geschrieben. Ich
haette es auch nicht getan, und zwar um so weniger, als ich seit
vielen Wochen in Ruhe geblieben bin und aufgehoert habe, mich zu
aengstigen; aber Johanna sagt mir, es kaeme immer mal wieder,
namentlich wenn wer Neues im Hause erschiene. Und ich kann Dich doch
einer solchen Gefahr oder, Wenn das zuviel gesagt ist, einer solchen
eigentuemlichen und unbequemen Stoerung nicht aussetzen! Mit der
Sache selber will ich Dich heute nicht behelligen, jedenfalls nicht
ausfuehrlich. Es ist eine Geschichte von einem alten Kapitaen, einem
sogenannten Chinafahrer, und seiner Enkelin, die mit einem hiesigen
jungen Kapitaen eine kurze Zeit verlobt war und an ihrem Hochzeitstage
ploetzlich verschwand. Das moechte hingehn. Aber was wichtiger ist,
ein junger Chinese, den ihr Vater aus China mit zurueckgebracht hatte
und der erst der Diener und dann der Freund des Alten war, der starb
kurze Zeit danach und ist an einer einsamen Stelle neben dem Kirchhof
begraben worden. Ich bin neulich da voruebergefahren, wandte mich aber
rasch ab und sah nach der andern Seite, weil ich glaube, ich haette
ihn sonst auf dem Grabe sitzen sehen. Denn ach, meine liebe Mama,
ich habe ihn einmal wirklich gesehen, oder es ist mir wenigstens so
vorgekommen, als ich fest schlief und Innstetten auf Besuch beim
Fuersten war. Es war schrecklich; ich moechte so was nicht wieder
erleben. Und in ein solches Haus, so huebsch es sonst ist (es ist
sonderbarerweise gemuetlich und unheimlich zugleich), kann ich Dich
doch nicht gut einladen. Und Innstetten, trotzdem ich ihm schliesslich
in vielen Stuecken zustimmte, hat sich dabei, soviel moechte ich sagen
duerfen, auch nicht ganz richtig benommen. Er verlangte von mir, ich
solle das alles als Alten-Weiber-Unsinn ansehn und darueber lachen,
aber mit einemmal schien er doch auch wieder selber daran zu glauben
und stellte mir zugleich die sonderbare Zumutung, einen solchen
Hausspuk als etwas Vornehmes und Altadliges anzusehen. Das kann ich
aber nicht und will es auch nicht. Er ist in diesem Punkt, so guetig
er sonst ist, nicht guetig und nachsichtig genug gegen mich. Denn dass
es etwas damit ist, das weiss ich von Johanna und weiss es auch von
unserer Frau Kruse. Das ist naemlich unsere Kutscherfrau, die mit
einem schwarzen Huhn bestaendig in einer ueberheizten Stube sitzt.
Dies allein schon ist aengstlich genug. Und nun weisst Du, warum ich
kommen will, wenn es erst soweit ist. Ach, waere es nur erst soweit.
Es sind so viele Gruende, warum ich es wuensche. Heute abend haben
wir Silvesterball, und Gieshuebler - der einzige nette Mensch hier,
trotzdem er eine hohe Schulter hat oder eigentlich schon etwas mehr
-, Gieshuebler hat mir Kamelien geschickt. Ich werde doch vielleicht
tanzen. Unser Arzt sagt, es wuerde mir nichts schaden, im Gegenteil.
Und Innstetten, was mich fast ueberraschte, hat auch eingewilligt. Und
nun gruesse und kuesse Papa und all die andern Lieben. Glueckauf zum
neuen Jahr. Deine Effi.



Dreizehntes Kapitel

Der Silvesterball hatte bis an den fruehen Morgen gedauert, und Effi
war ausgiebig bewundert worden, freilich nicht ganz so anstandslos
wie das Kamelienbukett, von dem man wusste, dass es aus dem
Gieshueblerschen Treibhaus kam. Im uebrigen blieb auch nach dem
Silvesterball alles beim alten, kaum dass Versuche gesellschaftlicher
Annaeherung gemacht worden waeren, und so kam es denn, dass der
Winter als recht lange dauernd empfunden wurde. Besuche seitens
der benachbarten Adelsfamilien fanden nur selten statt, und dem
pflichtschuldigen Gegenbesuch ging in einem halben Trauerton jedesmal
die Bemerkung voraus: "Ja, Geert, wenn es durchaus sein muss, aber ich
vergehe vor Langeweile." Worte, denen Innstetten nur immer zustimmte.
Was an solchen Besuchsnachmittagen ueber Familie, Kinder, auch
Landwirtschaft gesagt wurde, mochte gehen; wenn dann aber die
kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die mitanwesenden Pastoren
wie kleine Paepste behandelt wurden oder sich auch wohl selbst als
solche ansahen, dann riss Effi der Faden der Geduld, und sie dachte
mit Wehmut an Niemeyer, der immer zurueckhaltend und anspruchslos war,
trotzdem es bei jeder groesseren Feierlichkeit hiess, er habe das
Zeug, an den "Dom" berufen zu werden. Mit den Borckes, den Flemmings,
den Grasenabbs, so freundlich die Familien, von Sidonie Grasenabb
abgesehen, gesinnt waren - es wollte mit allen nicht so recht gehen,
und es haette mit Freude, Zerstreuung und auch nur leidlichem
Sich-behaglich-Fuehlen manchmal recht schlimm gestanden, wenn
Gieshuebler nicht gewesen waere. Der sorgte fuer Effi wie eine kleine
Vorsehung, und sie wusste es ihm auch Dank. Natuerlich war er neben
allem andern auch ein eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser, ganz
zu schweigen, dass er an der Spitze des Journalzirkels stand, und
so verging denn fast kein Tag, wo nicht Mirambo ein grosses weisses
Kuvert gebracht haette mit allerhand Blaettern und Zeitungen, in
denen die betreffenden Stellen angestrichen waren, meist eine kleine,
feine Bleistiftlinie, mitunter aber auch dick mit Blaustift und ein
Ausrufungs- oder Fragezeichen daneben. Und dabei liess er es nicht
bewenden; er schickte auch Feigen und Datteln, Schokoladentafeln in
Satineepapier und ein rotes Baendchen drum, und wenn etwas besonders
Schoenes in seinem Treibhaus bluehte, so brachte er es selbst und
hatte dann eine glueckliche Plauderstunde mit der ihm so sympathischen
jungen Frau, fuer die er alle schoenen Liebesgefuehle durch- und
nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des Lehrers und
Verehrers. Effi war geruehrt von dem allen und schrieb oefters
darueber nach Hohen-Cremmen, so dass die Mama sie mit ihrer "Liebe zum
Alchimisten" zu necken begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien
verfehlten ihren Zweck, ja beruehrten sie beinahe schmerzlich, weil
ihr, wenn auch unklar, dabei zum Bewusstsein kam, was ihr in ihrer Ehe
eigentlich fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten.
Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte
das Gefuehl, Effi zu lieben, und das gute Gewissen, dass es so sei,
liess ihn von besonderen Anstrengungen absehen. Es war fast zur Regel
geworden, dass er sich, wenn Friedrich die Lampe brachte, aus seiner
Frau Zimmer in sein eigenes zurueckzog. "Ich habe da noch eine
verzwickte Geschichte zu erledigen." Und damit ging er. Die Portiere
blieb freilich zurueckgeschlagen, so dass Effi das Blaettern in dem
Aktenstueck oder das Kritzeln seiner Feder hoeren konnte, aber das war
auch alles. Rollo kam dann wohl und legte sich vor sie hin auf den
Kaminteppich, als ob er sagen wolle: "Muss nur mal wieder nach dir
sehen; ein anderer tut's doch nicht." Und dann beugte sie sich nieder
und sagte leise: "Ja, Rollo, wir sind allein." Um neun erschien dann
Innstetten wieder zum Tee, meist die Zeitung in der Hand, sprach
vom Fuersten, der wieder viel Aerger habe, zumal ueber diesen Eugen
Richter, dessen Haltung und Sprache ganz unqualifizierbar seien, und
ging dann die Ernennungen und Ordensverleihungen durch, von denen er
die meisten beanstandete. Zuletzt sprach er von den Wahlen, und dass
es ein Glueck sei, einem Kreis vorzustehen, in dem es noch Respekt
gaebe. War er damit durch, so bat er Effi, dass sie was spiele, aus
Lohengrin oder aus der Walkuere, denn er war ein Wagnerschwaermer. Was
ihn zu diesem hinuebergefuehrt hatte, war ungewiss; einige sagten,
seine Nerven, denn so nuechtern er schien, eigentlich war er nervoes;
andere schoben es auf Wagners Stellung zur Judenfrage. Wahrscheinlich
hatten beide recht. Um zehn war Innstetten dann abgespannt und erging
sich in ein paar wohlgemeinten, aber etwas mueden Zaertlichkeiten, die
sich Effi gefallen liess, ohne sie recht zu erwidern.

So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter dem
Hof begann es zu gruenen, worueber sich Effi freute; sie konnte gar
nicht abwarten, dass der Sommer komme mit seinen Spaziergaengen
am Strand und seinen Badegaesten. Wenn sie so zurueckblickte, der
Trippelli-Abend bei Gieshuebler und dann der Silvesterball, ja, das
ging, das war etwas Huebsches gewesen; aber die Monate, die dann
gefolgt waren, die hatten doch viel zu wuenschen uebriggelassen, und
vor allem waren sie so monoton gewesen, dass sie sogar mal an die Mama
geschrieben hatte: "Kannst Du Dir denken, Mama, dass ich mich mit
unsrem Spuk beinah ausgesoehnt habe? Natuerlich die schreckliche
Nacht, wo Geert drueben beim Fuersten war, die moechte ich nicht noch
einmal durchmachen, nein, gewiss nicht; aber immer das Alleinsein und
so gar nichts erleben, das hat doch auch sein Schweres, und wenn ich
dann in der Nacht aufwache, dann horche ich mitunter hinauf, ob ich
nicht die Schuhe schleifen hoere, und wenn alles still bleibt, so bin
ich fast wie enttaeuscht und sage mir: Wenn es doch nur wiederkaeme,
nur nicht zu arg und nicht zu nah."

Das war im Februar, dass Effi so schrieb, und nun war beinahe Mai.
Drueben in der Plantage belebte sich's schon wieder, und man hoerte
die Finken schlagen. Und in derselben Woche war es auch, dass die
Stoerche kamen, und einer schwebte langsam ueber ihr Haus hin und
liess sich dann auf einer Scheune nieder, die neben Utpatels Muehle
stand. Das war seine alte Raststaette. Auch ueber dies Ereignis
berichtete Effi, die jetzt ueberhaupt haeufiger nach Hohen-Cremmen
schrieb, und es war in demselben Brief, dass es am Schluss hiess:
"Etwas, meine liebe Mama, haette ich beinah vergessen: den neuen
Landwehrbezirkskommandeur, den wir nun schon beinah vier Wochen hier
haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das ist die Frage, und eine Frage
von Wichtigkeit dazu, sosehr Du darueber lachen wirst und auch lachen
musst, weil Du den gesellschaftlichen Notstand nicht kennst, in dem
wir uns nach wie vor befinden. Oder wenigstens ich, die ich mich mit
dem Adel hier nicht gut zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld.
Aber das ist gleich. Tatsache bleibt: Notstand, und deshalb sah ich,
durch all diese Winterwochen hin, dem neuen Bezirkskommandeur wie
einem Trost- und Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgaenger war ein
Greuel, von schlechten Manieren und noch schlechteren Sitten, und zum
Ueberfluss auch noch immer schlecht bei Kasse. Wir haben all die Zeit
ueber unter ihm gelitten, Innstetten noch mehr als ich, und als wir
Anfang April hoerten, Major von Crampas sei da, das ist naemlich der
Name des neuen, da fielen wir uns in die Arme, als koenne uns nichts
Schlimmes mehr in diesem lieben Kessin passieren. Aber, wie schon kurz
erwaehnt, es scheint, trotzdem er da ist, wieder nichts werden zu
wollen. Crampas ist verheiratet, zwei Kinder von zehn und acht Jahren,
die Frau ein Jahr aelter als er, also sagen wir fuenfundvierzig. Das
wuerde nun an und fuer sich nicht viel schaden, warum soll ich mich
nicht mit einer muetterlichen Freundin wundervoll unterhalten koennen?
Die Trippelli war auch nahe an Dreissig, und es ging ganz gut. Aber
mit der Frau von Crampas, uebrigens keine Geborene, kann es nichts
werden. Sie ist immer verstimmt, beinahe melancholisch (aehnlich wie
unsere Frau Kruse, an die sie mich ueberhaupt erinnert), und das
alles aus Eifersucht. Er, Crampas, soll naemlich ein Mann vieler
Verhaeltnisse sein, ein Damenmann, etwas, was mir immer laecherlich
ist und mir auch in diesem Falle laecherlich sein wuerde, wenn er
nicht um eben solcher Dinge willen ein Duell mit einem Kameraden
gehabt haette. Der linke Arm wurde ihm dicht unter der Schulter
zerschmettert, und man sieht es sofort, trotzdem die Operation, wie
mir Innstetten erzaehlt (ich glaube, sie nennen es Resektion, damals
noch von Wilms ausgefuehrt), als ein Meisterstueck der Kunst geruehmt
wurde. Beide, Herr und Frau von Crampas, waren vor vierzehn Tagen
bei uns, um uns ihren Besuch zu machen; es war eine sehr peinliche
Situation, denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, dass er in
eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam. Dass er selbst sehr
anders sein kann, ausgelassen und uebermuetig, davon ueberzeugte ich
mich, als er vor drei Tagen mit Innstetten allein war und ich, von
meinem Zimmer her, dem Gang ihrer Unterhaltung folgen konnte. Nachher
sprach auch ich ihn. Vollkommener Kavalier, ungewoehnlich gewandt.
Innstetten war waehrend des Krieges in derselben Brigade mit ihm, und
sie haben sich im Norden von Paris bei Graf Groeben oefter gesehen.
Ja, meine liebe Mama, das waere nun also etwas gewesen, um in Kessin
ein neues Leben beginnen zu koennen; er, der Major, hat auch nicht die
pommerschen Vorurteile, trotzdem er in Schwedisch-Pommern zu Hause
sein soll. Aber die Frau! Ohne sie geht es natuerlich nicht, und mit
ihr erst recht nicht."

Effi hatte ganz recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner weiteren
Annaeherung mit dem Crampasschen Paar. Man sah sich mal bei
der Borckeschen Familie draussen, ein andermal ganz fluechtig
auf dem Bahnhof und wenige Tage spaeter auf einer Boots- und
Vergnuegungsfahrt, die nach einem am Breitling gelegenen grossen
Buchen- und Eichenwald, der "Der Schnatermann" hiess, gemacht wurde;
es kam aber ueber kurze Begruessungen nicht hinaus, und Effi war froh,
als Anfang Juni die Saison sich ankuendigte. Freilich fehlte es noch
an Badegaesten, die vor Johanni ueberhaupt nur in Einzelexemplaren
einzutreffen pflegten, aber schon die Vorbereitungen waren eine
Zerstreuung. In der Plantage wurden Karussell und Scheibenstaende
hergerichtet, die Schiffersleute kalfaterten und strichen ihre Boote,
jede kleine Wohnung erhielt neue Gardinen, die Zimmer, die feucht
lagen, also den Schwamm unter der Diele hatten, wurden ausgeschwefelt
und dann gelueftet.

Auch in Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen Ankoemmlings
als der Badegaeste willen, war alles in einer gewissen Erregung;
selbst Frau Kruse wollte mittun, so gut es ging. Aber davor erschrak
Effi lebhaft und sagte: "Geert, dass nur die Frau Kruse nichts
anfasst; da kann nichts werden, und ich aengstige mich schon gerade
genug."

Innstetten versprach auch alles, Christel und Johanna haetten ja Zeit
genug, und um seiner jungen Frau Gedanken ueberhaupt in eine andere
Richtung zu bringen, liess er das Thema der Vorbereitungen ganz fallen
und fragte statt dessen, ob sie schon bemerkt habe, dass drueben ein
Badegast eingezogen sei, nicht gerade der erste, aber doch einer der
ersten.

"Ein Herr?"

"Nein, eine Dame, die schon frueher hier war, jedesmal in derselben
Wohnung. Und sie kommt immer so frueh, weil sie's nicht leiden kann,
wenn alles schon so voll ist."

"Das kann ich ihr nicht verdenken. Und wer ist es denn?" "Die
verwitwete Registrator Rode."

"Sonderbar. Ich habe mir Registratorwitwen immer arm gedacht."

"Ja", lachte Innstetten, "das ist die Regel. Aber hier hast du eine
Ausnahme. Jedenfalls hat sie mehr als ihre Witwenpension. Sie kommt
immer mit viel Gepaeck, unendlich viel mehr, als sie gebraucht, und
scheint ueberhaupt eine ganz eigene Frau, wunderlich, kraenklich und
namentlich schwach auf den Fuessen. Sie misstraut sich deshalb auch
und hat immer eine aeltliche Dienerin um sich, die kraeftig genug ist,
sie zu schuetzen oder sie zu tragen, wenn ihr was passiert. Diesmal
hat sie eine neue. Aber doch wieder eine ganz ramassierte Person,
aehnlich wie die Trippelli, nur noch staerker."

"Oh, die hab ich schon gesehen. Gute braune Augen, die einen treu und
zuversichtlich ansehen. Aber ein klein bisschen dumm." - "Richtig, das
ist sie."

Das war Mitte Juni, dass Innstetten und Effi dies Gespraech hatten.
Von da ab brachte jeder Tag Zuzug, und nach dem Bollwerk hin
spazierengehen, um daselbst die Ankunft des Dampfschiffes abzuwarten,
wurde, wie immer um diese Zeit, eine Art Tagesbeschaeftigung fuer die
Kessiner. Effi freilich, weil Innstetten sie nicht begleiten konnte,
musste darauf verzichten, aber sie hatte doch wenigstens die Freude,
die nach dem Strand und dem Strandhotel hinausfuehrende, sonst so
menschenleere Strasse sich beleben zu sehen, und war denn auch,
um immer wieder Zeuge davon zu sein, viel mehr als sonst in ihrem
Schlafzimmer, von dessen Fenstern aus sich alles am besten beobachten
liess. Johanna stand dann neben ihr und gab Antwort auf ziemlich
alles, was sie wissen wollte; denn da die meisten alljaehrlich
wiederkehrende Gaeste waren, so konnte das Maedchen nicht bloss die
Namen nennen, sondern mitunter auch eine Geschichte dazu geben.

Das alles war unterhaltlich und erheiternd fuer Effi. Gerade am
Johannistag aber traf es sich, dass kurz vor elf Uhr vormittags, wo
sonst der Verkehr vom Dampfschiff her am buntesten vorueberflutete,
statt der mit Ehepaaren, Kindern und Reisekoffern besetzten Droschken
aus der Mitte der Stadt her ein schwarz verhangener Wagen (dem sich
zwei Trauerkutschen anschlossen) die zur Plantage fuehrende Strasse
herunterkam und vor dem der landraetlichen Wohnung gegenueber
gelegenen Hause hielt. Die verwitwete Frau Registrator Rode war
naemlich drei Tage vorher gestorben, und nach Eintreffen der in aller
Kuerze benachrichtigten Berliner Verwandten war seitens ebendieser
beschlossen worden, die Tote nicht nach Berlin hin ueberzufuehren,
sondern auf dem Kessiner Duenenkirchhof begraben zu wollen. Effi stand
am Fenster und sah neugierig auf die sonderbar feierliche Szene,
die sich drueben abspielte. Die zum Begraebnis von Berlin her
Eingetroffenen waren zwei Neffen mit ihren Frauen, alle gegen Vierzig,
etwas mehr oder weniger, und von beneidenswert gesunder Gesichtsfarbe.
Die Neffen, in gutsitzenden Fracks, konnten passieren, und die
nuechterne Geschaeftsmaessigkeit, die sich in ihrem gesamten Tun
ausdrueckte, war im Grunde mehr kleidsam als stoerend. Aber die beiden
Frauen! Sie waren ganz ersichtlich bemueht, den Kessinern zu zeigen,
was eigentlich Trauer sei, und trugen denn auch lange, bis an die
Erde reichende schwarze Kreppschleier, die zugleich ihr Gesicht
verhuellten. Und nun wurde der Sarg, auf dem einige Kraenze und sogar
ein Palmwedel lagen, auf den Wagen gestellt, und die beiden Ehepaare
setzten sich in die Kutschen. In die erste - gemeinschaftlich mit dem
einen der beiden leidtragenden Paare - stieg auch Lindequist, hinter
der zweiten Kutsche aber ging die Hauswirtin und neben dieser die
stattliche Person, die die Verstorbene zur Aushilfe mit nach Kessin
gebracht hatte. Letztere war sehr aufgeregt und schien durchaus
ehrlich darin, wenn dies Aufgeregtsein auch vielleicht nicht gerade
Trauer war; der sehr heftig schluchzenden Hauswirtin aber, einer
Witwe, sah man dagegen fast allzu deutlich an, dass sie sich
bestaendig die Moeglichkeit eines Extrageschenkes berechnete, trotzdem
sie in der bevorzugten und von anderen Wirtinnen auch sehr beneideten
Lage war, die fuer den ganzen Sommer vermietete Wohnung noch einmal
vermieten zu koennen.

Effi, als der Zug sich in Bewegung setzte, ging in ihren hinter dem
Hof gelegenen Garten, um hier, zwischen den Buchsbaumbeeten, den
Eindruck des Lieb- und Leblosen, den die ganze Szene drueben auf
sie gemacht hatte, wieder loszuwerden. Als dies aber nicht gluecken
wollte, kam ihr die Lust, statt ihrer eintoenigen Gartenpromenade
lieber einen weiteren Spaziergang zu machen, und zwar um so mehr, als
ihr der Arzt gesagt hatte, viel Bewegung im Freien sei das Beste, was
sie bei dem, was ihr bevorstaende, tun koenne. Johanna, die mit im
Garten war, brachte ihr denn auch Umhang, Hut und Entoutcas, und mit
einem freundlichen "Guten Tag" trat Effi aus dem Hause heraus und ging
auf das Waeldchen zu, neben dessen breitem chaussierten Mittelweg ein
schmalerer Fusssteig auf die Duenen und das am Strand gelegene Hotel
zulief. Unterwegs standen Baenke, von denen sie jede benutzte, denn
das Gehen griff sie an, und um so mehr, als inzwischen die heisse
Mittagsstunde herangekommen war. Aber wenn sie sass und von ihrem
bequemen Platz aus die Wagen und die Damen in Toilette beobachtete,
die da hinausfuhren, so belebte sie sich wieder. Denn Heiteres sehen,
war ihr wie Lebensluft. Als das Waeldchen aufhoerte, kam freilich noch
eine allerschlimmste Wegstelle - Sand und wieder Sand, und nirgends
eine Spur von Schatten; aber gluecklicherweise waren hier Bohlen und
Bretter gelegt, und so kam sie, wenn auch erhitzt und muede, doch
in guter Laune bei dem Strandhotel an. Drinnen im Saal wurde schon
gegessen, aber hier draussen um sie her war alles still und leer, was
ihr in diesem Augenblick denn auch das liebste war. Sie liess sich ein
Glas Sherry und eine Flasche Biliner Wasser bringen und sah auf das
Meer hinaus, das im hellen Sonnenlichte schimmerte, waehrend es am
Ufer in kleinen Wellen brandete. "Da drueben liegt Bornholm und
dahinter Wisby, wovon mir Jahnke vor Zeiten immer Wunderdinge
vorschwaermte. Und hinter Wisby kommt Stockholm, wo das Stockholmer
Blutbad war, und dann kommen die grossen Stroeme und dann das Nordkap
und dann die Mitternachtssonne." Und im Augenblick erfasste sie eine
Sehnsucht, das alles zu sehen. Aber dann gedachte sie wieder dessen,
was ihr so nahe bevorstand, und sie erschrak fast. "Es ist eine
Suende, dass ich so leichtsinnig bin und solche Gedanken habe und
mich wegtraeume, waehrend ich doch an das naechste denken muesste.
Vielleicht bestraft es sich auch noch, und alles stirbt hin, das Kind
und ich. Und der Wagen und die zwei Kutschen, die halten dann nicht
drueben vor dem Hause, die halten dann bei uns ... Nein, nein, ich mag
hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will nach
Hohen-Cremmen. Und Lindequist, so gut er ist - aber Niemeyer ist mir
lieber; er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer
soll mich auch begraben." Und dabei fiel eine Traene auf ihre Hand.
Dann aber lachte sie wieder. "Ich lebe ja noch und bin erst siebzehn,
und Niemeyer ist siebenundfuenfzig."

In dem Esssaal hoerte sie das Geklapper des Geschirrs. Aber mit einem
Male war es ihr, als ob die Stuehle geschoben wuerden; vielleicht
stand man schon auf, und sie wollte jede Begegnung vermeiden. So erhob
sie sich auch ihrerseits rasch wieder von ihrem Platz, um auf einem
Umweg nach der Stadt zurueckzukehren. Dieser Umweg fuehrte sie dicht
an dem Duenenkirchhof vorueber, und weil der Torweg des Kirchhofs
gerade offenstand, trat sie ein. Alles bluehte hier, Schmetterlinge
flogen ueber die Graeber hin, und hoch in den Lueften standen ein paar
Moewen. Es war so still und schoen, und sie haette hier gleich bei
den ersten Graebern verweilen moegen; aber weil die Sonne mit jedem
Augenblick heisser niederbrannte, ging sie hoeher hinauf, auf einen
schattigen Gang zu, den Haengeweiden und etliche an den Graebern
stehende Trauereschen bildeten. Als sie bis an das Ende dieses Ganges
gekommen, sah sie zur Rechten einen frisch aufgeworfenen Sandhuegel,
mit vier, fuenf Kraenzen darauf, und dicht daneben eine schon
ausserhalb der Baumreihe stehende Bank, darauf die gute, robuste
Person sass, die an der Seite der Hauswirtin dem Sarge der verwitweten
Registratorin als letzte Leidtragende gefolgt war. Effi erkannte sie
sofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt, die gute, treue Person,
denn dafuer musste sie sie halten, in sengender Sonnenhitze hier
vorzufinden. Seit dem Begraebnis waren wohl an zwei Stunden vergangen.
"Es ist eine heisse Stelle, die Sie sich da ausgesucht haben", sagte
Effi, "viel zu heiss. Und wenn ein Unglueck kommen soll, dann haben
Sie den Sonnenstich." "Das waere auch das beste." "Wie das?" - "Dann
waer ich aus der Welt." "Ich meine, das darf man nicht sagen, auch
wenn man ungluecklich ist oder wenn einem wer gestorben ist, den
man liebhatte. Sie hatten sie wohl sehr lieb?" "Ich? Die? I, Gott
bewahre." "Sie sind aber doch sehr traurig. Das muss doch einen Grund
haben." "Den hat es auch, gnaedigste Frau." "Kennen Sie mich?" "Ja.
Sie sind die Frau Landraetin von drueben. Und ich habe mit der Alten
immer von Ihnen gesprochen. Zuletzt konnte sie nicht mehr, weil sie
keine rechte Luft mehr hatte, denn es sass ihr hier und wird wohl
Wasser gewesen sein; aber solange sie noch reden konnte, redete sie
immerzu. Es war ne richtige Berlinsche ..." - "Gute Frau?" "Nein; wenn
ich das sagen wollte, muesst ich luegen. Da liegt sie nun, und man
soll von einem Toten nichts Schlimmes sagen, und erst recht nicht,
wenn er so kaum seine Ruhe hat. Na, die wird sie ja wohl haben! Aber
sie taugte nichts und war zaenkisch und geizig, und fuer mich hat sie
auch nicht gesorgt. Und die Verwandtschaft, die da gestern von Berlin
gekommen ... gezankt haben sie sich bis in die sinkende Nacht ... na,
die taugt auch nichts, die taugt erst recht nichts. Lauter schlechtes
Volk, happig und gierig und hartherzig, und haben mir barsch und
unfreundlich und mit allerlei Redensarten meinen Lohn ausgezahlt,
bloss weil sie mussten und weil es bloss noch sechs Tage sind bis
zum Vierteljahresersten. Sonst haette ich nichts gekriegt oder bloss
halb oder bloss ein Viertel. Nichts aus freien Stuecken. Und einen
eingerissenen Fuenfmarkschein haben sie mir gegeben, dass ich nach
Berlin zurueckreisen kann; na, es reicht so gerade fuer die vierte
Klasse, und ich werde wohl auf meinem Koffer sitzen muessen. Aber ich
will auch gar nicht; ich will hier sitzen bleiben und warten, bis ich
sterbe ... Gott, ich dachte nun mal Ruhe zu haben und haette auch
ausgehalten bei der Alten. Und nun ist es wieder nichts und soll mich
wieder rumstossen lassen. Und kattolsch bin ich auch noch. Ach, ich
hab es satt und laeg am liebsten, wo die Alte liegt, und sie koennte
meinetwegen weiterleben ... Sie haette gerne noch weitergelebt; solche
Menschenschikanierer, die nich mal Luft haben, die leben immer am
liebsten."

Rollo, der Effi begleitet hatte, hatte sich mittlerweile vor die
Person hingesetzt, die Zunge weit heraus, und sah sie an. Als sie
jetzt schwieg, erhob er sich, ging einen Schritt vor und legte seinen
Kopf auf ihre Knie.

Mit einem Male war die Person wie verwandelt. "Gott, das bedeutet mir
was. Das is ja 'ne Kreatur, die mich leiden kann, die mich freundlich
ansieht und ihren Kopf auf meine Knie legt. Gott, das ist lange her,
dass ich so was gehabt habe. Nu, mein Alterchen, wie heisst du denn?
Du bist ja ein Prachtkerl." - "Rollo", sagte Effi.

"Rollo; das ist sonderbar. Aber der Name tut nichts. Ich habe auch
einen sonderbaren Namen, das heisst Vornamen. Und einen andern hat
unsereins ja nicht."

"Wie heissen Sie denn?" - "Ich heisse Roswitha." "Ja, das ist selten,
das ist ja ..."

"Ja, ganz recht, gnaedige Frau, das ist ein kattolscher Name. Und das
kommt auch noch dazu, dass ich eine Kattolsche bin.

Aus'n Eichsfeld. Und das Kattolsche, das macht es einem immer noch
schwerer und saurer. Viele wollen keine Kattolsche, weil sie so viel
in die Kirche rennen. 'Immer in die Beichte; und die Hauptsache sagen
sie doch nich' - Gott, wie oft hab ich das hoeren muessen, erst als
ich in Giebichenstein im Dienst war und dann in Berlin. Ich bin
aber eine schlechte Katholikin und bin ganz davon abgekommen, und
vielleicht geht es mir deshalb so schlecht; ja, man darf nich von
seinem Glauben lassen und muss alles ordentlich mitmachen."

"Roswitha", wiederholte Effi den Namen und setzte sich zu ihr auf die
Bank. "Was haben Sie nun vor?"

"Ach, gnaed'ge Frau, was soll ich vorhaben. Ich habe gar nichts vor.
Wahr und wahrhaftig, ich moechte hier sitzen bleiben und warten, bis
ich tot umfalle. Das waere mir das liebste. Und dann wuerden die Leute
noch denken, ich haette die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und
haette von ihrem Grab nicht weggewollt und waere da gestorben. Aber
das ist falsch, fuer solche Alte stirbt man nicht; ich will bloss
sterben, weil ich nicht leben kann."

"Ich will Sie was fragen, Roswitha. Sind Sie, was man so 'kinderlieb'
nennt? Waren Sie schon mal bei kleinen Kindern?"

"Gewiss war ich. Das ist ja mein Bestes und Schoenstes. Solche alte
Berlinsche - Gott verzeih mir die Suende, denn sie ist nun tot und
steht vor Gottes Thron und kann mich da verklagen -, solche Alte, wie
die da, ja, das ist schrecklich, was man da alles tun muss, und steht
einem hier vor Brust und Magen, aber solch kleines, liebes Ding, solch
Dingelchen wie ne Puppe, das einen mit seinen Guckaeugelchen ansieht,
ja, das ist was, da geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, da
war ich Amme bei der Frau Salzdirektorin, und in Giebichenstein, wo
ich nachher hinkam, da hab ich Zwillinge mit der Flasche grossgezogen;
ja, gnaed'ge Frau, das versteh ich, da drin bin ich wie zu Hause."

"Nun, wissen Sie was, Roswitha, Sie sind eine gute, treue Person, das
seh ich Ihnen an, ein bisschen gradezu, aber das schadet nichts, das
sind mitunter die Besten, und ich habe gleich ein Zutrauen zu Ihnen
gefasst. Wollen Sie mit zu mir kommen? Mir ist, als haette Gott Sie
mir geschickt. Ich erwarte nun bald ein Kleines, Gott gebe mir seine
Hilfe dazu, und wenn das Kind da ist, dann muss es gepflegt und
abgewartet werden und vielleicht auch gepaeppelt. Man kann das ja
nicht wissen, wiewohl ich es anders wuensche. Was meinen Sie, wollen
Sie mit zu mir kommen? Ich kann mir nicht denken, dass ich mich in
Ihnen irre."

Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau
ergriffen und kuesste sie mit Ungestuem. "Ach, es ist doch ein Gott im
Himmel, und wenn die Not am groessten ist, ist die Hilfe am naechsten.
Sie sollen sehn, gnaed'ge Frau, es geht; ich bin eine ordentliche
Person und habe gute Zeugnisse. Das koennen Sie sehn, wenn ich Ihnen
mein Buch bringe. Gleich den ersten Tag, als ich die gnaed'ge Frau
sah, da dacht ich: 'Ja, wenn du mal solchen Dienst haettest.' Und nun
soll ich ihn haben. O du lieber Gott, o du heil'ge Jungfrau Maria, wer
mir das gesagt haette, wie wir die Alte hier unter der Erde hatten
und die Verwandten machten, dass sie wieder fortkamen, und mich hier
sitzenliessen."

"Ja, unverhofft kommt oft, Roswitha, und mitunter auch im Guten. Und
nun wollen wir gehen. Rollo wird schon ungeduldig und laeuft immer auf
das Tor zu."

Roswitha war gleich bereit, trat aber noch einmal an das Grab,
brummelte was vor sich hin und machte ein Kreuz. Und dann gingen sie
den schattigen Gang hinunter und wieder auf das Kirchhofstor zu.

Drueben lag die eingegitterte Stelle, deren weisser Stein in der
Nachmittagssonne blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt ruhiger
hinsehen. Eine Weile noch fuehrte der Weg zwischen Duenen hin,
bis sie, dicht vor Utpatels Muehle, den Aussenrand des Waeldchens
erreichte. Da bog sie links ein, und unter Benutzung einer
schraeglaufenden Allee, die die "Reeperbahn" hiess, ging sie mit
Roswitha auf die landraetliche Wohnung zu.



Vierzehntes Kapitel

Keine Viertelstunde, so war die Wohnung erreicht. Als beide hier
in den kuehlen Flur traten, war Roswitha beim Anblick all des
Sonderbaren, das da herumhing, wie befangen; Effi aber liess sie nicht
zu weiteren Betrachtungen kommen und sagte: "Roswitha, nun gehen Sie
da hinein. Das ist das Zimmer, wo wir schlafen. Ich will erst zu
meinem Mann nach dem Landratsamt hinueber - das grosse Haus da neben
dem kleinen, in dem Sie gewohnt haben - und will ihm sagen, dass ich
Sie zur Pflege haben moechte bei dem Kinde. Er wird wohl mit allem
einverstanden sein, aber ich muss doch erst seine Zustimmung haben.
Und wenn ich die habe, dann muessen wir ihn ausquartieren, und Sie
schlafen mit mir in dem Alkoven. Ich denke, wir werden uns schon
vertragen."

Innstetten, als er erfuhr, um was sich's handle, sagte rasch und
in guter Laune: "Das hast du recht gemacht, Effi, und wenn ihr
Gesindebuch nicht zu schlimme Sachen sagt, so nehmen wir sie auf ihr
gutes Gesicht hin. Es ist doch, Gott sei Dank, selten, dass einen das
taeuscht."

Effi war sehr gluecklich, so wenig Schwierigkeiten zu begegnen, und
sagte: "Nun wird es gehen. Ich fuerchte mich jetzt nicht mehr."

"Um was, Effi?"

"Ach, du weisst ja ... Aber Einbildungen sind das schlimmste, mitunter
schlimmer als alles."

Roswitha zog in selbiger Stunde noch mit ihren paar Habseligkeiten
in das landraetliche Haus hinueber und richtete sich in dem kleinen
Alkoven ein. Als der Tag um war, ging sie frueh zu Bett und schlief,
ermuedet wie sie war, gleich ein. Am andern Morgen erkundigte sich
Effi - die seit einiger Zeit (denn es war gerade Vollmond) wieder in
Aengsten lebte -, wie Roswitha geschlafen und ob sie nichts gehoert
habe.

"Was?" fragte diese.

"Oh, nichts. Ich meine nur so; so was, wie wenn ein Besen fegt oder
wie wenn einer ueber die Diele schlittert."

Roswitha lachte, was auf ihre junge Herrin einen besonders guten
Eindruck machte. Effi war fest protestantisch erzogen und wuerde sehr
erschrocken gewesen sein, wenn man an und in ihr was Katholisches
entdeckt haette; trotzdem glaubte sie, dass der Katholizismus
uns gegen solche Dinge "wie da oben" besser schuetze; ja, diese
Betrachtung hatte bei dem Plan, Roswitha ins Haus zu nehmen, ganz
erheblich mitgewirkt.

Man lebte sich schnell ein, denn Effi hatte ganz den liebenswuerdigen
Zug der meisten maerkischen Landfraeulein, sich gern allerlei
kleine Geschichten erzaehlen zu lassen, und die verstorbene Frau
Registratorin und ihr Geiz und ihre Neffen und ihre Frauen boten einen
unerschoepflichen Stoff. Auch Johanna hoerte dabei gerne zu.

Diese, wenn Effi bei den drastischen Stellen oft laut lachte,
laechelte freilich und verwunderte sich im stillen, dass die gnaedige
Frau an all dem dummen Zeug soviel Gefallen finde; diese Verwunderung
aber, die mit einem starken Ueberlegenheitsgefuehl Hand in Hand
ging, war doch auch wieder ein Glueck und sorgte dafuer, dass keine
Rangstreitigkeiten aufkommen konnten. Roswitha war einfach die
komische Figur, und Neid gegen sie zu hegen waere fuer Johanna nichts
anderes gewesen, wie wenn sie Rollo um seine Freundschaftsstellung
beneidet haette.

So verging eine Woche, plauderhaft und beinahe gemuetlich, weil Effi
dem, was ihr persoenlich bevorstand, ungeaengstigter als frueher
entgegensah. Auch glaubte sie nicht, dass es so nahe sei. Den neunten
Tag aber war es mit dem Plaudern und den Gemuetlichkeiten vorbei; da
gab es ein Laufen und Rennen, Innstetten selbst kam ganz aus seiner
gewohnten Reserve heraus, und am Morgen des 3. Juli stand neben Effis
Bett eine Wiege. Doktor Hannemann patschelte der jungen Frau die Hand
und sagte: "Wir haben heute den Tag von Koeniggraetz; schade, dass es
ein Maedchen ist. Aber das andere kann ja nachkommen, und die Preussen
haben viele Siegestage." Roswitha mochte wohl Aehnliches denken,
freute sich indessen vorlaeufig ganz uneingeschraenkt ueber das, was
da war, und nannte das Kind ohne weiteres "Luett-Annie", was der
jungen Mutter als ein Zeichen galt. Es muesse doch wohl eine Eingebung
gewesen sein, dass Roswitha gerade auf diesen Namen gekommen sei.
Selbst Innstetten wusste nichts dagegen zu sagen, und so wurde von
Klein Annie gesprochen, lange bevor der Tauftag da war. Effi, die von
Mitte August an bei den Eltern in Hohen-Cremmen sein wollte, haette
die Taufe gern bis dahin verschoben. Aber es liess sich nichts tun;
Innstetten konnte nicht Urlaub nehmen, und so wurde denn der 15.
August, trotzdem es der Napoleonstag war (was denn auch von seiten
einiger Familien beanstandet wurde), fuer diesen Taufakt festgesetzt,
natuerlich in der Kirche. Das sich anschliessende Festmahl, weil
das landraetliche Haus keinen Saal hatte, fand in dem grossen
Ressourcen-Hotel am Bollwerk statt, und der gesamte Nachbaradel war
geladen und auch erschienen. Pastor Lindequist liess Mutter und Kind
in einem liebenswuerdigen und allseitig bewunderten Toaste leben, bei
welcher Gelegenheit Sidonie von Grasenabb zu ihrem Nachbar, einem
adligen Assessor von der strengen Richtung, bemerkte: "Ja, seine
Kasualreden, das geht. Aber seine Predigten kann er vor Gott und
Menschen nicht verantworten; er ist ein Halber, einer von denen, die
verworfen sind, weil sie lau sind. Ich mag das Bibelwort hier nicht
woertlich zitieren." Gleich danach nahm auch der alte Herr von Borcke
das Wort, um Innstetten leben zu lassen. "Meine Herrschaften, es sind
schwere Zeiten, in denen wir leben, Auflehnung, Trotz, Indisziplin
wohin wir blicken. Aber solange wir noch Maenner haben, und ich darf
hinzusetzen, Frauen und Muetter (und hier verbeugte er sich mit einer
eleganten Handbewegung gegen Effi) ... solange wir noch Maenner haben
wie Baron Innstetten, den ich stolz bin, meinen Freund nennen zu
duerfen, so lange geht es noch, so lange haelt unser altes Preussen
noch. Ja, meine Freunde, Pommern und Brandenburg, damit zwingen wir's
und zertreten dem Drachen der Revolution das giftige Haupt. Fest und
treu, so siegen wir. Die Katholiken, unsere Brueder, die wir, auch
wenn wir sie bekaempfen, achten muessen, haben den 'Felsen Petri', wir
aber haben den 'Rocher de bronce'. Baron Innstetten, er lebe hoch!"
Innstetten dankte ganz kurz. Effi sagte zu dem neben ihr sitzenden
Major von Crampas, das mit dem "Felsen Petri" sei wahrscheinlich eine
Huldigung gegen Roswitha gewesen; sie werde nachher an den alten
Justizrat Gadebusch herantreten und ihn fragen, ob er nicht Ihrer
Meinung sei. Crampas nahm diese Bemerkung unerklaerlicherweise fuer
Ernst und riet von einer Anfrage bei dem Justizrat ab, was Effi
ungemein erheiterte. "Ich habe Sie doch fuer einen besseren
Seelenleser gehalten." "Ach, meine Gnaedigste, bei schoenen jungen
Frauen, die noch nicht achtzehn sind, scheitert alle Lesekunst."

"Sie verderben sich vollends, Major. Sie koennen mich eine Grossmutter
nennen, aber Anspielungen darauf, dass ich noch nicht achtzehn bin,
das kann Ihnen nie verziehen werden."

Als man von Tisch aufgestanden war, kam der Spaetnachmittagsdampfer
die Kessine herunter und legte an der Landungsbruecke, gegenueber dem
Hotel, an. Effi sass mit Crampas und Gieshuebler beim Kaffee, alle
Fenster auf, und sah dem Schauspiel drueben zu. "Morgen frueh um neun
fuehrt mich dasselbe Schiff den Fluss hinauf, und zu Mittag bin ich in
Berlin, und am Abend bin ich in Hohen-Cremmen, und Roswitha geht neben
mir und haelt das Kind auf dem Arm. Hoffentlich schreit es nicht. Ach,
wie mir schon heute zumute ist! Lieber Gieshuebler, sind Sie auch mal
so froh gewesen, Ihr elterliches Haus wiederzusehen?"

"Ja, ich kenne das auch, gnaedigste Frau. Nur bloss, ich brachte kein
Anniechen mit, weil ich keins hatte."

"Kommt noch", sagte Crampas. "Stossen Sie an, Gieshuebler; Sie sind
der einzige vernuenftige Mensch hier."

"Aber, Herr Major, wir haben ja bloss noch den Kognak." "Desto
besser."



Fuenfzehntes Kapitel

Mitte August war Effi abgereist, Ende September war sie wieder in
Kessin. Manchmal in den zwischenliegenden sechs Wochen hatte sie's
zurueckverlangt; als sie aber wieder da war und in den dunklen Flur
eintrat, auf den nur von der Treppenstiege her ein etwas fahles Licht
fiel, wurde ihr mit einemmal wieder bang, und sie sagte leise: "Solch
fahles, gelbes Licht gibt es in Hohen-Cremmen gar nicht."

Ja, ein paarmal waehrend ihrer Hohen-Cremmer Tage hatte sie Sehnsucht
nach dem "verwunschenen Hause" gehabt, alles in allem aber war ihr
doch das Leben daheim voller Glueck und Zufriedenheit gewesen. Mit
Hulda freilich, die's nicht verwinden konnte, noch immer auf Mann
oder Braeutigam warten zu muessen, hatte sie sich nicht recht stellen
koennen, desto besser dagegen mit den Zwillingen, und mehr als einmal,
wenn sie mit ihnen Ball oder Krocket gespielt hatte, war ihr's ganz
aus dem Sinn gekommen, ueberhaupt verheiratet zu sein. Das waren dann
glueckliche Viertelstunden gewesen. Am liebsten aber hatte sie wie
frueher auf dem durch die Luft fliegenden Schaukelbrett gestanden und
in dem Gefuehl "jetzt stuerz ich" etwas eigentuemlich Prickelndes,
einen Schauer suesser Gefahr empfunden. Sprang sie dann schliesslich
von der Schaukel ab, so begleitete sie die beiden Maedchen bis an die
Bank vor dem Schulhause und erzaehlte, wenn sie dasassen, dem alsbald
hinzukommenden Jahnke von ihrem Leben in Kessin, das halb hanseatisch
und halb skandinavisch und jedenfalls sehr anders als in Schwantikow
und Hohen-Cremmen sei.

Das waren so die taeglichen kleinen Zerstreuungen, an die sich
gelegentlich auch Fahrten in das sommerliche Luch schlossen, meist im
Jagdwagen; allem voran aber standen fuer Effi doch die Plaudereien,
die sie beinahe jeden Morgen mit der Mama hatte. Sie sassen dann oben
in der luftigen grossen Stube, Roswitha wiegte das Kind und sang in
einem thueringischen Platt allerlei Wiegenlieder, die niemand recht
verstand, vielleicht sie selber nicht; Effi und Frau von Briest aber
rueckten ans offene Fenster und sahen, waehrend sie sprachen, auf den
Park hinunter, auf die Sonnenuhr oder auf die Libellen, die beinahe
regungslos ueber dem Tisch standen, oder auch auf den Fliesengang, wo
Herr von Briest neben dem Treppenvorbau sass und die Zeitungen las.
Immer wenn er umschlug, nahm er zuvor den Kneifer ab und gruesste
zu Frau und Tochter hinauf. Kam dann das letzte Blatt an die Reihe,
das in der Regel der "Anzeiger fuers Havelland" war, so ging Effi
hinunter, um sich entweder zu ihm zu setzen oder um mit ihm durch
Garten und Park zu schlendern. Einmal bei solcher Gelegenheit traten
sie, von dem Kiesweg her, an ein kleines, zur Seite stehendes Denkmal
heran, das schon Briests Grossvater zur Erinnerung an die Schlacht von
Waterloo hatte aufrichten lassen, eine verrostete Pyramide mit einem
gegossenen Bluecher in Front und einem dito Wellington auf der
Rueckseite.

"Hast du nun solche Spaziergaenge auch in Kessin", sagte Briest, "und
begleitet dich Innstetten auch und erzaehlt dir allerlei?"

"Nein, Papa, solche Spaziergaenge habe ich nicht. Das ist
ausgeschlossen denn wir haben bloss einen kleinen Garten hinter
dem Haus, der eigentlich kaum ein Garten ist, bloss ein paar
Buchsbaumrabatten und Gemuesebeete mit drei, vier Obstbaeumen drin.
Innstetten hat keinen Sinn dafuer und denkt wohl auch nicht sehr lange
mehr in Kessin zu bleiben."

"Aber Kind, du musst doch Bewegung haben und frische Luft, daran bist
du doch gewoehnt."

"Hab ich auch. Unser Haus liegt an einem Waeldchen, das sie die
Plantage nennen. Und da geh ich denn viel spazieren und Rollo mit
mir."

"Immer Rollo", lachte Briest. "Wenn man's nicht anders wuesste, so
sollte man beinah glauben, Rollo sei dir mehr ans Herz gewachsen als
Mann und Kind."

"Ach, Papa, das waere ja schrecklich, wenn's auch freilich -soviel
muss ich zugeben - eine Zeit gegeben hat, wo's ohne Rollo gar nicht
gegangen waere. Das war damals ... nun, du weisst schon ... Da hat er
mich so gut wie gerettet, oder ich habe mir's wenigstens eingebildet,
und seitdem ist er mein guter Freund und mein ganz besonderer Verlass.
Aber er ist doch bloss ein Hund. Und erst kommen doch natuerlich die
Menschen."

"Ja, das sagt man immer, aber ich habe da doch so meine Zweifel. Das
mit der Kreatur, damit hat's doch seine eigene Bewandtnis, und was
da das Richtige ist, darueber sind die Akten noch nicht geschlossen.
Glaube mir, Effi, das ist auch ein weites Feld. Wenn ich mir so denke,
da verunglueckt einer auf dem Wasser oder gar auf dem schuelbrigen
Eis, und solch ein Hund, sagen wir, so einer wie dein Rollo, ist
dabei, ja, der ruht nicht eher, als bis er den Verunglueckten wieder
an Land hat. Und wenn der Verunglueckte schon tot ist, dann legt er
sich neben den Toten hin und blafft und winselt so lange, bis wer
kommt, und wenn keiner kommt, dann bleibt er bei dem Toten liegen, bis
er selber tot ist. Und das tut solch Tier immer. Und nun nimm dagegen
die Menschheit! Gott, vergib mir die Suende, aber mitunter ist mir's
doch, als ob die Kreatur besser waere als der Mensch."

"Aber, Papa, wenn ich das Innstetten wiedererzaehlte ...""Nein, das tu
lieber nicht, Effi ..."

"Rollo wuerde mich ja natuerlich retten, aber Innstetten wuerde mich
auch retten. Er ist ja ein Mann von Ehre."

"Das ist er."

"Und liebt mich."

"Versteht sich, versteht sich. Und wo Liebe ist, da ist auch
Gegenliebe. Das ist nun mal so. Mich wundert nur, dass er nicht mal
Urlaub genommen hat und ruebergeflitzt ist. Wenn man eine so junge
Frau hat ..."

Effi erroetete, weil sie geradeso dachte. Sie mochte es aber nicht
einraeumen. "Innstetten ist so gewissenhaft und will, glaub ich, gut
angeschrieben sein und hat so seine Plaene fuer die Zukunft; Kessin
ist doch bloss eine Station. Und dann am Ende, ich lauf ihm ja nicht
fort. Er hat mich ja. Wenn man zu zaertlich ist ... und dazu der
Unterschied der Jahre ... da laecheln die Leute bloss."

"Ja, das tun sie, Effi. Aber darauf muss man's ankommen lassen.
Uebrigens sage nichts darueber, auch nicht zu Mama. Es ist so schwer,
was man tun und lassen soll. Das ist auch ein weites Feld."

Gespraeche wie diese waren waehrend Effis Besuch im elterlichen Hause
mehr als einmal gefuehrt worden, hatten aber gluecklicherweise nicht
lange nachgewirkt, und ebenso war auch der etwas melancholische
Eindruck rasch verflogen, den das erste Wiederbetreten ihres Kessiner
Hauses auf Effi gemacht hatte. Innstetten zeigte sich voll kleiner
Aufmerksamkeiten, und als der Tee genommen und alle Stadt- und
Liebesgeschichten in heiterster Stimmung durchgesprochen waren,
haengte sich Effi zaertlich an seinen Arm, um drueben ihre Plaudereien
mit ihm fortzusetzen und noch einige Anekdoten von der Trippelli zu
hoeren, die neuerdings wieder mit Gieshuebler in einer lebhaften
Korrespondenz gestanden hatte, was immer gleichbedeutend mit einer
neuen Belastung ihres nie ausgeglichenen Kontos war. Effi war bei
diesem Gespraech sehr ausgelassen, fuehlte sich ganz als junge Frau
und war froh, die nach der Gesindestube hin ausquartierte Roswitha auf
unbestimmte Zeit los zu sein.

Am anderen Morgen sagte sie: "Das Wetter ist schoen und mild, und ich
hoffe, die Veranda nach der Plantage hinaus ist noch in gutem Stande,
und wir koennen uns ins Freie setzen und da das Fruehstueck nehmen. In
unsere Zimmer kommen wir ohnehin noch frueh genug, und der Kessiner
Winter ist wirklich um vier Wochen zu lang."

Innstetten war sehr einverstanden. Die Veranda, von der Effi
gesprochen und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden waere,
war schon im Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effis
Abreise nach Hohen-Cremmen, und bestand aus einem grossen, gedielten
Podium, vorn offen, mit einer maechtigen Markise zu Haeupten, waehrend
links und rechts breite Leinwandvorhaenge waren, die sich mit Hilfe
von Ringen an einer Eisenstange hin und her schieben liessen. Es war
ein reizender Platz, den ganzen Sommer ueber von allen Badegaesten,
die hier vorueber mussten, bewundert.

Effi hatte sich in einen Schaukelstuhl gelehnt und sagte, waehrend
sie das Kaffeebrett von der Seite her ihrem Manne zuschob: "Geert, du
koenntest heute den liebenswuerdigen Wirt machen; ich fuer mein Teil
find es so schoen in diesem Schaukelstuhl, dass ich nicht aufstehen
mag. Also strenge dich an, und wenn du dich recht freust, mich wieder
hier zu haben, so werd ich mich auch zu revanchieren wissen." Und
dabei zupfte sie die weisse Damastdecke zurecht und legte ihre Hand
darauf, die Innstetten nahm und kuesste.

"Wie bist du nur eigentlich ohne mich fertig geworden?"

"Schlecht genug, Effi."

"Das sagst du so hin und machst ein betruebtes Gesicht, und ist doch
eigentlich alles nicht wahr."

"Aber Effi ...

"Was ich dir beweisen will. Denn wenn du ein bisschen Sehnsucht
nach deinem Kinde gehabt haettest - von mir selber will ich nicht
sprechen, was ist man am Ende solchem hohen Herrn, der so lange Jahre
Junggeselle war und es nicht eilig hatte ..."

"Nun?"

"Ja, Geert, wenn du nur ein bisschen Sehnsucht gehabt haettest, so
haettest du mich nicht sechs Wochen mutterwindallein in Hohen-Cremmen
sitzen lassen wie eine Witwe, und nichts da als Niemeyer und Jahnke
und mal die Schwantikower. Und von den Rathenowern ist niemand
gekommen, als ob sie sich vor mir gefuerchtet haetten oder als ob ich
zu alt geworden sei."

"Ach, Effi, wie du nur sprichst. Weisst du, dass du eine kleine
Kokette bist?"

"Gott sei Dank, dass du das sagst. Das ist fuer euch das Beste, was
man sein kann. Und du bist nichts anderes als die anderen, wenn du
auch so feierlich und ehrsam tust. Ich weiss es recht gut, Geert ...
Eigentlich bist du ..."

"Nun, was?"

"Nun, ich will es lieber nicht sagen. Aber ich kenne dich recht
gut; du bist eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal sagte, ein
Zaertlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren, und Onkel Belling
hatte ganz recht, als er das sagte. Du willst es bloss nicht zeigen
und denkst, es schickt sich nicht und verdirbt einem die Karriere. Hab
ich's getroffen?"

Innstetten lachte. "Ein bisschen getroffen hast du's. Weisst du was,
Effi, du kommst mir ganz anders vor. Bis Anniechen da war, warst du
ein Kind. Aber mit einemmal ..."

"Nun?"

"Mit einemmal bist du wie vertauscht. Aber es steht dir, du gefaellst
mir sehr, Effi. Weisst du was?"

"Nun?"

"Du hast was Verfuehrerisches."

"Ach, mein einziger Geert, das ist ja herrlich, was du da sagst; nun
wird mir erst recht wohl ums Herz ... Gib mir noch eine halbe Tasse
... Weisst du denn, dass ich mir das immer gewuenscht habe? Wir
muessen verfuehrerisch sein, sonst sind wir gar nichts ..."

"Hast du das aus dir?"

"Ich koennt es wohl auch aus mir haben. Aber ich hab es von Niemeyer
..."

"Von Niemeyer! O du himmlischer Vater, ist das ein Pastor. Nein,
solche gibt es hier nicht. Aber wie kam denn der dazu? Das ist ja, als
ob es irgendein Don Juan oder Herzensbrecher gesprochen haette."

"Ja, wer weiss", lachte Effi ... "Aber kommt da nicht Crampas? Und vom
Strand her. Er wird doch nicht gebadet haben? Am 27. September ..."

"Er macht oefter solche Sachen. Reine Renommisterei."

Derweilen war Crampas bis in naechste Naehe gekommen und gruesste.

"Guten Morgen", rief Innstetten ihm zu. "Nur naeher, nur naeher."

Crampas trat heran. Er war in Zivil und kuesste der in ihrem
Schaukelstuhl sich weiter wiegenden Effi die Hand. "Entschuldigen Sie
mich, Major, dass ich so schlecht die Honneurs des Hauses mache; aber
die Veranda ist kein Haus, und zehn Uhr frueh ist eigentlich gar keine
Zeit. Da wird man formlos oder, wenn Sie wollen, intim. Und nun setzen
Sie sich, und geben Sie Rechenschaft von Ihrem Tun. Denn an Ihrem Haar
(ich wuenschte Ihnen, dass es mehr waere) sieht man deutlich, dass Sie
gebadet haben."

Er nickte.

"Unverantwortlich", sagte Innstetten, halb ernst-, halb scherzhaft.
"Da haben Sie nun selber vor vier Wochen die Geschichte mit dem
Bankier Heinersdorf erlebt, der auch dachte, das Meer und der
grandiose Wellenschlag wuerden ihn um seiner Million willen
respektieren. Aber die Goetter sind eifersuechtig untereinander, und
Neptun stellte sich ohne weiteres gegen Pluto oder doch wenigstens
gegen Heinersdorf."

Crampas lachte.

"Ja, eine Million Mark! Lieber Innstetten, wenn ich die haette, da
haett ich es am Ende nicht gewagt; denn so schoen das Wetter ist,
das Wasser hatte nur neun Grad. Aber unsereins mit seiner Million
Unterbilanz, gestatten Sie mir diese kleine Renommage, unsereins kann
sich so was ohne Furcht vor der Goetter Eifersucht erlauben. Und dann
muss einen das Sprichwort troesten: 'Wer fuer den Strick geboren ist,
kann im Wasser nicht umkommen.'"

"Aber, Major, Sie werden sich doch nicht etwas so Urprosaisches, ich
moechte beinah sagen, an den Hals reden wollen. Allerdings glauben
manche, dass ... ich meine das, wovon Sie eben gesprochen haben ...
dass ihn jeder mehr oder weniger verdiene. Trotzdem, Major ... fuer
einen Major ..."

"Ist es keine herkoemmliche Todesart. Zugegeben, meine Gnaedigste.
Nicht herkoemmlich und in meinem Fall auch nicht einmal sehr
wahrscheinlich - also alles bloss Zitat oder noch richtiger facon de
parler. Und doch steckt etwas Aufrichtiggemeintes dahinter, wenn ich
da eben sagte, die See werde mir nichts anhaben. Es steht mir naemlich
fest, dass ich einen richtigen und hoffentlich ehrlichen Soldatentod
sterben werde. Zunaechst bloss Zigeunerprophezeiung, aber mit Resonanz
im eigenen Gewissen."

Innstetten lachte. "Das wird seine Schwierigkeiten haben, Crampas,
wenn Sie nicht vorhaben, beim Grosstuerken oder unterm chinesischen
Drachen Dienst zu nehmen. Da schlaegt man sich jetzt herum. Hier ist
die Geschichte, glauben Sie mir, auf dreissig Jahre vorbei, und wer
seinen Soldatentod sterben will ..."

"Der muss sich erst bei Bismarck einen Krieg bestellen. Weiss ich
alles, Innstetten. Aber das ist doch fuer Sie eine Kleinigkeit. Jetzt
haben wir Ende September; in zehn Wochen spaetestens ist der Fuerst
wieder in Varzin, und da er ein liking fuer Sie hat - mit der
volkstuemlicheren Wendung will ich zurueckhalten, um nicht direkt vor
Ihren Pistolenlauf zu kommen -, so werden Sie einem alten Kameraden
von Vionville her doch wohl ein bisschen Krieg besorgen koennen. Der
Fuerst ist auch nur ein Mensch, und Zureden hilft."

Effi hatte waehrend dieses Gespraechs einige Brotkuegelchen gedreht,
wuerfelte damit und legte sie zu Figuren zusammen, um so anzuzeigen,
dass ihr ein Wechsel des Themas wuenschenswert waere. Trotzdem schien
Innstetten auf Crampas scherzhafte Bemerkungen antworten zu wollen,
was denn Effi bestimmte, lieber direkt einzugreifen. "Ich sehe nicht
ein, Major, warum wir uns mit Ihrer Todesart beschaeftigen sollen; das
Leben ist uns naeher und zunaechst auch eine viel ernstere Sache."

Crampas nickte.

"Das ist recht, dass Sie mir recht geben. Wie soll man hier leben?
Das ist vorlaeufig die Frage, das ist wichtiger als alles andere.
Gieshuebler hat mir darueber geschrieben, und wenn es nicht indiskret
und eitel waere, denn es steht noch allerlei nebenher darin, so zeigte
ich Ihnen den Brief ... Innstetten braucht ihn nicht zu lesen, der
hat keinen Sinn fuer dergleichen ... beilaeufig eine Handschrift
wie gestochen und Ausdrucksformen, als waere unser Freund statt am
Kessiner Alten Markt an einem altfranzoesischen Hofe erzogen worden.
Und dass er verwachsen ist und weisse Jabots traegt wie kein anderer
Mensch mehr - ich weiss nur nicht, wo er die Plaetterin hernimmt
-, das passt alles so vorzueglich. Nun, also Gieshuebler hat mir
von Plaenen fuer die Ressourcenabende geschrieben und von einem
Entrepreneur namens Crampas. Sehen Sie, Major, das gefaellt mir besser
als der Soldatentod oder gar der andere."

"Mir persoenlich nicht minder. Und es muss ein Prachtwinter werden,
wenn wir uns der Unterstuetzung der gnaedigen Frau versichert halten
duerften. Die Trippelli kommt."

"Die Trippelli? Dann bin ich ueberfluessig."

"Mitnichten, gnaedigste Frau. Die Trippelli kann nicht von Sonntag
bis wieder Sonntag singen, es waere zuviel fuer sie und fuer uns;
Abwechslung ist des Lebens Reiz, eine Wahrheit, die freilich jede
glueckliche Ehe zu widerlegen scheint."

"Wenn es glueckliche Ehen gibt, die meinige ausgenommen ...", und sie
reichte Innstetten die Hand.

"Abwechslung also", fuhr Crampas fort. "Und diese fuer uns und unsere
Ressource zu gewinnen, deren Vizevorstand zu sein ich zur Zeit die
Ehre habe, dazu braucht es aller bewaehrten Kraefte. Wenn wir uns
zusammentun, so muessen wir das ganze Nest auf den Kopf stellen. Die
Theaterstuecke sind schon ausgesucht: 'Krieg im Frieden', 'Monsieur
Herkules', 'Jugendliebe' von Wildbrandt, vielleicht auch 'Euphrosyne'
von Gensichen. Sie die Euphrosyne, ich der alte Goethe. Sie sollen
staunen, wie gut ich den Dichterfuersten tragiere ... wenn 'tragieren'
das richtige Wort ist."

"Kein Zweifel. Hab ich doch inzwischen aus dem Brief meines
alchimistischen Geheimkorrespondenten erfahren, dass Sie neben
vielem anderen gelegentlich auch Dichter sind. Anfangs habe ich mich
gewundert. ..."

"Denn Sie haben es mir nicht angesehen."

"Nein. Aber seit ich weiss, dass Sie bei neun Grad baden, bin ich
anderen Sinnes geworden ... neun Grad Ostsee, das geht ueber den
kastalischen Quell ..."

"Dessen Temperatur unbekannt ist."

"Nicht fuer mich; wenigstens wird mich niemand widerlegen. Aber nun
muss ich aufstehen. Da kommt ja Roswitha mit Luett-Annie."

Und sie erhob sich rasch und ging auf Roswitha zu, nahm ihr das Kind
aus dem Arm und hielt es stolz und gluecklich in die Hoehe.



Sechzehntes Kapitel

Die Tage waren schoen und blieben es bis in den Oktober hinein. Eine
Folge davon war, dass die halbzeltartige Veranda draussen zu ihrem
Recht kam, so sehr, dass sich wenigstens die Vormittagsstunden
regelmaessig darin abspielten. Gegen elf kam dann wohl der Major, um
sich zunaechst nach dem Befinden der gnaedigen Frau zu erkundigen und
mit ihr ein wenig zu medisieren, was er wundervoll verstand, danach
aber mit Innstetten einen Ausritt zu verabreden, oft landeinwaerts,
die Kessine hinauf bis an den Breitling, noch haeufiger auf die Molen
zu. Effi, wenn die Herren fort waren, spielte mit dem Kind oder
durchblaetterte die von Gieshuebler nach wie vor ihr zugeschickten
Zeitungen und Journale, schrieb auch wohl einen Brief an die Mama oder
sagte: "Roswitha, wir wollen mit Annie spazierenfahren", und dann
spannte sich Roswitha vor den Korbwagen und fuhr, waehrend Effi
hinterherging, ein paar hundert Schritt in das Waeldchen hinein, auf
eine Stelle zu, wo Kastanien ausgestreut lagen, die man nun auflas, um
sie dem Kind als Spielzeug zu geben. In die Stadt kam Effi wenig; es
war niemand recht da, mit dem sie haette plaudern koennen, nachdem ein
Versuch, mit der Frau von Crampas auf einen Umgangsfuss zu kommen,
aufs neue gescheitert war. Die Majorin war und blieb menschenscheu.

Das ging so wochenlang, bis Effi ploetzlich den Wunsch aeusserte, mit
ausreiten zu duerfen; sie habe nun mal die Passion, und es sei doch
zuviel verlangt, bloss um des Geredes der Kessiner willen auf etwas
zu verzichten, das einem so viel wert sei. Der Major fand die Sache
kapital, und Innstetten, dem es augenscheinlich weniger passte so
wenig, dass er immer wieder hervorhob, es werde sich kein Damenpferd
finden lassen -, Innstetten musste nachgeben, als Crampas versicherte,
das solle seine Sorge sein. Und richtig, was man wuenschte, fand sich
auch, und Effi war selig, am Strand hinjagen zu koennen, jetzt wo
"Damenbad" und "Herrenbad" keine scheidenden Schreckensworte mehr
waren. Meist war auch Rollo mit von der Partie, und weil es sich ein
paarmal ereignet hatte, dass man am Strand zu rasten oder auch eine
Strecke Wegs zu Fuss zu machen wuenschte, so kam man ueberein, sich
von entsprechender Dienerschaft begleiten zu lassen, zu welchem Behufe
des Majors Bursche, ein alter Treptower Ulan, der Knut hiess, und
Innstettens Kutscher Kruse zu Reitknechten umgewandelt wurden,
allerdings ziemlich unvollkommen, indem sie, zu Effis Leidwesen, in
eine Phantasielivree gesteckt wurden, darin der eigentliche Beruf
beider noch nachspukte.

Mitte Oktober war schon heran, als man, so herausstaffiert, zum
erstenmal in voller Kavalkade aufbrach, in Front Innstetten und
Crampas, Effi zwischen ihnen, dann Kruse und Knut und zuletzt Rollo,
der aber bald, weil ihm das Nachtrotten missfiel, allen vorauf war.
Als man das jetzt oede Strandhotel passiert und bald danach, sich
rechts haltend, auf dem von einer maessigen Brandung ueberschaeumten
Strandwege den diesseitigen Molendamm erreicht hatte, verspuerte man
Lust, abzusteigen und einen Spaziergang bis an den Kopf der Mole
zu machen. Effi war die erste aus dem Sattel. Zwischen den beiden
Steindaemmen floss die Kessine breit und ruhig dem Meere zu, das wie
eine sonnenbeschienene Flaeche, darauf nur hier und da eine leichte
Welle kraeuselte, vor ihnen lag.

Effi war noch nie hier draussen gewesen, denn als sie vorigen November
in Kessin eintraf, war schon Sturmzeit, und als der Sommer kam,
war sie nicht mehr imstande, weite Gaenge zu machen. Sie war jetzt
entzueckt, fand alles gross und herrlich, erging sich in kraenkenden
Vergleichen zwischen dem Luch und dem Meer und ergriff, sooft die
Gelegenheit dazu sich bot, ein Stueck angeschwemmtes Holz, um es nach
links hin in die See oder nach rechts hin in die Kessine zu werfen.
Rollo war immer gluecklich, im Dienste seiner Herrin sich nachstuerzen
zu koennen; mit einemmal aber wurde seine Aufmerksamkeit nach einer
ganz anderen Seite hin abgezogen, und sich vorsichtig, ja beinahe
aengstlich vorwaerts schleichend, sprang er ploetzlich auf einen in
Front sichtbar werdenden Gegenstand zu, freilich vergeblich, denn im
selben Augenblick glitt von einem sonnenbeschienenen und mit gruenem
Tang ueberwachsenen Stein eine Robbe glatt und geraeuschlos in das nur
etwa fuenf Schritt entfernte Meer hinunter. Eine kurze Weile noch sah
man den Kopf, dann tauchte auch dieser unter.

Alle waren erregt, und Crampas phantasierte von Robbenjagd und dass
man das naechste Mal die Buechse mitnehmen muesse, "denn die Dinger
haben ein festes Fell".

"Geht nicht", sagte Innstetten; "Hafenpolizei."

"Wenn ich so was hoere", lachte der Major. "Hafenpolizei! Die drei
Behoerden, die wir hier haben, werden doch wohl untereinander die
Augen zudruecken koennen. Muss denn alles so furchtbar gesetzlich
sein? Gesetzlichkeiten sind langweilig."

Effi klatschte in die Haende.

"Ja, Crampas, Sie kleidet das, und Effi, wie Sie sehen, klatscht Ihnen
Beifall. Natuerlich; die Weiber schreien sofort nach einem Schutzmann,
aber von Gesetz wollen sie nichts wissen."

"Das ist so Frauenrecht von alter Zeit her, und wir werden's nicht
aendern, Innstetten."

"Nein", lachte dieser, "und ich will es auch nicht. Auf Mohrenwaesche
lasse ich mich nicht ein. Aber einer wie Sie, Crampas, der unter der
Fahne der Disziplin grossgeworden ist und recht gut weiss, dass es
ohne Zucht und Ordnung nicht geht, ein Mann wie Sie, der sollte doch
eigentlich so was nicht reden, auch nicht einmal im Spass. Indessen,
ich weiss schon, Sie haben einen himmlischen Kehr-mich-nicht-Drang und
denken, der Himmel wird nicht gleich einstuerzen. Nein, gleich nicht.
Aber mal kommt es."

Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das alles
sei mit einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht der Fall
war. Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen Vortraege,
zu denen er ueberhaupt hinneigte. "Da lob ich mir Gieshuebler", sagte
er einlenkend, "immer Kavalier und dabei doch Grundsaetze."

Der Major hatte sich mittlerweile wieder zurechtgefunden und sagte in
seinem alten Ton: "Ja, Gieshuebler; der beste Kerl von der Welt und,
wenn moeglich, noch bessere Grundsaetze. Aber am Ende woher? Warum?
Weil er einen 'Verdruss' hat. Wer gerade gewachsen ist, ist fuer
Leichtsinn. Ueberhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen
Schuss Pulver wert."

"Nun hoeren Sie, Crampas, gerade so viel kommt mitunter dabei heraus."
Und dabei sah er auf des Majors linken, etwas gekuerzten Arm. Effi
hatte von diesem Gespraech wenig gehoert. Sie war dicht an die Stelle
getreten, wo die Robbe gelegen, und Rollo stand neben ihr. Dann
sahen beide, von dem Stein weg, auf das Meer und warteten, ob die
"Seejungfrau" noch einmal sichtbar werden wuerde.

Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was Innstetten hinderte, sich
ferner an den Ausfluegen zu beteiligen und auch Crampas und Effi
haetten jetzt um der lieben Kessiner willen wohl verzichten muessen,
wenn nicht Knut und Kruse als eine Art Ehrengarde gewesen waeren.
So kam es, dass sich die Spazierritte bis in den November hinein
fortsetzten

Ein Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauern der Nordwest
trieb Wolkenmassen heran, und das Meer schaeumte maechtig, aber Regen
und Kaelte fehlten noch und so waren diese Ausfluege bei grauem
Himmel und laermender Brandung fast noch schoener, als sie vorher bei
Sonnenschein und stiller See gewesen waren. Rollo jagte vorauf, dann
und wann von der Gischt ueberspritzt, und der Schleier von Effis
Reithut flatterte im Wind. Dabei zu sprechen war fast unmoeglich; wenn
man dann aber, vom Meer fort, in die schutzgebenden Duenen oder noch
besser in den weiter zurueckgelegenen Kiefernwald einlenkte, so wurd
es still, Effis Schleier flatterte nicht mehr, und die Enge des Wegs
zwang die beiden Reiter dicht nebeneinander. Das war dann die Zeit,
wo man - schon um der Knorren und Wurzeln willen im Schritt reitend
- die Gespraeche, die der Brandungslaerm unterbrochen hatte, wieder
aufnehmen konnte. Crampas, ein guter Causeur, erzaehlte dann Kriegs-
und Regimentsgeschichten, auch Anekdoten und kleine Charakterzuege von
Innstetten, der mit seinem Ernst und seiner Zugeknoepftheit in den
uebermuetigen Kreis der Kameraden nie recht hineingepasst habe, so
dass er eigentlich immer mehr respektiert als geliebt worden sei.

"Das kann ich mir denken", sagte Effi, "ein Glueck nur, dass der
Respekt die Hauptsache ist."

"Ja, zu seiner Zeit. Aber er passt doch nicht immer. Und zu dem allen
kam noch eine mystische Richtung, die mitunter Anstoss gab, einmal
weil Soldaten ueberhaupt nicht sehr fuer derlei Dinge sind, und dann
weil wir die Vorstellung unterhalten, vielleicht mit Unrecht, dass er
doch nicht ganz so dazu staende, wie er's uns einreden wollte."

"Mystische Richtung?" sagte Effi. "Ja, Major, was verstehen Sie
darunter? Er kann doch keine Konventikel abgehalten und den Propheten
gespielt haben. Auch nicht einmal den aus der Oper ... ich habe seinen
Namen vergessen."

"Nein, so weit ging er nicht. Aber es ist vielleicht besser, davon
abzubrechen. Ich moechte nicht hinter seinem Ruecken etwas sagen, was
falsch ausgelegt werden koennte. Zudem sind es Dinge, die sich sehr
gut auch in seiner Gegenwart verhandeln lassen. Dinge, die nur, man
mag wollen oder nicht, zu was Sonderbarem aufgebauscht werden, wenn
er nicht dabei ist und nicht jeden Augenblick eingreifen und uns
widerlegen oder meinetwegen auch auslachen kann."

"Aber das ist ja grausam, Major. Wie koennen Sie meine Neugier so auf
die Folter spannen. Erst ist es was, und dann ist es wieder nichts.
Und Mystik! Ist er denn ein Geisterseher?"

"Ein Geisterseher! Das will ich nicht gerade sagen. Aber er hatte eine
Vorliebe, uns Spukgeschichten zu erzaehlen. Und wenn er uns dann in
grosse Aufregung versetzt und manchen auch wohl geaengstigt hatte,
dann war es mit einem Male wieder, als habe er sich ueber alle die
Leichtglaeubigen bloss mokieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam
es, dass ich ihm auf den Kopf zusagte: 'Ach was, Innstetten, das ist
ja alles bloss Komoedie. Mich taeuschen Sie nicht. Sie treiben Ihr
Spiel mit uns. Eigentlich glauben Sie's gradsowenig wie wir, aber
Sie wollen sich interessant machen und haben eine Vorstellung davon,
dass Ungewoehnlichkeiten nach oben hin besser empfehlen. In hoeheren
Karrieren will man keine Alltagsmenschen. Und da Sie so was vorhaben,
so haben Sie sich was Apartes ausgesucht und sind bei der Gelegenheit
auf den Spuk gefallen.'"

Effi sagte kein Wort, was dem Major zuletzt bedruecklich wurde. "Sie
schweigen, gnaedigste Frau."

"Ja."

"Darf ich fragen warum? Hab ich Anstoss gegeben? Oder finden Sie's
unritterlich, einen abwesenden Freund, ich muss das trotz aller
Verwahrungen einraeumen, ein klein wenig zu hecheln? Aber da tun
Sie mir trotz alledem Unrecht. Das alles soll ganz ungeniert seine
Fortsetzung vor seinen Ohren haben, und ich will ihm dabei jedes Wort
wiederholen, was ich jetzt eben gesagt habe."

"Glaub es." Und nun brach Effi ihr Schweigen und erzaehlte, was sie
alles in ihrem Hause erlebt und wie sonderlich sich Innstetten damals
dazu gestellt habe. "Er sagte nicht ja und nicht nein, und ich bin
nicht klug aus ihm geworden."

"Also ganz der alte", lachte Crampas. "So war er damals auch schon,
als wir in Liancourt und dann spaeter in Beauvais mit ihm in Quartier
lagen. Er wohnte da in einem alten bischoeflichen Palast - beilaeufig,
was Sie vielleicht interessieren wird, war es ein Bischof von
Beauvais, gluecklicherweise 'Cochon' mit Namen, der die Jungfrau von
Orleans zum Feuertod verurteilte -, und da verging denn kein Tag, das
heisst keine Nacht, wo Innstetten nicht Unglaubliches erlebt hatte.
Freilich immer nur so halb. Es konnte auch nichts sein. Und nach
diesem Prinzip arbeitet er noch, wie ich sehe."

"Gut, gut. Und nun ein ernstes Wort, Crampas, auf das ich mir eine
ernste Antwort erbitte: Wie erklaeren Sie sich dies alles?"

"Ja, meine gnaedigste Frau ..."

"Keine Ausweichungen, Major. Dies alles ist sehr wichtig fuer mich. Er
ist Ihr Freund, und ich bin Ihre Freundin. Ich will wissen, wie haengt
dies zusammen? Was denkt er sich dabei?"

"Ja, meine gnaedigste Frau, Gott sieht ins Herz, aber ein Major vom
Landwehrbezirkskommando, der sieht in gar nichts. Wie soll ich solche
psychologischen Raetsel loesen? Ich bin ein einfacher Mann."

"Ach, Crampas, reden Sie nicht so toericht. Ich bin zu jung, um
eine grosse Menschenkennerin zu sein; aber ich muesste noch vor
der Einsegnung und beinah vor der Taufe stehen, um Sie fuer einen
einfachen Mann zu halten. Sie sind das Gegenteil davon, Sie sind
gefaehrlich ..."

"Das Schmeichelhafteste, was einem guten Vierziger mit einem a.D. auf
der Karte gesagt werden kann. Und nun also, was sich Innstetten dabei
denkt ..."

Effi nickte.

"Ja, wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei, dass ein
Mann wie Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag Ministerialdirektor
oder dergleichen werden kann (denn glauben Sie mir, er ist hoch
hinaus), dass ein Mann wie Baron Innstetten nicht in einem
gewoehnlichen Hause wohnen kann, nicht in einer solchen Kate, wie die
landraetliche Wohnung, ich bitte um Vergebung, gnaedigste Frau, doch
eigentlich ist. Da hilft er denn nach. Ein Spukhaus ist nie was
Gewoehnliches ... Das ist das eine."

"Das eine? Mein Gott, haben Sie noch etwas?" "Ja."

"Nun denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es sein kann, lassen Sie's was
Gutes sein."

"Dessen bin ich nicht ganz sicher. Es ist etwas Heikles, beinah
Gewagtes, und ganz besonders vor Ihren Ohren, gnaedigste Frau."

"Das macht mich nur um so neugieriger."

"Gut denn. Also Innstetten, meine gnaedigste Frau, hat ausser seinem
brennenden Verlangen, es koste, was es wolle, ja, wenn es sein muss,
unter Heranziehung eines Spuks, seine Karriere zu machen, noch eine
zweite Passion: Er operiert naemlich immer erzieherisch, ist der
geborene Paedagog, und haette, links Basedow und rechts Pestalozzi
(aber doch kirchlicher als beide), eigentlich nach Schnepfenthal oder
Bunzlau hingepasst."

"Und will er mich auch erziehen? Erziehen durch Spuk?"

"Erziehen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber doch erziehen
auf einem Umweg."

"Ich verstehe Sie nicht."

"Eine junge Frau ist eine junge Frau, und ein Landrat ist ein Landrat.
Er kutschiert oft im Kreise umher, und dann ist das Haus allein und
unbewohnt. Aber solch Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert ..."

"Ah, da sind wir wieder aus dem Wald heraus", sagte Effi.

"Und da ist Utpatels Muehle. Wir muessen nur noch an dem Kirchhof
vorueber."

Gleich danach passierten sie den Hohlweg zwischen dem Kirchhof und
der eingegitterten Stelle, und Effi sah nach dem Stein und der Tanne
hinueber, wo der Chinese lag.



Siebzehntes Kapitel

Es schlug zwei Uhr, als man zurueck war. Crampas verabschiedete
sich und ritt in die Stadt hinein, bis er vor seiner am Marktplatz
gelegenen Wohnung hielt. Effi ihrerseits kleidete sich um und
versuchte zu schlafen; es wollte aber nicht gluecken, denn ihre
Verstimmung war noch groesser als ihre Muedigkeit. Dass Innstetten
sich seinen Spuk parat hielt, um ein nicht ganz gewoehnliches Haus zu
bewohnen, das mochte hingehen, das stimmte zu seinem Hange, sich von
der grossen Menge zu unterscheiden; aber das andere, dass er den
Spuk als Erziehungsmittel brauchte, das war doch arg und beinahe
beleidigend. Und "Erziehungsmittel", darueber war sie sich klar,
sagte nur die kleinere Haelfte; was Crampas gemeint hatte, war viel,
viel mehr, war eine Art Angelapparat aus Kalkuel. Es fehlte jede
Herzensguete darin und grenzte schon fast an Grausamkeit. Das Blut
stieg ihr zu Kopf, und sie ballte ihre kleine Hand und wollte Plaene
schmieden; aber mit einem Male musste sie wieder lachen. "Ich
Kindskopf! Wer buergt mir denn dafuer, dass Crampas recht hat! Crampas
ist unterhaltlich, weil er medisant ist, aber er ist unzuverlaessig
und ein blosser Haselant, der schliesslich Innstetten nicht das Wasser
reicht."

In diesem Augenblick fuhr Innstetten vor, der heute frueher zurueckkam
als gewoehnlich. Effi sprang auf, um ihn schon im Flur zu begruessen,
und war um so zaertlicher, je mehr sie das Gefuehl hatte, etwas
gutmachen zu muessen. Aber ganz konnte sie das, was Crampas gesagt
hatte, doch nicht verwinden, und inmitten ihrer Zaertlichkeiten und
waehrend sie mit anscheinendem Interesse zuhoerte, klang es in ihr
immer wieder: "Also Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in Ordnung zu
halten."

Zuletzt indessen vergass sie's und liess sich unbefangen von ihm
erzaehlen.

Inzwischen war Mitte November herangekommen, und der bis zum Sturm
sich steigernde Nordwester stand anderthalb Tage lang so hart auf die
Molen, dass die mehr und mehr zurueckgestaute Kessine das Bollwerk
ueberstieg und in die Strassen trat. Aber nachdem sich's ausgetobt,
legte sich das Unwetter, und es kamen noch ein paar sonnige
Spaetherbsttage.

"Wer weiss, wie lange sie dauern", sagte Effi zu Crampas, und so
beschloss man, am naechsten Vormittag noch einmal auszureiten;
auch Innstetten, der einen freien Tag hatte, wollte mit. Es sollte
zunaechst wieder bis an die Mole gehen; da wollte man dann absteigen,
ein wenig am Strand promenieren und schliesslich im Schutz der Duenen,
wo's windstill war, ein Fruehstueck nehmen.

Um die festgesetzte Stunde ritt Crampas vor dem landraetlichen Hause
vor; Kruse hielt schon das Pferd der gnaedigen Frau, die sich rasch
in den Sattel hob und noch im Aufsteigen Innstetten entschuldigte,
der nun doch verhindert sei: Letzte Nacht wieder grosses Feuer in
Morgenitz - das dritte seit drei Wochen, also angelegt -, da habe er
hingemusst, sehr zu seinem Leidwesen, denn er habe sich auf diesen
Ausritt, der wohl der letzte in diesem Herbst sein werde, wirklich
gefreut.

Crampas sprach sein Bedauern aus, vielleicht nur, um was zu sagen,
vielleicht aber auch aufrichtig, denn so ruecksichtslos er im Punkte
chevaleresker Liebesabenteuer war, so sehr war er auch wieder guter
Kamerad. Natuerlich alles ganz oberflaechlich. Einem Freunde helfen
und fuenf Minuten spaeter ihn betruegen, das waren Dinge, die sich mit
seinem Ehrbegriff sehr wohl vertrugen. Er tat das eine und das andere
mit unglaublicher Bonhomie.

Der Ritt ging wie gewoehnlich durch die Plantage hin. Rollo war wieder
vorauf, dann kamen Crampas und Effi, dann Kruse.

Knut fehlte.

"Wo haben Sie Knut gelassen?" "Er hat einen Ziegenpeter."

"Merkwuerdig", lachte Effi. "Eigentlich sah er schon immer so aus."

"Sehr richtig. Aber Sie sollten ihn jetzt sehen! Oder doch lieber
nicht. Ziegenpeter ist ansteckend, schon bloss durch Anblick."

"Glaub ich nicht."

"Junge Frauen glauben vieles nicht."

"Und dann glauben sie wieder vieles, was sie besser nicht glaubten."

"An meine Adresse?" "Nein."

"Schade."

"Wie dies 'schade' Sie kleidet. Ich glaube wirklich, Major, Sie
hielten es fuer ganz in Ordnung, wenn ich Ihnen eine Liebeserklaerung
machte."

"So weit will ich nicht gehen. Aber ich moechte den sehen, der sich
dergleichen nicht wuenschte. Gedanken und Wuensche sind zollfrei."

"Das fragt sich. Und dann ist doch immer noch ein Unterschied zwischen
Gedanken und Wuenschen. Gedanken sind in der Regel etwas, das noch im
Hintergrund liegt, Wuensche aber liegen meist schon auf der Lippe."

"Nur nicht gerade diesen Vergleich."

"Ach, Crampas, Sie sind ... Sie sind ..."

"Ein Narr."

"Nein. Auch darin uebertreiben Sie wieder. Aber Sie sind etwas
anderes. In Hohen-Cremmen sagten wir immer, und ich mit, das Eitelste,
was es gaebe, das sei ein Husarenfaehnrich von achtzehn ..."

"Und jetzt?"

"Und jetzt sag ich, das Eitelste, was es gibt, ist ein
Landwehrbezirksmajor von zweiundvierzig."

"... wobei die zwei Jahre, die Sie mir gnaedigst erlassen, alles
wiedergutmachen - kuess' die Hand."

"Ja, kuess' die Hand. Das ist so recht das Wort, das fuer Sie passt.
Das ist wienerisch. Und die Wiener, die hab ich kennengelernt in
Karlsbad, vor vier Jahren, wo sie mir vierzehnjaehrigem Dinge den Hof
machten. Was ich da alles gehoert habe!"

"Gewiss nicht mehr, als recht war."

"Wenn das zutraefe, waere das, was mir schmeicheln soll, ziemlich
ungezogen ... Aber sehen Sie da die Bojen, wie die schwimmen und
tanzen. Die kleinen roten Fahnen sind eingezogen. Immer wenn ich
diesen Sommer die paar Mal, wo ich mich bis an den Strand hinauswagte,
die roten Fahnen sah, sagte ich mir: Da liegt Vineta, da muss es
liegen, das sind die Turmspitzen ..."

"Das macht, weil Sie das Heinesche Gedicht kennen." "Welches?"

"Nun, das von Vineta."

"Nein, das kenne ich nicht; ich kenne ueberhaupt nur wenig. Leider."

"Und haben doch Gieshuebler und den Journalzirkel! Uebrigens hat Heine
dem Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube 'Seegespenst' oder
so aehnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er selber - verzeihen
Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe -,
der Dichter also, waehrend er die Stelle passiert, liegt auf einem
Schiffsdeck und sieht hinunter und sieht da schmale, mittelalterliche
Strassen und trippelnde Frauen in Kapotthueten, und alle haben ein
Gesangbuch in Haenden und wollen zur Kirche, und alle Glocken laeuten.
Und als er das hoert, da fasst ihn eine Sehnsucht, auch mit in die
Kirche zu gehen, wenn auch bloss um der Kapotthuete willen, und vor
Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstuerzen. Aber im
selben Augenblick packt ihn der Kapitaen am Bein und ruft ihm zu:
'Doktor, sind Sie des Teufels?"

"Das ist ja allerliebst. Das moecht ich lesen. Ist es lang?"

"Nein, es ist eigentlich kurz, etwas laenger als 'Du hast Diamanten
und Perlen' oder 'Deine weichen Lilienfinger' ...",

und er beruehrte leise ihre Hand. "Aber lang oder kurz,
welche Schilderungskraft, welche Anschaulichkeit! Er ist mein
Lieblingsdichter, und ich kann ihn auswendig, sowenig ich mir sonst,
trotz gelegentlich eigener Versuendigungen, aus der Dichterei mache.
Bei Heine liegt es aber anders: Alles ist Leben, und vor allem
versteht er sich auf die Liebe, die doch die Hauptsache bleibt. Er ist
uebrigens nicht einseitig darin ..."

"Wie meinen Sie das?"

"Ich meine, er ist nicht bloss fuer die Liebe ..."

"Nun, wenn er diese Einseitigkeit auch haette, das waere am Ende noch
nicht das schlimmste. Wofuer ist er denn sonst noch?"

"Er ist auch sehr fuer das Romantische, was freilich gleich nach der
Liebe kommt und nach Meinung einiger sogar damit zusammenfaellt. Was
ich aber nicht glaube. Denn in seinen spaeteren Gedichten, die man
denn auch die 'romantischen' genannt hat, oder eigentlich hat er es
selber getan, in diesen romantischen Dichtungen wird in einem fort
hingerichtet, allerdings vielfach aus Liebe. Aber doch meist aus
anderen groeberen Motiven, wohin ich in erster Reihe die Politik. die
fast immer groeblich ist, rechne. Karl Stuart zum Beispiel traegt in
einer dieser Romanzen seinen Kopf unterm Arm, und noch fataler ist die
Geschichte vom Vitzliputzli ..."

"Von wem?"

"Vom Vitzliputzli. Vitzliputzli ist naemlich ein mexikanischer Gott,
und als die Mexikaner zwanzig oder dreissig Spanier gefangengenommen
hatten, mussten diese zwanzig oder dreissig dem Vitzliputzli geopfert
werden. Das war da nicht anders, Landessitte, Kultus, und ging auch
alles im Handumdrehen, Bauch auf, Herz raus ..."

"Nein, Crampas, so duerfen Sie nicht weitersprechen. Das ist indezent
und degoutant zugleich. Und das alles so ziemlich in demselben
Augenblick, wo wir fruehstuecken wollen."

"Ich fuer meine Person sehe mich dadurch unbeeinflusst und stelle
meinen Appetit ueberhaupt nur in Abhaengigkeit vom Menue."

Waehrend dieser Worte waren sie, ganz wie's das Programm wollte, vom
Strand her bis an eine schon halb im Schutz der Duenen aufgeschlagene
Bank, mit einem aeusserst primitiven Tisch davor, gekommen, zwei
Pfosten mit einem Brett darueber. Kruse, der voraufgeritten, hatte
hier bereits serviert; Teebroetchen und Aufschnitt von kaltem
Braten, dazu Rotwein und neben der Flasche zwei huebsche, zierliche
Trinkglaeser, klein und mit Goldrand, wie man sie in Badeorten kauft
oder von Glashuetten als Erinnerung mitbringt.

Und nun stieg man ab. Kruse, der die Zuegel seines eigenen Pferdes um
eine Krueppelkiefer geschlungen hatte, ging mit den beiden anderen
Pferden auf und ab, waehrend sich Crampas und Effi, die durch eine
schmale Duenenoeffnung einen freien Blick auf Strand und Mole hatten,
vor dem gedeckten Tisch niederliessen.

Ueber das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goss die schon halb
winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus, und die Brandung ging
hoch. Dann und wann kam ein Windzug und trieb den Schaum bis dicht an
sie heran. Strandhafer stand umher, und das helle Gelb der Immortellen
hob sich, trotz der Farbenverwandtschaft, von dem gelben Sand, darauf
sie wuchsen, scharf ab. Effi machte die Wirtin. "Es tut mir leid,
Major, Ihnen diese Broetchen in einem Korbdeckel praesentieren zu
muessen ..."

"Ein Korbdeckel ist kein Korb ..."

"... indessen Kruse hat es so gewollt. Da bist du ja auch, Rollo. Auf
dich ist unser Vorrat aber nicht eingerichtet. Was machen wir mit
Rollo?"

"Ich denke, wir geben ihm alles; ich meinerseits schon aus
Dankbarkeit. Denn sehen Sie, teuerste Effi ..."

Effi sah ihn an.

Denn sehen Sie, gnaedigste Frau, Rollo erinnert mich wieder an das,
was ich Ihnen noch als Fortsetzung oder Seitenstueck zum Vitzliputzli
erzaehlen wollte - nur viel pikanter, weil Liebesgeschichte. Haben Sie
mal von einem gewissen Pedro dem Grausamen gehoert?"

"So dunkel."

"Eine Art Blaubartskoenig."

"Das ist gut. Von so einem hoert man immer am liebsten, und ich weiss
noch, dass wir von meiner Freundin Hulda Niemeyer, deren Namen Sie
ja kennen, immer behaupteten, sie wisse nichts von Geschichte, mit
Ausnahme der sechs Frauen von Heinrich dem Achten, diesem englischen
Blaubart, wenn das Wort fuer ihn reicht. Und wirklich, diese sechs
kannte sie auswendig. Und dabei haetten Sie hoeren sollen, wie sie
die Namen aussprach, namentlich den von der Mutter der Elisabeth -
so schrecklich verlegen, als waere sie nun an der Reihe ... Aber nun
bitte, die Geschichte von Don Pedro ..."

"Nun also, an Don Pedros Hofe war ein schoener, schwarzer spanischer
Ritter, der das Kreuz von Kalatrava - was ungefaehr soviel bedeutet
wie Schwarzer Adler und Pour-le-merite zusammengenommen - auf seiner
Brust trug. Dies Kreuz gehoerte mit dazu, das mussten sie immer
tragen, und dieser Kalatravaritter, den die Koenigin natuerlich
heimlich liebte ..."

"Warum natuerlich?"

"Weil wir in Spanien sind." "Ach so."

"Und dieser Kalatravaritter, sag ich, hatte einen wunderschoenen Hund,
einen Neufundlaender, wiewohl es die noch gar nicht gab, denn es
war grade hundert Jahre vor der Entdeckung von Amerika. Einen
wunderschoenen Hund also, sagen wir wie Rollo ..."

Rollo schlug an, als er seinen Namen hoerte, und wedelte mit dem
Schweif.

"Das ging so machen Tag. Aber das mit der heimlichen Liebe, die wohl
nicht ganz heimlich blieb, das wurde dem Koenig doch zuviel, und weil
er den schoenen Kalatravaritter ueberhaupt nicht recht leiden mochte -
denn er war nicht bloss grausam, er war auch ein Neidhammel, oder wenn
das Wort fuer einen Koenig und noch mehr fuer meine liebenswuerdige
Zuhoererin, Frau Effi, nicht recht passen sollte, wenigstens ein
Neidling -, so beschloss er, den Kalatravaritter fuer die heimliche
Liebe heimlich hinrichten zu lassen."

"Kann ich ihm nicht verdenken."

"Ich weiss doch nicht, meine Gnaedigste. Hoeren Sie nur weiter. Etwas
geht schon, aber es war zuviel; der Koenig, find ich, ging um ein
Erkleckliches zu weit. Er heuchelte naemlich, dass er dem Ritter wegen
seiner Kriegs- und Heldentaten ein Fest veranstalten wolle, und da gab
es denn eine lange, lange Tafel, und alle Granden des Reichs sassen
an dieser Tafel, und in der Mitte sass der Koenig, und ihm gegenueber
war der Platz fuer den, dem dies alles galt, also fuer den
Kalatravaritter, fuer den an diesem Tage zu Feiernden. Und weil der,
trotzdem man schon eine ganze Weile seiner gewartet hatte, noch immer
nicht kommen wollte, so musste schliesslich die Festlichkeit ohne ihn
begonnen werden, und es blieb ein leerer Platz - ein leerer Platz
gerade gegenueber dem Koenig." "Und nun?"

"Und nun denken Sie, meine gnaedigste Frau, wie der Koenig, dieser
Pedro, sich eben erheben will, um gleisnerisch sein Bedauern
auszusprechen, dass sein 'lieber Gast' noch immer fehle, da hoert man
auf der Treppe draussen einen Aufschrei der entsetzten Dienerschaften,
und ehe noch irgendwer weiss, was geschehen ist, jagt etwas an der
langen Festtafel entlang, und nun springt es auf den Stuhl und setzt
ein abgeschlagenes Haupt auf den leergebliebenen Platz, und ueber
ebendieses Haupt hinweg starrt Rollo auf sein Gegenueber, den Koenig.
Rollo hatte seinen Herrn auf seinem letzten Gang begleitet, und im
selben Augenblick, wo das Beil fiel, hatte das treue Tier das fallende
Haupt gepackt, und da war er nun, unser Freund Rollo, an der langen
Festtafel und verklagte den koeniglichen Moerder."

Effi war ganz still geworden. Endlich sagte sie: "Crampas, das ist in
seiner Art sehr schoen, und weil es sehr schoen ist, will ich es Ihnen
verzeihen. Aber Sie koennten doch Besseres und zugleich mir Lieberes
tun, wenn Sie mir andere Geschichten erzaehlten. Auch von Heine. Heine
wird doch nicht bloss von Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem Rollo
- denn meiner haette so was nicht getan - gedichtet haben. Komm,
Rollo! Armes Tier, ich kann dich gar nicht mehr ansehen, ohne an den
Kalatravaritter zu denken, den die Koenigin heimlich liebte ... Rufen
Sie, bitte, Kruse, dass er die Sachen hier wieder in die Halfter
steckt, und wenn wir zurueckreiten, muessen Sie mir was anderes
erzaehlen, ganz was anderes."

Kruse kam. Als er aber die Glaeser nehmen wollte, sagte Crampas:
"Kruse, das eine Glas, das da, das lassen Sie stehen. Das werde ich
selber nehmen."

"Zu Befehl, Herr Major."

Effi, die dies mit angehoert hatte, schuettelte den Kopf. Dann lachte
sie. "Crampas, was faellt Ihnen nur eigentlich ein? Kruse ist dumm
genug, ueber die Sache nicht weiter nachzudenken, und wenn er darueber
nachdenkt, so findet er gluecklicherweise nichts. Aber das berechtigt
Sie doch nicht, dies Glas, dies Dreissigpfennigglas aus der
Josefinenhuette ..."

"Dass Sie so spoettisch den Preis nennen, laesst mich seinen Wert um
so tiefer empfinden."

"Immer derselbe. Sie haben so viel von einem Humoristen, aber doch von
ganz sonderbarer Art. Wenn ich Sie recht verstehe, so haben Sie vor
- es ist zum Lachen, und ich geniere mich fast, es auszusprechen -,
so haben Sie vor, sich vor der Zeit auf den Koenig von Thule hin
auszuspielen."

Er nickte mit einem Anflug von Schelmerei.

"Nun denn, meinetwegen. Jeder traegt seine Kappe; Sie wissen, welche.
Nur das muss ich Ihnen doch sagen duerfen, die Rolle, die Sie mir
dabei zudiktieren, ist mir zu wenig schmeichelhaft. Ich mag nicht als
Reimwort auf Ihren Koenig von Thule herumlaufen. Behalten Sie das
Glas, aber bitte, ziehen Sie nicht Schluesse daraus, die mich
kompromittieren. Ich werde Innstetten davon erzaehlen."

"Das werden Sie nicht tun, meine gnaedigste Frau." "Warum nicht?"

"Innstetten ist nicht der Mann, solche Dinge so zu sehen, wie sie
gesehen sein wollen."

Sie sah ihn einen Augenblick scharf an. Dann aber schlug sie verwirrt
und fast verlegen die Augen nieder.



Achtzehntes Kapitel

Effi war unzufrieden mit sich und freute sich, dass es nunmehr
feststand, diese gemeinschaftlichen Ausfluege fuer die ganze
Winterdauer auf sich beruhen zu lassen. Ueberlegte sie, was waehrend
all dieser Wochen und Tage gesprochen, beruehrt und angedeutet war,
so fand sie nichts, um dessentwillen sie sich direkte Vorwuerfe zu
machen gehabt haette. Crampas war ein kluger Mann, welterfahren,
humoristisch, frei, frei auch im Guten, und es waere kleinlich und
kuemmerlich gewesen, wenn sie sich ihm gegenueber aufgesteift und
jeden Augenblick die Regeln strengen Anstandes befolgt haette. Nein,
sie konnte sich nicht tadeln, auf seinen Ton eingegangen zu sein, und
doch hatte sie ganz leise das Gefuehl einer ueberstandenen Gefahr und
beglueckwuenschte sich, dass das alles nun mutmasslich hinter ihr
laege. Denn an ein haeufigeres Sichsehen en famille war nicht wohl
zu denken, das war durch die Crampasschen Hauszustaende so gut wie
ausgeschlossen, und Begegnungen bei den benachbarten adligen Familien,
die freilich fuer den Winter in Sicht standen, konnten immer nur sehr
vereinzelt und sehr fluechtige sein. Effi rechnete sich dies alles mit
wachsender Befriedigung heraus und fand schliesslich, dass ihr der
Verzicht auf das, was sie dem Verkehr mit dem Major verdankte, nicht
allzu schwer ankommen wuerde. Dazu kam noch, dass Innstetten ihr
mitteilte, seine Fahrten nach Varzin wuerden in diesem Jahre
fortfallen: der Fuerst gehe nach Friedrichsruh, das ihm immer lieber
zu werden scheine; nach der einen Seite hin bedauere er das, nach der
anderen sei es ihm lieb - er koenne sich nun ganz seinem Hause widmen,
und wenn es ihr recht waere, so wollten sie die italienische Reise, an
der Hand seiner Aufzeichnungen, noch einmal durchmachen. Eine solche
Rekapitulation sei eigentlich die Hauptsache, dadurch mache man sich
alles erst dauernd zu eigen, und selbst Dinge, die man nur fluechtig
gesehen und von denen man kaum wisse, dass man sie in seiner Seele
beherberge, kaemen einem durch solche nachtraeglichen Studien erst
voll zu Bewusstsein und Besitz. Er fuehrte das noch weiter aus und
fuegte hinzu, dass ihn Gieshuebler, der den ganzen "italienischen
Stiefel" bis Palermo kenne, gebeten habe, mit dabeisein zu duerfen.
Effi, der ein ganz gewoehnlicher Plauderabend ohne den "italienischen
Stiefel" (es sollten sogar Fotografien herumgereicht werden)
viel, viel lieber gewesen waere, antwortete mit einer gewissen
Gezwungenheit; Innstetten indessen, ganz erfuellt von seinem Plan,
merkte nichts und fuhr fort: "Natuerlich ist nicht bloss Gieshuebler
zugegen, auch Roswitha und Annie muessen dabeisein, und wenn ich mir
dann denke, dass wir den Canale grande hinauffahren und hoeren dabei
ganz in der Ferne die Gondoliere singen, waehrend drei Schritt von uns
Roswitha sich ueber Annie beugt und 'Buhkueken von Halberstadt' oder
so was Aehnliches zum besten gibt, so koennen das schoene Winterabende
werden, und du sitzt dabei und strickst mir eine grosse Winterkappe.
Was meinst du dazu, Effi?"

Solche Abende wurden nicht bloss geplant, sie nahmen auch ihren
Anfang, und sie wuerden sich aller Wahrscheinlichkeit nach ueber viele
Wochen hin ausgedehnt haben, wenn nicht der unschuldige, harmlose
Gieshuebler, trotz groesster Abgeneigtheit gegen zweideutiges Handeln,
dennoch im Dienste zweier Herren gestanden haette. Der eine, dem
er diente, war Innstetten, der andere war Crampas, und wenn er der
Innstettenschen Aufforderung zu den italienischen Abenden, schon um
Effis willen, auch mit aufrichtigster Freude Folge leistete, so war
die Freude, mit der er Crampas gehorchte, doch noch eine groessere.
Nach einem Crampasschen Plan naemlich sollte noch vor Weihnachten "Ein
Schritt vom Wege" aufgefuehrt werden, und als man vor dem dritten
italienischen Abend stand, nahm Gieshuebler die Gelegenheit wahr, mit
Effi, die die Rolle der Ella spielen sollte, darueber zu sprechen.

Effi war wie elektrisiert; was wollten Padua, Vicenza daneben
bedeuten! Effi war nicht fuer Aufgewaermtheiten; Frisches war es,
wonach sie sich sehnte, Wechsel der Dinge. Aber als ob eine Stimme ihr
zugerufen haette: "Sieh dich vor!", so fragte sie doch, inmitten ihrer
freudigen Erregung:

"Ist es der Major, der den Plan aufgebracht hat?"

"Ja. Sie wissen, gnaedigste Frau, dass er einstimmig in das
Vergnuegungskomitee gewaehlt wurde. Wir duerfen uns endlich einen
huebschen Winter in der Ressource versprechen. Er ist ja wie
geschaffen dazu."

"Und wird er auch mitspielen?"

"Nein, das hat er abgelehnt. Ich muss sagen, leider. Denn er kann ja
alles und wuerde den Arthur von Schmettwitz ganz vorzueglich geben. Er
hat nur die Regie uebernommen."

"Desto schlimmer."

"Desto schlimmer?" wiederholte Gieshuebler.

"Oh, Sie duerfen das nicht so feierlich nehmen; das ist nur so eine
Redensart, die eigentlich das Gegenteil bedeutet. Auf der anderen
Seite freilich, der Major hat so was Gewaltsames, er nimmt einem die
Dinge gern ueber den Kopf fort. Und man muss dann spielen, wie er
will, und nicht, wie man selber will."

Sie sprach noch so weiter und verwickelte sich immer mehr in
Widersprueche.

Der "Schritt vom Wege" kam wirklich zustande, und gerade weil man nur
noch gute vierzehn Tage hatte (die letzte Woche vor Weihnachten war
ausgeschlossen), so strengte sich alles an, und es ging vorzueglich;
die Mitspielenden, vor allem Effi, ernteten reichen Beifall. Crampas
hatte sich wirklich mit der Regie begnuegt, und so streng er gegen
alle anderen war, so wenig hatte er auf den Proben in Effis Spiel
hineingeredet. Entweder waren ihm von seiten Gieshueblers Mitteilungen
ueber das mit Effi gehabte Gespraech gemacht worden, oder er hatte es
auch aus sich selber bemerkt, dass Effi beflissen war, sich von ihm
zurueckzuziehen. Und er war klug und Frauenkenner genug, um den
natuerlichen Entwicklungsgang, den er nach seinen Erfahrungen nur zu
gut kannte, nicht zu stoeren.

Am Theaterabend in der Ressource trennte man sich spaet, und
Mitternacht war vorueber, als Innstetten und Effi wieder zu Hause
bei sich eintrafen. Johanna war noch auf, um behilflich zu sein, und
Innstetten, der auf seine junge Frau nicht wenig eitel war, erzaehlte
Johanna, wie reizend die gnaedige Frau ausgesehen und wie gut sie
gespielt habe. Schade, dass er nicht vorher daran gedacht, Christel
und sie selber und auch die alte Unke, die Kruse, haetten von der
Musikgalerie her sehr gut zusehen koennen; es seien viele dagewesen.
Dann ging Johanna, und Effi, die muede war, legte sich nieder.
Innstetten aber, der noch plaudern wollte, schob einen Stuhl heran und
setzte sich an das Bett seiner Frau, diese freundlich ansehend und
ihre Hand in der seinen haltend.

"Ja, Effi, das war ein huebscher Abend. Ich habe mich amuesiert
ueber das huebsche Stueck. Und denke dir, der Dichter ist ein
Kammergerichtsrat, eigentlich kaum zu glauben. Und noch dazu aus
Koenigsberg. Aber worueber ich mich am meisten gefreut, das war doch
meine entzueckende kleine Frau, die allen die Koepfe verdreht hat."

"Ach, Geert, sprich nicht so. Ich bin schon gerade eitel genug."

"Eitel genug, das wird wohl richtig sein. Aber doch lange nicht so
eitel wie die anderen. Und das ist zu deinen sieben Schoenheiten ..."

"Sieben Schoenheiten haben alle."

"... Ich habe mich auch bloss versprochen, du kannst die Zahl gut mit
sich selbst multiplizieren."

"Wie galant du bist, Geert. Wenn ich dich nicht kennte, koennt ich
mich fuerchten. Oder lauert wirklich was dahinter?" "Hast du ein
schlechtes Gewissen? Selber hinter der Tuer gestanden?"

"Ach, Geert, ich aengstige mich wirklich." Und sie richtete sich im
Bett in die Hoeh und sah ihn starr an. "Soll ich noch nach Johanna
klingeln, dass sie uns Tee bringt? Du hast es so gern vor dem
Schlafengehen."

Er kuesste ihr die Hand. "Nein, Effi. Nach Mitternacht kann auch der
Kaiser keine Tasse Tee mehr verlangen, und du weisst, ich mag die
Leute nicht mehr in Anspruch nehmen als noetig. Nein, ich will nichts,
als dich ansehen und mich freuen, dass ich dich habe. So manchmal
empfindet man's doch staerker, welchen Schatz man hat. Du koenntest
ja auch so sein wie die arme Frau Crampas; das ist eine schreckliche
Frau, gegen keinen freundlich, und dich haette sie vom Erdboden
vertilgen moegen."

"Ach, ich bitte dich, Geert, das bildest du dir wieder ein. Die arme
Frau! Mir ist nichts aufgefallen."

"Weil du fuer derlei keine Augen hast. Aber es war so, wie ich dir
sage, und der arme Crampas war wie befangen dadurch und mied dich
immer und sah dich kaum an. Was doch ganz unnatuerlich ist; denn
erstens ist er ueberhaupt ein Damenmann, und nun gar Damen wie du, das
ist seine besondere Passion. Und ich wette auch, dass es keiner besser
weiss als meine kleine Frau selber. Wenn ich daran denke, wie, Pardon,
das Geschnatter hin und her ging, wenn er morgens in die Veranda kam
oder wenn wir am Strande ritten oder auf der Mole spazierengingen. Es
ist, wie ich dir sage, er traute sich heute nicht, er fuerchtete sich
vor seiner Frau. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Majorin ist
so etwas wie unsere Frau Kruse, und wenn ich zwischen beiden waehlen
muesste, ich wuesste nicht wen."

"Ich wuesst es schon; es ist doch ein Unterschied zwischen den beiden.
Die arme Majorin ist ungluecklich, die Kruse ist unheimlich."

"Und da bist du doch mehr fuer das Unglueckliche?" "Ganz entschieden."

"Nun hoere, das ist Geschmackssache. Man merkt, dass du noch nicht
ungluecklich warst. Uebrigens hat Crampas ein Talent, die arme Frau zu
eskamotieren. Er erfindet immer etwas, sie zu Hause zu lassen."

"Aber heute war sie doch da."

"Ja, heute. Da ging es nicht anders. Aber ich habe mit ihm eine Partie
zu Oberfoerster Ring verabredet, er, Gieshuebler und der Pastor, auf
den dritten Feiertag, und da haettest du sehen sollen, mit welcher
Geschicklichkeit er bewies, dass sie, die Frau, zu Hause bleiben
muesse."

"Sind es denn nur Herren?"

"O bewahre. Da wuerd ich mich auch bedanken. Du bist mit dabei und
noch zwei, drei andere Damen, die von den Guetern ungerechnet."

"Aber dann ist es doch auch haesslich von ihm, ich meine von Crampas,
und so was bestraft sich immer."

"Ja, mal kommt es. Aber ich glaube, unser Freund haelt zu denen, die
sich ueber das, was kommt, keine grauen Haare wachsen lassen."

"Haeltst du ihn fuer schlecht?"

"Nein, fuer schlecht nicht. Beinah im Gegenteil, jedenfalls hat er
gute Seiten. Aber er ist so'n halber Pole, kein rechter Verlass,
eigentlich in nichts, am wenigsten mit Frauen. Eine Spielernatur. Er
spielt nicht am Spieltisch, aber er hasardiert im Leben in einem fort,
und man muss ihm auf die Finger sehen."

"Es ist mir doch lieb, dass du mir das sagst. Ich werde mich vorsehen
mit ihm."

"Das tu. Aber nicht zu sehr; dann hilft es nichts. Unbefangenheit
ist immer das beste, natuerlich das allerbeste ist Charakter und
Festigkeit und, wenn ich solch steifleinenes Wort brauchen darf, eine
reine Seele."

Sie sah ihn gross an. Dann sagte sie: "Ja, gewiss. Aber nun sprich
nicht mehr, und noch dazu lauter Dinge, die mich nicht recht froh
machen koennen. Weisst du, mir ist, als hoerte ich oben das Tanzen.
Sonderbar, dass es immer wiederkommt. Ich dachte, du haettest mit dem
allem nur so gespasst."

"Das will ich doch nicht sagen, Effi. Aber so oder so, man muss nur in
Ordnung sein und sich nicht zu fuerchten brauchen."

Effi nickte und dachte mit einem Male wieder an die Worte, die ihr
Crampas ueber ihren Mann als "Erzieher" gesagt hatte.

Der Heilige Abend kam und verging aehnlich wie das Jahr vorher; aus
Hohen-Cremmen kamen Geschenke und Briefe; Gieshuebler war wieder mit
einem Huldigungsvers zur Stelle, und Vetter Briest sandte eine Karte:
Schneelandschaft mit Telegrafenstangen, auf deren Draht geduckt ein
Voegelchen sass. Auch fuer Annie war aufgebaut: ein Baum mit Lichtern,
und das Kind griff mit seinen Haendchen danach. Innstetten, unbefangen
und heiter, schien sich seines haeuslichen Gluecks zu freuen und
beschaeftigte sich viel mit dem Kinde. Roswitha war erstaunt, den
gnaedigen Herrn so zaertlich und zugleich so aufgeraeumt zu sehen.
Auch Effi sprach viel und lachte viel, es kam ihr aber nicht aus
innerster Seele. Sie fuehlte sich bedrueckt und wusste nur nicht, wen
sie dafuer verantwortlich machen sollte, Innstetten oder sich selber.
Von Crampas war kein Weihnachtsgruss eingetroffen; eigentlich war es
ihr lieb, aber auch wieder nicht, seine Huldigungen erfuellten sie mit
einem gewissen Bangen, und seine Gleichgueltigkeiten verstimmten sie;
sie sah ein, es war nicht alles so, wie's sein sollte.

"Du bist so unruhig", sagte Innstetten nach einer Weile.

"Ja. Alle Welt hat es so gut mit mir gemeint, am meisten du; das
bedrueckt mich, weil ich fuehle, dass ich es nicht verdiene."

"Damit darf man sich nicht quaelen, Effi. Zuletzt ist es doch so: Was
man empfaengt, das hat man auch verdient."

Effi hoerte scharf hin, und ihr schlechtes Gewissen liess sie selber
fragen, ob er das absichtlich in so zweideutiger Form gesagt habe.

Spaet gegen Abend kam Pastor Lindequist, um zu gratulieren und noch
wegen der Partie nach der Oberfoersterei Uvagla hin anzufragen, die
natuerlich eine Schlittenpartie werden muesse. Crampas habe ihm einen
Platz in seinem Schlitten angeboten, aber weder der Major noch sein
Bursche, der, wie alles, auch das Kutschieren uebernehmen solle,
kenne den Weg, und so wuerde es sich vielleicht empfehlen, die Fahrt
gemeinschaftlich zu machen, wobei dann der landraetliche Schlitten die
Tete zu nehmen und der Crampassche zu folgen haette. Wahrscheinlich
auch der Gieshueblersche. Denn mit der Wegkenntnis Mirambos, dem sich
unerklaerlicherweise Freund Alonzo, der doch sonst so vorsichtig,
anvertrauen wolle, stehe es wahrscheinlich noch schlechter als mit der
des sommersprossigen Treptower Ulanen. Innstetten, den diese kleinen
Verlegenheiten erheiterten, war mit Lindequists Vorschlag durchaus
einverstanden und ordnete die Sache dahin, dass er puenktlich um zwei
Uhr ueber den Marktplatz fahren und ohne alles Saeumen die Fuehrung
des Zuges in die Hand nehmen werde.

Nach diesem Uebereinkommen wurde denn auch verfahren, und als
Innstetten Punkt zwei Uhr den Marktplatz passierte, gruesste Crampas
zunaechst von seinem Schlitten aus zu Effi hinueber und schloss sich
dann dem Innstettenschen an. Der Pastor sass neben ihm. Gieshueblers
Schlitten, mit Gieshuebler selbst und Doktor Hannemann, folgte, jener
in einem eleganten Bueffelrock und Marderbesatz, dieser in einem
Baerenpelz, dem man ansah, dass er wenigstens dreissig Dienstjahre
zaehlte. Hannemann war naemlich in seiner Jugend Schiffschirurgus auf
einem Groenlandfahrer gewesen. Mirambo sass vorn, etwas aufgeregt
wegen Unkenntnis im Kutschieren, ganz wie Lindequist vermutet hatte.

Schon nach zwei Minuten war man an Utpatels Muehle vorbei.

Zwischen Kessin und Uvagla (wo der Sage nach ein Wendentempel
gestanden) lag ein nur etwa tausend Schritt breiter, aber wohl
anderthalb Meilen langer Waldstreifen, der an seiner rechten
Laengsseite das Meer, an seiner linken, bis weit an den Horizont hin,
ein grosses, ueberaus fruchtbares und gut angebautes Stueck Land
hatte. Hier, an der Binnenseite, flogen jetzt die drei Schlitten hin,
in einiger Entfernung ein paar alte Kutschwagen vor sich, in denen
aller Wahrscheinlichkeit nach andere nach der Oberfoersterei hin
eingeladene Gaeste sassen. Einer dieser Wagen war an seinen altmodisch
hohen Raedern deutlich zu erkennen, es war der Papenhagensche.
Natuerlich. Gueldenklee galt als der beste Redner des Kreises (noch
besser als Borcke, ja selbst besser als Grasenabb) und durfte bei
Festlichkeiten nicht leicht fehlen. Die Fahrt ging rasch - auch die
herrschaftlichen Kutscher strengten sich an und wollten sich nicht
ueberholen lassen -, so dass man schon um drei vor der Oberfoersterei
hielt. Ring, ein stattlicher, militaerisch dreinschauender Herr
von Mitte Fuenfzig, der den ersten Feldzug in Schleswig noch unter
Wrangel und Bonin mitgemacht und sich bei Erstuermung des Danewerks
ausgezeichnet hatte, stand in der Tuer und empfing seine Gaeste,
die, nachdem sie abgelegt und die Frau des Hauses begruesst hatten,
zunaechst vor einem langgedeckten Kaffeetisch Platz nahmen, auf dem
kunstvoll aufgeschichtete Kuchenpyramiden standen. Die Oberfoersterin,
eine von Natur sehr aengstliche, zum mindesten aber sehr befangene
Frau, zeigte sich auch als Wirtin so, was den ueberaus eitlen
Oberfoerster, der fuer Sicherheit und Schneidigkeit war, ganz
augenscheinlich verdross. Zum Glueck kam sein Unmut zu keinem
Ausbruch, denn von dem, was seine Frau vermissen liess, hatten
seine Toechter desto mehr, bildhuebsche Backfische von vierzehn und
dreizehn, die ganz nach dem Vater schlugen. Besonders die aeltere,
Cora, kokettierte sofort mit Innstetten und Crampas, und beide gingen
auch darauf ein. Effi aergerte sich darueber und schaemte sich dann
wieder, dass sie sich geaergert habe. Sie sass neben Sidonie von
Grasenabb und sagte: "Sonderbar, so bin ich auch gewesen, als ich
vierzehn war."

Effi rechnete darauf, dass Sidonie dies bestreiten oder doch
wenigstens Einschraenkungen machen wuerde. Statt dessen sagte diese:
"Das kann ich mir denken."

"Und wie der Vater sie verzieht", fuhr Effi halb verlegen und nur, um
doch was zu sagen, fort.

Sidonie nickte. "Da liegt es. Keine Zucht. Das ist die Signatur
unserer Zeit."

Effi brach nun ab.

Der Kaffee war bald genommen, und man stand auf, um noch einen
halbstuendigen Spaziergang in den umliegenden Wald zu machen,
zunaechst auf ein Gehege zu, drin Wild eingezaeunt war. Cora oeffnete
das Gatter, und kaum, dass sie eingetreten, so kamen auch schon die
Rehe auf sie zu. Es war eigentlich reizend, ganz wie ein Maerchen.
Aber die Eitelkeit des jungen Dinges, das sich bewusst war, ein
lebendes Bild zu stellen, liess doch einen reinen Eindruck nicht
aufkommen, am wenigsten bei Effi. "Nein", sagte sie zu sich selber,
"so bin ich doch nicht gewesen. Vielleicht hat es mir auch an Zucht
gefehlt, wie diese furchtbare Sidonie mir eben andeutete, vielleicht
auch anderes noch. Man war zu Haus zu guetig gegen mich, man liebte
mich zu sehr. Aber das darf ich doch wohl sagen, ich habe mich nie
geziert. Das war immer Huldas Sache. Darum gefiel sie mir auch nicht,
als ich diesen Sommer sie wiedersah.

Auf dem Rueckwege vom Wald nach der Oberfoersterei begann es zu
schneien. Crampas gesellte sich zu Effi und sprach ihr sein Bedauern
aus, dass er noch nicht Gelegenheit gehabt habe, sie zu begruessen.
Zugleich wies er auf die grossen, schweren Schneeflocken, die fielen,
und sagte: "Wenn das so weitergeht, so schneien wir hier ein."

"Das waere nicht das Schlimmste. Mit dem Eingeschneitwerden verbinde
ich von langer Zeit her eine freundliche Vorstellung, eine Vorstellung
von Schutz und Beistand."

"Das ist mir neu, meine gnaedigste Frau."

"Ja", fuhr Effi fort und versuchte zu lachen, "mit den Vorstellungen
ist es ein eigen Ding, man macht sie sich nicht bloss nach dem, was
man persoenlich erfahren hat, auch nach dem, was man irgendwo gehoert
oder ganz zufaellig weiss. Sie sind so belesen, Major, aber mit
einem Gedicht - freilich keinem Heineschen, keinem 'Seegespenst' und
keinem 'Vitzliputzli' - bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus.
Dies Gedicht heisst die 'Gottesmauer', und ich hab es bei unserm
Hohen-Cremmer Pastor vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz
klein war, auswendig gelernt."

"Gottesmauer", wiederholte Crampas. "Ein huebscher Titel, und wie
verhaelt es sich damit?"

"Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein
Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde maechtig
fuerchtete, betete zu Gott, er moege doch 'eine Mauer um sie bauen',
um sie vor dem Landesfeinde zu schuetzen. Und da liess Gott das Haus
einschneien, und der Feind zog daran vorueber."

Crampas war sichtlich betroffen und wechselte das Gespraech.

Als es dunkelte, waren alle wieder in der Oberfoersterei zurueck.



Neunzehntes Kapitel

Gleich nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, dass der
Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch
einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ringsche Haus noch nicht
kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkuehler, das
reiche Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit ueber
oberfoersterliche Durchschnittsverhaeltnisse hinaus, was darin seinen
Grund hatte, dass Rings Frau, so scheu und verlegen sie war, aus einem
reichen Danziger Kornhaendlerhause stammte. Von daher ruehrten auch
die meisten der ringsumher haengenden Bilder: der Kornhaendler und
seine Frau, der Marienburger Remter und eine gute Kopie nach dem
beruehmten Memlingschen Altarbild in der Danziger Marienkirche.
Kloster Olivia war zweimal da, einmal in Oel und einmal in Kork
geschnitzt. Ausserdem befand sich ueber dem Buefett ein sehr
nachgedunkeltes Portraet des alten Nettelbeck, das noch aus dem
bescheidenen Mobiliar des erst vor anderthalb Jahren verstorbenen
Ringschen Amtsvorgaengers herruehrte. Niemand hatte damals bei der
gewoehnlich stattfindenden Auktion das Bild des Alten haben wollen,
bis Innstetten, der sich ueber diese Missachtung aergerte, darauf
geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring patriotisch besonnen, und
der alte Kolbergverteidiger war der Oberfoersterei verblieben.

Das Nettelbeckbild liess ziemlich viel zu wuenschen uebrig; sonst aber
verriet alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an Glanz streifende
Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das Mahl, das aufgetragen
wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine Freude daran, mit Ausnahme
Sidoniens. Diese sass zwischen Innstetten und Lindequist und sagte,
als sie Coras ansichtig wurde: "Da ist ja wieder dies unausstehliche
Balg, diese Cora. Sehen Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen
Weinglaeser praesentiert, ein wahres Kunststueck, sie koennte jeden
Augenblick Kellnerin werden. Ganz unertraeglich. Und dazu die Blicke
von Ihrem Freund Crampas! Das ist so die rechte Saat! Ich frage Sie,
was soll dabei herauskommen?"

Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton, in
dem das alles gesagt wurde, so verletzend herbe dass er spoettisch
bemerkte: "Ja, meine Gnaedigste, was dabei herauskommen soll? Ich
weiss es auch nicht" - worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem
Nachbarn zur Linken zuwandte:

"Sagen Sie, Pastor, ist diese vierzehnjaehrige Kokette schon im
Unterricht bei Ihnen?"

"Ja, mein gnaediges Fraeulein."

"Dann muessen Sie mir die Bemerkung verzeihen, dass Sie sie nicht
in die richtige Schule genommen haben. Ich weiss wohl, es haelt das
heutzutage sehr schwer, aber ich weiss auch, dass die, denen die
Fuersorge fuer junge Seelen obliegt, es vielfach an dem rechten Ernst
fehlen lassen. Es bleibt dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und
Erzieher."

Lindequist, denselben Ton anschlagend wie Innstetten, antwortete, dass
das alles sehr richtig, der Geist der Zeit aber zu maechtig sei.

"Geist der Zeit!" sagte Sidonie. "Kommen Sie mir nicht damit. Das
kann ich nicht hoeren, das ist der Ausdruck hoechster Schwaeche,
Bankrotterklaerung. Ich kenne das; nie scharf zufassen wollen, immer
dem Unbequemen aus dem Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so
wird nur allzuleicht vergessen, dass das uns anvertraute Gut auch mal
von uns zurueckgefordert wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das
Fleisch ist schwach, gewiss, aber ..."

In diesem Augenblick kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie
ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequists Laecheln dabei zu bemerken.
Und weil sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht wundernehmen,
dass sie mit viel Unbefangenheit fortfuhr: "Es kann uebrigens alles,
was Sie hier sehen, nicht wohl anders sein; alles ist schief und
verfahren von Anfang an. Ring, Ring - wenn ich nicht irre, hat es
drueben in Schweden oder da herum mal einen Sagenkoenig dieses Namens
gegeben. Nun sehen Sie, benimmt er sich nicht, als ob er von dem
abstamme? Und seine Mutter, die ich noch gekannt habe, war eine
Plaettfrau in Koeslin."

"Ich kann darin nichts Schlimmes finden."

"Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt es Schlimmeres.
Aber soviel muss ich doch von Ihnen, als einem geweihten Diener der
Kirche, gewaertigen duerfen, dass Sie die gesellschaftlichen Ordnungen
gelten lassen. Ein Oberfoerster ist ein bisschen mehr als ein
Foerster, und ein Foerster hat nicht solche Weinkuehler und solch
Silberzeug; das alles ist ungehoerig und zieht dann solche Kinder
gross wie dies Fraeulein Cora."

Sidonie, jedesmal bereit, irgendwas Schreckliches zu prophezeien, wenn
sie, vom Geist ueberkommen, die Schalen ihres Zorns ausschuettete,
wuerde sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft
gesteigert haben, wenn nicht in ebendiesem Augenblick die dampfende
Punschbowle - womit die Weihnachtsreunions bei Ring immer abschlossen
- auf der Tafel erschienen waere, dazu Krausgebackenes, das, geschickt
uebereinandergetuermt, noch weit ueber die vor einigen Stunden
aufgetragene Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs. Und nun trat auch Ring
selbst, der sich bis dahin etwas zurueckgehalten hatte, mit einer
gewissen strahlenden Feierlichkeit in Aktion und begann die vor ihm
stehenden Glaeser, grosse geschliffene Roemer, in virtuosem Bogensturz
zu fuellen, ein Einschenkekunststueck, das die stets schlagfertige
Frau von Padden, die heute leider fehlte, mal als "Ringsche Fuellung
en cascade" bezeichnet hatte. Rotgolden woelbte sich dabei der Strahl,
und kein Tropfen durfte verlorengehen. So war es auch heute wieder.
Zuletzt aber, als jeder, was ihm zukam, in Haenden hielt - auch Cora,
die sich mittlerweile mit ihrem rotblonden Wellenhaar auf "Onkel
Crampas'" Schoss gesetzt hatte -, erhob sich der alte Papenhagner, um,
wie herkoemmlich bei Festlichkeiten der Art, einen Toast auf seinen
lieben Oberfoerster auszubringen. Es gaebe viele Ringe, so etwa begann
er, Jahresringe, Gardinenringe, Trauringe, und was nun gar - denn auch
davon duerfe sich am Ende wohl sprechen lassen - die Verlobungsringe
angehe, so sei gluecklicherweise die Gewaehr gegeben, dass einer davon
in kuerzester Frist in diesem Hause sichtbar werden und den Ringfinger
(und zwar hier in einem doppelten Sinne den Ringfinger) eines kleinen
huebschen Paetschelchens zieren werde...

"Unerhoert", raunte Sidonie dem Pastor zu.

"Ja, meine Freunde", fuhr Gueldenklee mit gehobener Stimme fort,
"viele Ringe gibt es, und es gibt sogar eine Geschichte, die wir
alle kennen, die die Geschichte von den 'drei Ringen' heisst, eine
Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie
Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet. Gott bessere es.
Und nun lassen Sie mich schliessen, um Ihre Geduld und Nachsicht nicht
ueber Gebuehr in Anspruch zu nehmen. Ich bin nicht fuer diese drei
Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr fuer einen Ring, fuer einen
Ring, der so recht ein Ring ist, wie er sein soll, ein Ring, der alles
Gute, was wir in unsrem altpommerschen Kessiner Kreise haben, alles,
was noch mit Gott fuer Koenig und Vaterland einsteht - und es sind
ihrer noch einige (lauter Jubel) -, an diesem seinem gastlichen Tisch
vereinigt sieht. Fuer diesen Ring bin ich. Er lebe hoch!"

Alles stimmte ein und umdraengte Ring, der, solange das dauerte, das
Amt des "Einschenkens en cascade" an den ihm gegenuebersitzenden
Crampas abtreten musste; der Hauslehrer aber stuerzte von seinem Platz
am unteren Ende der Tafel an das Klavier und schlug die ersten Takte
des Preussenliedes an, worauf alles stehend und feierlich einfiel:
"Ich bin ein Preusse ... will ein Preusse sein."

"Es ist doch etwas Schoenes", sagte gleich nach der ersten Strophe der
alte Borcke zu Innstetten, "so was hat man in anderen Laendern nicht."

"Nein", antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel
hielt, "in anderen Laendern hat man was anderes."

Man sang alle Strophen durch, dann hiess es, die Wagen seien
vorgefahren, und gleich danach erhob sich alles, um die Pferde nicht
warten zu lassen. Denn diese Ruecksicht "auf die Pferde" ging auch im
Kreise Kessin allem anderen vor. Im Hausflur standen zwei huebsche
Maegde, Ring hielt auf dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen
ihrer Pelze behilflich zu sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr
als das, und das Einsteigen in die verschiedenen Gefaehrte schien sich
schnell und ohne Stoerung vollziehen zu sollen, als es mit einemmal
hiess, der Gieshueblersche Schlitten sei nicht da. Gieshuebler selbst
war viel zu artig, um gleich Unruhe zu zeigen oder gar Laerm zu
machen; endlich aber, weil doch wer das Wort nehmen musste, fragte
Crampas, was es denn eigentlich sei.

"Mirambo kann nicht fahren", sagte der Hofknecht; "das linke Pferd hat
ihn beim Anspannen vor das Schienbein geschlagen. Er liegt im Stall
und schreit."

Nun wurde natuerlich nach Doktor Hannemann gerufen, der denn
auch hinausging und nach fuenf Minuten mit echter Chirurgenruhe
versicherte: ja, Mirambo muesse zurueckbleiben; es sei vorlaeufig in
der Sache nichts zu machen als stilliegen und kuehlen. Uebrigens von
Bedenklichem keine Rede. Das war nun einigermassen ein Trost, aber
schaffte doch die Verlegenheit, wie der Gieshueblersche Schlitten
zurueckzufahren sei, nicht aus der Welt, bis Innstetten erklaerte,
dass er fuer Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn von Doktor und
Apotheker persoenlich gluecklich heimzusteuern gedenke. Lachend und
unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den verbindlichsten aller
Landraete, der sich, um hilfreich zu sein, sogar von seiner jungen
Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlag zugestimmt, und Innstetten,
mit Gieshuebler und dem Doktor im Fond, nahm jetzt wieder die Tete.
Crampas und Lindequist folgten unmittelbar. Und als gleich danach auch
Kruse mit dem landraetlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie laechelnd
an Effi heran und bat diese, da ja nun ein Platz frei sei, mit ihr
fahren zu duerfen. "In unserer Kutsche ist es immer so stickig;
mein Vater liebt das. Und ausserdem, ich moechte so gerne mit Ihnen
plaudern. Aber nur bis Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt,
steig ich aus und muss dann wieder in unseren unbequemen Kasten. Und
Papa raucht auch noch."

Effi war wenig erfreut ueber diese Begleitung und haette die Fahrt
lieber allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und so stieg denn
das Fraeulein ein, und kaum dass beide Damen ihre Plaetze genommen
hatten, so gab Kruse den Pferden auch schon einen Peitschenknips, und
von der oberfoersterlichen Rampe her, von der man einen praechtigen
Ausblick auf das Meer hatte, ging es die ziemlich steile Duene
hinunter auf den Strandweg zu, der, eine Meile lang, in beinahe
gerader Linie bis an das Kessiner Strandhotel und von dort aus, rechts
einbiegend, durch die Plantage hin in die Stadt fuehrte.

Der Schneefall hatte schon seit ein paar Stunden aufgehoert, die Luft
war frisch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel der matte Schein der
Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter den Schaum der
Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas froestelte, wickelte
sich fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und mit Absicht.
Sie wusste recht gut, dass das mit der "stickigen Kutsche" bloss ein
Vorwand gewesen und dass sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr
etwas Unangenehmes zu sagen. Und das kam immer noch frueh genug. Zudem
war sie wirklich muede, vielleicht von dem Spaziergange im Walde,
vielleicht auch von dem oberfoersterlichen Punsch, dem sie, auf
Zureden der neben ihr sitzenden Frau von Flemming, tapfer zugesprochen
hatte. Sie tat denn auch, als ob sie schliefe, schloss die Augen und
neigte den Kopf immer mehr nach links.

"Sie sollten sich nicht so sehr nach links beugen, meine gnaedigste
Frau. Faehrt der Schlitten auf einen Stein, so fliegen Sie hinaus. Ihr
Schlitten hat ohnehin kein Schutzleder und, wie ich sehe, auch nicht
einmal die Haken dazu."

"Ich kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so was Prosaisches.
Und dann, wenn ich hinausfloege, mir waer es recht, am liebsten gleich
in die Brandung. Freilich ein etwas kaltes Bad, aber was tut's ...
Uebrigens, hoeren Sie nichts?"

"Nein."

"Hoeren Sie nicht etwas wie Musik?" "Orgel?"

"Nein, nicht Orgel. Da wuerd ich denken, es sei das Meer. Aber es ist
etwas anderes, ein unendlich feiner Ton, fast wie menschliche Stimme
..."

"Das sind Sinnestaeuschungen", sagte Sidonie, die jetzt den richtigen
Einsetzmoment gekommen glaubte. "Sie sind nervenkrank. Sie hoeren
Stimmen. Gebe Gott, dass Sie auch die richtige Stimme hoeren."

"Ich hoere ... nun, gewiss, es ist Torheit, ich weiss, sonst wuerd ich
mir einbilden, ich haette die Meerfrauen singen hoeren ... Aber, ich
bitte Sie, was ist das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel hinauf.
Das muss ein Nordlicht sein."

"Ja", sagte Sidonie. "Gnaedigste Frau tun ja, als ob es ein Weltwunder
waere. Das ist es nicht. Und wenn es dergleichen waere, wir haben
uns vor Naturkultus zu hueten. Uebrigens ein wahres Glueck, dass wir
ausser Gefahr sind, unsern Freund Oberfoerster, diesen eitelsten aller
Sterblichen, ueber dies Nordlicht sprechen zu hoeren. Ich wette, dass
er sich einbilden wuerde, das tue ihm der Himmel zu Gefallen, um sein
Fest noch festlicher zu machen. Er ist ein Narr. Gueldenklee konnte
Besseres tun, als ihn feiern. Und dabei spielt er sich auf den
Kirchlichen aus und hat auch neulich eine Altardecke geschenkt.
Vielleicht, dass Cora daran mitgestickt hat. Diese Unechten sind
schuld an allem, denn ihre Weltlichkeit liegt immer obenauf und wird
denen mit angerechnet, die's ernst mit dem Heil ihrer Seele meinen."

"Es ist so schwer, ins Herz zu sehen!"

"Ja. Das ist es. Aber bei manchem ist es auch ganz leicht." Und dabei
sah sie die junge Frau mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit an.
Effi schwieg und wandte sich ungeduldig zur Seite.

"Bei manchem, sag ich, ist es ganz leicht", wiederholte Sidonie, die
ihren Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig laechelnd fortfuhr. "Und
zu diesen leichten Raetseln gehoert unser Oberfoerster. Wer seine
Kinder so erzieht, den beklag ich, aber das eine Gute hat es, es
liegt bei ihm alles klar da. Und wie bei ihm selbst, so bei den
Toechtern. Cora geht nach Amerika und wird Millionaerin oder
Methodistenpredigerin; in jedem Fall ist sie verloren. Ich habe noch
keine Vierzehnjaehrige gesehen ..."

In diesem Augenblick hielt der Schlitten, und als sich beide Damen
umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei,
bemerkten sie, dass rechts von ihnen, in etwa dreissig Schritt
Abstand, auch die beiden anderen Schlitten hielten - am weitesten nach
rechts der von Innstetten gefuehrte, naeher heran der Crampassche.

"Was ist?" fragte Effi.

Kruse wandte sich halb herum und sagte: "Der Schloon, gnaed'ge Frau."

"Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts."

Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdruecken wollte,
dass die Frage leichter gestellt als beantwortet sei.

Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht
so mit drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit
alsbald Hilfe bei dem gnaedigen Fraeulein, das hier mit allem Bescheid
wusste und natuerlich auch mit dem Schloon.

"Ja, meine gnaedigste Frau", sagte Sidonie, "da steht es schlimm. Fuer
mich hat es nicht viel auf sich, ich komme bequem durch; denn wenn
erst die Wagen heran sind, die haben hohe Raeder, und unsere Pferde
sind ausserdem daran gewoehnt. Aber mit solchem Schlitten ist es was
anderes; die versinken im Schloon, und Sie werden wohl oder uebel
einen Umweg machen muessen."

"Versinken! Ich bitte Sie, mein gnaedigstes Fraeulein, ich sehe noch
immer nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas,
drin man mit Mann und Maus zugrunde gehen muss? Ich kann mir so was
hierzulande gar nicht denken."

"Und doch ist es so was, nur freilich im kleinen; dieser Schloon
ist eigentlich bloss ein kuemmerliches Rinnsal, das hier rechts vom
Gothener See herunterkommt und sich durch die Duenen schleicht. Und
im Sommer trocknet es mitunter ganz aus, und Sie fahren dann ruhig
drueber hin und wissen es nicht einmal."

"Und im Winter?"

"Ja, im Winter, da ist es was anderes; nicht immer, aber doch oft. Da
wird es dann ein Sog."

"Mein Gott, was sind das nur alles fuer Namen und Woerter!"

"... Da wird es ein Sog, und am staerksten immer dann, wenn der Wind
nach dem Lande hin steht. Dann drueckt der Wind das Meerwasser in das
kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, dass man es sehen kann. Und das
ist das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr.
Alles geht naemlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand
ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefuellt. Und
wenn man dann ueber solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist,
dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor waere."

"Das kenn ich", sagte Effi lebhaft. "Das ist wie in unsrem Luch",
und inmitten all ihrer Aengstlichkeit wurde ihr mit einem Male ganz
wehmuetig freudig zu Sinn.

Waehrend das Gespraech noch so ging und sich fortsetzte, war Crampas
aus seinem Schlitten ausgestiegen und auf den am aeussersten Fluegel
haltenden Gieshueblerschen zugeschritten, um hier mit Innstetten zu
verabreden, was nun wohl eigentlich zu tun sei. Knut, so meldete er,
wolle die Durchfahrt riskieren, aber Knut sei dumm und verstehe nichts
von der Sache; nur solche, die hier zu Hause seien, muessten die
Entscheidung treffen. Innstetten - sehr zu Crampas' Ueberraschung
- war auch fuers "Riskieren", es muesse durchaus noch mal versucht
werden ... er wisse schon, die Geschichte wiederholte sich jedesmal:
Die Leute hier haetten einen Aberglauben und vorweg eine Furcht,
waehrend es doch eigentlich wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der
wisse nicht Bescheid, wohl aber Kruse solle noch einmal einen Anlauf
nehmen und Crampas derweilen bei den Damen einsteigen (ein kleiner
Ruecksitz sei ja noch da), um bei der Hand zu sein, wenn der Schlitten
umkippe. Das sei doch schliesslich das Schlimmste, was geschehen
koenne.

Mit dieser Innstettenschen Botschaft erschien jetzt Crampas bei den
beiden Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgefuehrt
hatte, ganz nach empfangener Order den kleinen Sitzplatz ein, der
eigentlich nichts als eine mit Tuch ueberzogene Leiste war, und rief
Kruse zu: "Nun, vorwaerts, Kruse."

Dieser hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte
zurueckgezoppt und hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten gluecklich
durchbringen zu koennen; im selben Augenblick aber, wo die Pferde den
Schloon auch nur beruehrten, sanken sie bis ueber die Knoechel in den
Sand ein, so dass sie nur mit Muehe nach rueckwaerts wieder heraus
konnten.

"Es geht nicht", sagte Crampas, und Kruse nickte.

Waehrend sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen
herangekommen, die Grasenabbsche vorauf, und als Sidonie, nach kurzem
Dank gegen Effi, sich verabschiedet und dem seine tuerkische Pfeife
rauchenden Vater gegenueber ihren Rueckplatz eingenommen hatte, ging
es mit dem Wagen ohne weiteres auf den Schloon zu; die Pferde sanken
tief ein, aber die Raeder liessen alle Gefahr leicht ueberwinden, und
ehe eine halbe Minute vorueber war, trabten auch schon die Grasenabbs
drueben weiter. Die andern Kutschen folgten. Effi sah ihnen nicht ohne
Neid nach. Indessen nicht lange, denn auch fuer die Schlittenfahrer
war in der zwischenliegenden Zeit Rat geschafft worden, und zwar
einfach dadurch, dass sich Innstetten entschlossen hatte, statt aller
weiteren Forcierung das friedlichere Mittel eines Umwegs zu waehlen.
Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in Sicht gestellt hatte.
Vom rechten Fluegel her klang des Landrats bestimmte Weisung herueber,
vorlaeufig diesseits zu bleiben und ihm durch die Duenen hin bis
an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbruecke zu folgen. Als beide
Kutscher, Knut und Kruse, so verstaendigt waren, trat der Major, der,
um Sidonie zu helfen, gleichzeitig mit dieser ausgestiegen war, wieder
an Effi heran und sagte: "Ich kann Sie nicht allein lassen, gnaed'ge
Frau."

Effi war einen Augenblick unschluessig, rueckte dann aber rasch von
der einen Seite nach der anderen hinueber, und Crampas nahm links
neben ihr Platz.

All dies haette vielleicht missdeutet werden koennen, Crampas
selbst aber war zu sehr Frauenkenner, um es sich bloss in Eitelkeit
zurechtzulegen. Er sah deutlich, dass Effi nur tat, was nach Lage der
Sache das einzig Richtige war. Es war unmoeglich fuer sie, sich seine
Gegenwart zu verbitten. Und so ging es denn im Fluge den beiden
anderen Schlitten nach, immer dicht an dem Wasserlauf hin, an dessen
anderem Ufer dunkle Waldmassen aufragten. Effi sah hinueber und nahm
an, dass schliesslich an dem landeinwaerts gelegenen Aussenrand des
Waldes hin die Weiterfahrt gehen wuerde, genau also den Weg entlang,
auf dem man in frueher Nachmittagsstunde gekommen war. Innstetten
aber hatte sich inzwischen einen anderen Plan gemacht, und im selben
Augenblick, wo sein Schlitten die Bohlenbruecke passierte, bog er,
statt den Aussenweg zu waehlen, in einen schmaleren Weg ein, der
mitten durch die dichte Waldmasse hindurchfuehrte. Effi schrak
zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um sie her gewesen, aber
jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen woelbten sich
ueber ihr. Ein Zittern ueberkam sie, und sie schob die Finger fest
ineinander, um sich einen Halt zu geben Gedanken und Bilder jagten
sich, und eines dieser Bilder war das Muetterchen in dem Gedichte, das
die "Gottesmauer" hiess, und wie das Muetterchen, so betete auch sie
jetzt, dass Gott eine Mauer um sie her bauen moege. Zwei, drei Male
kam es auch ueber ihre Lippen, aber mit einemmal fuehlte sie, dass es
tote Worte waren. Sie fuerchtete sich und war doch zugleich wie in
einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus.

"Effi", klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hoerte, dass seine
Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und loeste die Finger, die sie
noch immer geschlossen hielt, und ueberdeckte sie mit heissen Kuessen.
Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an.

Als sie die Augen wieder oeffnete, war man aus dem Wald heraus, und in
geringer Entfernung vor sich hoerte sie das Gelaeut der vorauseilenden
Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und als man, dicht vor
Utpatels Muehle, von den Duenen her in die Stadt einbog, lagen rechts
die kleinen Haeuser mit ihren Schneedaechern neben ihnen.

Effi blickte sich um, und im naechsten Augenblick hielt der Schlitten
vor dem landraetlichen Hause.



Zwanzigstes Kapitel

Innstetten, der Effi, als er sie aus dem Schlitten hob, scharf
beobachtete, aber doch ein Sprechen ueber die sonderbare Fahrt zu
zweien vermieden hatte, war am anderen Morgen frueh auf und suchte
seiner Verstimmung, die noch nachwirkte, so gut es ging, Herr zu
werden.

"Du hast gut geschlafen?" sagte er, als Effi zum Fruehstueck kam.

"Ja."

"Wohl dir. Ich kann dasselbe von mir nicht sagen. Ich traeumte, dass
du mit dem Schlitten im Schloon verunglueckt seist, und Crampas muehte
sich, dich zu retten; ich muss es so nennen, aber er versank mit dir."

"Du sprichst das alles so sonderbar, Geert. Es verbirgt sich ein
Vorwurf dahinter, und ich ahne, weshalb."

"Sehr merkwuerdig."

"Du bist nicht einverstanden damit, dass Crampas kam und uns seine
Hilfe anbot."

"Uns?"

"Ja, uns. Sidonien und mir. Du musst durchaus vergessen haben, dass
der Major in deinem Auftrag kam. Und als er mir erst gegenuebersass,
beilaeufig jaemmerlich genug auf der elenden schmalen Leiste, sollte
ich ihn da ausweisen, als die Grasenabbs kamen und mit einem Male die
Fahrt weiterging? Ich haette mich laecherlich gemacht, und dagegen
bist du doch so empfindlich. Erinnere dich, dass wir unter deiner
Zustimmung viele Male gemeinschaftlich spazierengeritten sind, und nun
sollte ich nicht gemeinschaftlich mit ihm fahren? Es ist falsch, so
hiess es bei uns zu Haus, einem Edelmanne Misstrauen zu zeigen."

"Einem Edelmanne", sagte Innstetten mit Betonung.

"Ist er keiner? Du hast ihn selbst einen Kavalier genannt, sogar einen
perfekten Kavalier."

"Ja", fuhr Innstetten fort, und seine Stimme wurde freundlicher,
trotzdem ein leiser Spott noch darin nachklang. "Kavalier, das ist er,
und ein perfekter Kavalier, das ist er nun schon ganz gewiss. Aber
Edelmann! Meine liebe Effi, ein Edelmann sieht anders aus. Hast du
schon etwas Edles an ihm bemerkt? Ich nicht."

Effi sah vor sich hin und schwieg.

"Es scheint, wir sind gleicher Meinung. Im uebrigen, wie du schon
sagtest, bin ich selber schuld; von einem Fauxpas mag ich nicht
sprechen, das ist in diesem Zusammenhang kein gutes Wort. Also selber
schuld, und es soll nicht wieder vorkommen, soweit ich's hindern kann.
Aber auch du, wenn ich dir raten darf, sei auf deiner Hut. Er ist ein
Mann der Ruecksichtslosigkeiten und hat so seine Ansichten ueber junge
Frauen. Ich kenne ihn von frueher."

"Ich werde mir deine Worte gesagt sein lassen. Nur soviel, ich glaube,
du verkennst ihn."

"Ich verkenne ihn nicht."

"Oder mich", sagte sie mit einer Kraftanstrengung und versuchte seinem
Blick zu begegnen.

"Auch dich nicht, meine liebe Effi Du bist eine reizende kleine Frau,
aber Festigkeit ist nicht eben deine Spezialitaet."

Er erhob sich, um zu gehen. Als er bis an die Tuer gegangen war,
trat Friedrich ein, um ein Gieshueblersches Billett abzugeben, das
natuerlich an die gnaedige Frau gerichtet war.

Effi nahm es. "Eine Geheimkorrespondenz mit Gieshueb1er", sagte sie;
"Stoff zu neuer Eifersucht fuer meinen gestrengen Herrn. Oder nicht?"

"Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Torheit, zwischen
Crampas und Gieshuebler einen Unterschied zu machen. Sie sind
sozusagen nicht von gleichem Karat; nach Karat berechnet man naemlich
den reinen Goldeswert, unter Umstaenden auch der Menschen. Mir
persoenlich, um auch das noch zu sagen, ist Gieshueblers weisses
Jabot, trotzdem kein Mensch mehr Jabots traegt, erheblich lieber
als Crampas' rot-blonder Sappeurbart. Aber ich bezweifle, dass dies
weiblicher Geschmack ist."

"Du haeltst uns fuer schwaecher, als wir sind."

"Eine Troestung von praktisch ausserordentlicher Geringfuegigkeit.
Aber lassen wir das. Lies lieber."

Und Effi las: "Darf ich mich nach der gnaed'gen Frau Befinden
erkundigen? Ich weiss nur, dass Sie dem Schloon gluecklich entronnen
sind; aber es blieb auch durch den Wald immer noch Faehrlichkeit
genug. Eben kommt Doktor Hannemann von Uvagla zurueck und beruhigt
mich ueber Mirambo; gestern habe er die Sache fuer bedenklicher
angesehen, als er uns habe sagen wollen, heute nicht mehr. Es war
eine reizende Fahrt. - In drei Tagen feiern wir Silvester. Auf eine
Festlichkeit wie die vorjaehrige muessen wir verzichten; aber einen
Ball haben wir natuerlich, und Sie erscheinen zu sehen wuerde die
Tanzwelt begluecken und nicht am wenigsten Ihren respektvollst
ergebenen Alonzo G."

Effi lachte. "Nun, was sagst du?"

"Nach wie vor nur das eine, dass ich dich lieber mit Gieshuebler als
mit Crampas sehe."

"Weil du den Crampas zu schwer und den Gieshuebler zu leicht nimmst."

Innstetten drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.

Drei Tage spaeter war Silvester. Effi erschien in einer reizenden
Balltoilette, einem Geschenk, das ihr der Weihnachtstisch gebracht
hatte; sie tanzte aber nicht, sondern nahm ihren Platz bei den alten
Damen, fuer die, ganz in der Naehe der Musikempore, die Fauteuils
gestellt waren. Von den adligen Familien, mit denen Innstettens
vorzugsweise verkehrten, war niemand da, weil kurz vorher ein kleines
Zerwuerfnis mit dem staedtischen Ressourcenvorstand, der, namentlich
seitens des alten Gueldenklee, mal wieder "destruktiver Tendenzen"
beschuldigt worden war, stattgefunden hatte; drei, vier andere adlige
Familien aber, die nicht Mitglieder der Ressource, sondern immer
nur geladene Gaeste waren und deren Gueter an der anderen Seite der
Kessine lagen, waren aus zum Teil weiter Entfernung ueber das Flusseis
gekommen und freuten sich, an dem Fest teilnehmen zu koennen. Effi
sass zwischen der alten Ritterschaftsraetin von Padden und einer etwas
juengeren Frau von Titzewitz.

Die Ritterschaftsraetin, eine vorzuegliche alte Dame, war in allen
Stuecken ein Original und suchte das, was die Natur, besonders durch
starke Backenknochenbildung, nach der wendisch-heidnischen Seite hin
fuer sie getan hatte, durch christlich-germanische Glaubensstrenge
wieder in Ausgleich zu bringen.

In dieser Strenge ging sie so weit, dass selbst Sidonie von Grasenabb
eine Art Esprit fort neben ihr war, wogegen sie freilich - vielleicht
weil sich die Radegaster und die Swantowiter Linie des Hauses in ihr
vereinigten - ueber jenen alten Paddenhumor verfuegte, der von langer
Zeit her wie ein Segen auf der Familie ruhte und jeden, der mit
derselben in Beruehrung kam, auch wenn es Gegner in Politik und Kirche
waren, herzlich erfreute.

"Nun, Kind", sagte die Ritterschaftsraetin, "wie geht es Ihnen denn
eigentlich?"

"Gut, gnaedigste Frau; ich habe einen sehr ausgezeichneten Mann."

"Weiss ich. Aber das hilft nicht immer. Ich hatte auch einen
ausgezeichneten Mann. Wie steht es hier? Keine Anfechtungen?"

Effi erschrak und war zugleich wie geruehrt.

Es lag etwas ungemein Erquickliches in dem freien und natuerlichen
Ton, in dem die alte Dame sprach, und dass es eine so fromme Frau war,
das machte die Sache nur noch erquicklicher.

"Ach, gnaedigste Frau ..."

"Da kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin aendern die
Zeiten nichts. Und vielleicht ist es auch recht gut so. Denn worauf es
ankommt, meine liebe junge Frau, das ist das Kaempfen. Man muss immer
ringen mit dem natuerlichen Menschen. Und wenn man sich dann so unter
hat und beinah schreien moechte, weil's weh tut, dann jubeln die
lieben Engel!"

"Ach, gnaedigste Frau. Es ist oft recht schwer."

"Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser. Darueber
muessen Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch, das bleibt, und ich habe
Enkel und Enkelinnen, da seh ich es jeden Tag. Aber im Glauben sich
unterkriegen, meine liebe Frau, darauf kommt es an, das ist das Wahre.
Das hat uns unser alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der
Gottesmann. Kennen Sie seine Tischreden?"

"Nein, gnaedigste Frau."

"Die werde ich Ihnen schicken."

In diesem Augenblick trat Major Crampas an Effi heran und bat, sich
nach ihrem Befinden erkundigen zu duerfen. Effi war wie mit Blut
uebergossen; aber ehe sie noch antworten konnte, sagte Crampas: "Darf
ich Sie bitten, gnaedigste Frau, mich den Damen vorstellen zu wollen?"

Effi nannte nun Crampas' Namen, der seinerseits schon vorher
vollkommen orientiert war und in leichtem Geplauder alle Paddens und
Titzewitze, von denen er je gehoert hatte, Revue passieren liess.
Zugleich entschuldigte er sich, den Herrschaften jenseits der Kessine
noch immer nicht seinen Besuch gemacht und seine Frau vorgestellt zu
haben; aber es sei sonderbar, welche trennende Macht das Wasser habe.
Es sei dasselbe wie mit dem Canal La Manche ...

"Wie?" fragte die alte Titzewitz.

Crampas seinerseits hielt es fuer unangebracht, Aufklaerungen zu
geben, die doch zu nichts gefuehrt haben wuerden, und fuhr fort: "Auf
zwanzig Deutsche, die nach Frankreich gehen, kommt noch nicht einer,
der nach England geht. Das macht das Wasser; ich wiederhole, das
Wasser hat eine scheidende Kraft."

Frau von Padden, die darin mit feinem Instinkt etwas Anzuegliches
witterte, wollte fuer das Wasser eintreten, Crampas aber sprach mit
immer wachsendem Redefluss weiter und lenkte die Aufmerksamkeit der
Damen auf ein schoenes Fraeulein von Stojentin, "das ohne Zweifel
die Ballkoenigin" sei, wobei sein Blick uebrigens Effi bewundernd
streifte. Dann empfahl er sich rasch unter Verbeugung gegen alle drei.
"Schoener Mann", sagte die Padden. "Verkehrt er in Ihrem Hause?"

"Fluechtig."

"Wirklich", wiederholte die Padden, "ein schoener Mann. Ein bisschen
zu sicher. Und Hochmut kommt vor dem Fall ... Aber sehen Sie nur, da
tritt er wirklich mit der Grete Stojentin an. Eigentlich ist er doch
zu alt; wenigstens Mitte Vierzig."

"Er wird vierundvierzig."

"Ei, ei, Sie scheinen ihn ja gut zu kennen."

Es kam Effi sehr zupass, dass das neue Jahr gleich in seinem Anfang
allerlei Aufregungen brachte. Seit Silvesternacht ging ein scharfer
Nordost, der sich in den naechsten Tagen fast bis zum Sturm steigerte,
und am 3. Januar nachmittags hiess es, dass ein Schiff draussen mit
der Einfahrt nicht zustande gekommen und hundert Schritt vor der Mole
gescheitert sei; es sei ein englisches, von Sunderland her, und soweit
sich erkennen lasse, sieben Mann an Bord; die Lotsen koennten beim
Ausfahren, trotz aller Anstrengung, nicht um die Mole herum, und
vom Strand aus ein Boot abzulassen, daran sei nun vollends nicht zu
denken, die Brandung sei viel zu stark. Das klang traurig genug.
Aber Johanna, die die Nachricht brachte, hatte doch auch Trost
bei der Hand: Konsul Eschrich, mit dem Rettungsapparat und der
Raketenbatterie, sei schon unterwegs, und es wuerde gewiss gluecken;
die Entfernung sei nicht voll so weit wie Anno 75, wo's doch auch
gegangen, und sie haetten damals sogar den Pudel mit gerettet, und es
waere ordentlich ruehrend gewesen, wie sich das Tier gefreut und die
Kapitaensfrau und das liebe kleine Kind, nicht viel groesser als
Anniechen, immer wieder mit seiner roten Zunge geleckt habe.

"Geert, da muss ich mit hinaus, das muss ich sehen", hatte Effi sofort
erklaert, und beide waren aufgebrochen, um nicht zu spaet zu kommen,
und hatten denn auch den rechten Moment abgepasst; denn im Augenblick,
als sie von der Plantage her den Strand erreichten, fiel der erste
Schuss, und sie sahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangseil
unter dem Sturmgewoelk hinflog und ueber das Schiff hinweg jenseits
niederfiel. Alle Haende regten sich sofort an Bord, und nun holten sie
mit Hilfe der kleinen Leine das dickere Tau samt dem Korb heran, und
nicht lange, so kam der Korb in einer Art Kreislauf wieder zurueck,
und einer der Matrosen, ein schlanker, bildhuebscher Mensch mit
einer wachsleinenen Kappe, war geborgen an Land und wurde neugierig
ausgefragt, waehrend der Korb aufs neue seinen Weg machte, zunaechst
den zweiten und dann den dritten heranzuholen und so fort. Alle wurden
gerettet, und Effi haette sich, als sie nach einer halben Stunde mit
ihrem Manne wieder heimging, in die Duenen werfen und sich ausweinen
moegen. Ein schoenes Gefuehl hatte wieder Platz in ihrem Herzen
gefunden, und es beglueckte sie unendlich, dass es so war.

Das war am 3. gewesen. Schon am 5. kam ihr eine neue Aufregung,
freilich ganz anderer Art. Innstetten hatte Gieshuebler, der
natuerlich auch Stadtrat und Magistratsmitglied war, beim Herauskommen
aus dem Rathaus getroffen und im Gespraech mit ihm erfahren, dass
seitens des Kriegsministeriums angefragt worden sei, wie sich die
Stadtbehoerden eventuell zur Garnisonsfrage zu stellen gedaechten.
Bei noetigem Entgegenkommen, also bei Bereitwilligkeit zu Stall- und
Kasernenbauten, koennten ihnen zwei Schwadronen Husaren zugesagt
werden. "Nun, Effi, was sagst du dazu?" Effi war wie benommen. All das
unschuldige Glueck ihrer Kinderjahre stand mit einemmal wieder vor
ihrer Seele, und im Augenblick war es ihr, als ob rote Husaren - denn
es waren auch rote wie daheim in Hohen-Cremmen - so recht eigentlich
die Hueter von Paradies und Unschuld seien. Und dabei schwieg sie noch
immer.

"Du sagst ja nichts, Effi."

"Ja, sonderbar, Geert. Aber es beglueckt mich so, dass ich vor Freude
nichts sagen kann. Wird es denn auch sein? Werden sie denn auch
kommen?"

"Damit hat's freilich noch gute Wege, ja, Gieshuebler meinte sogar,
die Vaeter der Stadt, seine Kollegen, verdienten es gar nicht. Statt
einfach ueber die Ehre, und wenn nicht ueber die Ehre, so doch
wenigstens ueber den Vorteil einig und gluecklich zu sein, waeren sie
mit allerlei 'Wenns' und 'Abers' gekommen und haetten geknausert wegen
der neuen Bauten: Ja, Pefferkuechler Michelsen habe sogar gesagt, es
verderbe die Sitten der Stadt, und wer eine Tochter habe, der moege
sich vorsehen und Gitterfenster anschaffen.

"Es ist nicht zu glauben. Ich habe nie manierlichere Leute gesehen als
unsere Husaren; wirklich, Geert. Nun, du weisst es ja selbst. Und nun
will dieser Michelsen alles vergittern. Hat er denn Toechter?"

"Gewiss; sogar drei. Aber sie sind saemtlich hors concours." Effi
lachte so herzlich, wie sie seit langem nicht mehr gelacht hatte. Doch
es war von keiner Dauer, und als Innstetten ging und sie allein liess,
setzte sie sich an die Wiege des Kindes, und ihre Traenen fielen auf
die Kissen. Es brach wieder ueber sie herein, und sie fuehlte, dass
sie wie eine Gefangene sei und nicht mehr heraus koenne.

Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie
starker Empfindungen faehig war, so war sie doch keine starke Natur;
ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen
wieder vorueber. So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht
aendern konnte, morgen, weil sie's nicht aendern wollte. Das
Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht ueber sie.

So kam es, dass sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes
Komoedienspiel mehr und mehr hineinlebte. Mitunter erschrak sie, wie
leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: Sie sah alles
klar und beschoenigte nichts. Einmal trat sie spaetabends vor den
Spiegel in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und
her, und Rollo schlug draussen an, und im selben Augenblick war es
ihr, als saehe ihr wer ueber die Schulter. Aber sie besann sich rasch.
"Ich weiss schon, was es ist; es war nicht der", und sie wies mit dem
Finger nach dem Spukzimmer oben. "Es war was anderes ... mein Gewissen
... Effi, du bist verloren."

Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem
Tage geschah, machte das Tun des andern zur Notwendigkeit. Um die
Mitte des Monats kamen Einladungen aufs Land. Ueber die dabei
innezuhaltende Reihenfolge hatten sich die vier Familien, mit denen
Innstettens vorzugsweise verkehrten, geeinigt: Die Borckes sollten
beginnen, die Flemmings und Grasenabbs folgten, die Gueldenklees
schlossen ab. Immer eine Woche dazwischen. Alle vier Einladungen kamen
am selben Tag; sie sollten ersichtlich den Eindruck des Ordentlichen
und Wohlerwogenen machen, auch wohl den einer besonderen
freundschaftlichen Zusammengehoerigkeit.

"Ich werde nicht dabeisein, Geert, und du musst mich der Kur halber,
in der ich nun seit Wochen stehe, von vornherein entschuldigen."

Innstetten lachte. "Kur. Ich soll es auf die Kur schieben. Das ist das
Vorgebliche; das Eigentliche heisst: du willst nicht." "Nein, es ist
doch mehr Ehrlichkeit dabei, als du zugeben willst. Du hast selbst
gewollt, dass ich den Doktor zu Rate ziehe. Das hab ich getan, und nun
muss ich doch seinem Rat folgen. Der gute Doktor, er haelt mich fuer
bleichsuechtig, sonderbar genug, und du weisst, dass ich jeden Tag
von dem Eisenwasser trinke. Wenn du dir ein Borckesches Diner dazu
vorstellst, vielleicht mit Presskopf und Aal in Aspik, so musst du den
Eindruck haben, es waere mein Tod. Und so wirst du dich doch zu deiner
Effi nicht stellen wollen. Freilich, mitunter ist es mir ..."

"Ich bitte dich, Effi ..."

"... Uebrigens freu ich mich, und das ist das einzige Gute dabei, dich
jedesmal, wenn du faehrst, eine Strecke Wegs begleiten zu koennen, bis
an die Muehle gewiss oder bis an den Kirchhof oder auch bis an die
Waldecke, da, wo der Morgnitzer Querweg einmuendet. Und dann steig
ich ab und schlendere wieder zurueck. In den Duenen ist es immer am
schoensten."

Innstetten war einverstanden, und als drei Tage spaeter der Wagen
vorfuhr, stieg Effi mit auf und gab ihrem Manne das Geleit bis an die
Waldecke. "Hier lass halten, Geert. Du faehrst nun links weiter, ich
gehe rechts bis an den Strand und durch die Plantage zurueck. Es ist
etwas weit, aber doch nicht zu weit. Doktor Hannemann sagt mir jeden
Tag, Bewegung sei alles, Bewegung und frische Luft. Und ich glaube
beinah, dass er recht hat. Empfiehl mich all den Herrschaften; nur bei
Sidonie kannst du schweigen."

Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke
begleitete, wiederholten sich allwoechentlich; aber auch in der
zwischenliegenden Zeit hielt Effi darauf, dass sie der aerztlichen
Verordnung streng nachkam. Es verging kein Tag, wo sie nicht ihren
vorgeschriebenen Spaziergang gemacht haette, meist nachmittags, wenn
sich Innstetten in seine Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war
schoen, eine milde, frische Luft, der Himmel bedeckt. Sie ging in der
Regel allein und sagte zu Roswitha: "Roswitha, ich gehe nun also die
Chaussee hinunter und dann rechts an den Platz mit dem Karussell; da
will ich auf dich warten, da hole mich ab. Und dann gehen wir durch
die Birkenallee oder durch die Reeperbahn wieder zurueck. Aber komme
nur, wenn Annie schlaeft. Und wenn sie nicht schlaeft, so schicke
Johanna. Oder lass es lieber ganz; es ist nicht noetig, ich finde mich
schon zurecht."

Den ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch
wirklich. Effi sass auf einer an einem langen Holzschuppen sich
hinziehenden Bank und sah nach einem niedrigen Fachwerkhaus hinueber,
gelb mit schwarzgestrichenen Balken, einer Wirtschaft fuer kleine
Buerger, die hier ihr Glas Bier tranken oder Solo spielten. Es
dunkelte noch kaum, die Fenster aber waren schon hell, und ihr
Lichtschimmer fiel auf die Schneemassen und etliche zur Seite stehende
Baeume. "Sieh, Roswitha, wie schoen das aussieht."

Ein paar Tage wiederholte sich das. Meist aber, wenn Roswitha bei dem
Karussell und dem Holzschuppen ankam, war niemand da, und wenn sie
dann zurueckkam und in den Hausflur eintrat, kam ihr Effi schon
entgegen und sagte:

"Wo du nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange wieder hier."

In dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte
sich wegen der Schwierigkeiten, die die Buergerschaft machte, so
gut wie zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu
abgeschlossen waren und neuerdings durch eine andere Behoerde, das
Generalkommando, gingen, so war Crampas nach Stettin berufen worden,
wo man seine Meinung in dieser Angelegenheit hoeren wollte. Von dort
schrieb er den zweiten Tag an Innstetten:

"Pardon, Innstetten, dass ich mich auf franzoesisch empfohlen. Es
kam alles so schnell. Ich werde uebrigens die Sache hinauszuspinnen
suchen, denn man ist froh, einmal draussen zu sein. Empfehlen Sie mich
der gnaedigen Frau, meiner liebenswuerdigen Goennerin."

Er las es Effi vor. Diese blieb ruhig. Endlich sagte sie: "Es ist
recht gut so."

"Wie meinst du das?"

"Dass er fort ist. Er sagt eigentlich immer dasselbe. Wenn er wieder
da ist, wird er wenigstens voruebergehend was Neues zu sagen haben."

Innstettens Blick flog scharf ueber sie hin. Aber er sah nichts, und
sein Verdacht beruhigte sich wieder. "Ich will auch fort", sagte er
nach einer Weile, "sogar nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie
Crampas, auch mal was Neues mitbringen. Meine liebe Effi will immer
gern was Neues hoeren; sie langweilt sich in unserm guten Kessin. Ich
werde gegen acht Tage fort sein, vielleicht noch einen Tag laenger.
Und aengstige dich nicht ... es wird ja wohl nicht wiederkommen ...
du weisst schon, das da oben ... Und wenn doch, du hast ja Rollo und
Roswitha."

Effi laechelte vor sich hin, und es mischte sich etwas von Wehmut
mit ein. Sie musste des Tages gedenken, wo Crampas ihr zum erstenmal
gesagt hatte, dass er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine Komoedie
spiele. Der grosse Erzieher! Aber hatte er nicht recht? War die
Komoedie nicht am Platz? Und allerhand Widerstreitendes, Gutes und
Boeses, ging ihr durch den Kopf.

Den dritten Tag reiste Innstetten ab.

Ueber das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt.



Einundzwanzigstes Kapitel

Innstetten war erst vier Tage fort, als Crampas von Stettin wieder
eintraf und die Nachricht brachte, man haette hoeheren Orts
die Absicht, zwei Schwadronen nach Kessin zu legen, endgueltig
fallenlassen; es gaebe so viele kleine Staedte, die sich um eine
Kavalleriegarnison, und nun gar um Bluechersche Husaren, bewuerben,
dass man gewohnt sei, bei solchem Anerbieten einem herzlichen
Entgegenkommen, aber nicht einem zoegernden zu begegnen. Als Crampas
das mitteilte, machte der Magistrat ein ziemlich verlegenes Gesicht;
nur Gieshuebler, weil er der Philisterei seiner Kollegen eine
Niederlage goennte, triumphierte. Seitens der kleinen Leute griff beim
Bekanntwerden der Nachricht eine gewisse Verstimmung Platz, ja selbst
einige Konsuls mit Toechtern waren momentan unzufrieden; im ganzen
aber kam man rasch ueber die Sache hin, vielleicht weil die
nebenherlaufende Frage, was Innstetten in Berlin vorhabe, die Kessiner
Bevoelkerung oder doch wenigstens die Honoratiorenschaft der Stadt
mehr interessierte. Diese wollte den ueberaus wohl gelittenen Landrat
nicht gern verlieren, und doch gingen darueber ganz ausschweifende
Geruechte, die von Gieshuebler, wenn er nicht ihr Erfinder war,
wenigstens genaehrt und weiterverbreitet wurden. Unter anderem hiess
es, Innstetten wuerde als Fuehrer einer Gesandtschaft nach Marokko
gehen, und zwar mit Geschenken, unter denen nicht bloss die
herkoemmliche Vase mit Sanssouci und dem Neuen Palais, sondern
vor allem auch eine grosse Eismaschine sei. Das letztere erschien
mit Ruecksicht auf die marokkanischen Temperaturverhaeltnisse so
wahrscheinlich, dass das Ganze geglaubt wurde.

Effi hoerte auch davon. Die Tage, wo sie sich darueber erheitert
haette, lagen noch nicht allzuweit zurueck; aber in der
Seelenstimmung, in der sie sich seit Schluss des Jahres befand, war
sie nicht mehr faehig, unbefangen und ausgelassen ueber derlei Dinge
zu lachen. Ihre Gesichtszuege hatten einen ganz anderen Ausdruck
angenommen, und das halb ruehrend, halb schelmisch Kindliche, was sie
noch als Frau gehabt hatte, war hin. Die Spaziergaenge nach dem Strand
und der Plantage, die sie, waehrend Crampas in Stettin war, aufgegeben
hatte, nahm sie nach seiner Rueckkehr wieder auf und liess sich auch
durch unguenstige Witterung nicht davon abhalten. Es wurde wie frueher
bestimmt, dass ihr Roswitha bis an den Ausgang der Reeperbahn oder bis
in die Naehe des Kirchhofs entgegenkommen solle, sie verfehlten sich
aber noch haeufiger als frueher. "Ich koennte dich schelten, Roswitha,
dass du mich nie findest. Aber es hat nichts auf sich; ich aengstige
mich nicht mehr, auch nicht einmal am Kirchhof, und im Wald bin ich
noch keiner Menschenseele begegnet."

Es war am Tage vor Innstettens Rueckkehr von Berlin, dass Effi das
sagte. Roswitha machte nicht viel davon und beschaeftigte sich lieber
damit, Girlanden ueber den Tueren anzubringen; auch der Haifisch bekam
einen Fichtenzweig und sah noch merkwuerdiger aus als gewoehnlich.
Effi sagte: "Das ist recht, Roswitha; er wird sich freuen ueber all
das Gruen, wenn er morgen wieder da ist. Ob ich heute wohl noch gehe?
Doktor Hannemann besteht darauf und meint in einem fort, ich naehme es
nicht ernst genug, sonst muesste ich besser aussehen; ich habe aber
keine rechte Lust heut, es nieselt, und der Himmel ist so grau."

"Ich werde der gnaed'gen Frau den Regenmantel bringen."

"Das tu! Aber komme heute nicht nach, wir treffen uns ja doch nicht",
und sie lachte. "Wirklich, du bist gar nicht findig, Roswitha. Und ich
mag nicht, dass du dich erkaeltest, und alles um nichts."

Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie schlief, ging sie zu
Kruses, um mit der Frau zu plaudern. "Liebe Frau Kruse", sagte sie,
"Sie wollten mir ja das mit dem Chinesen noch erzaehlen. Gestern kam
die Johanna dazwischen, die tut immer so vornehm, fuer die ist so was
nichts. Ich glaube aber doch, dass es was gewesen ist, ich meine mit
dem Chinesen und mit Thomsens Nichte, wenn es nicht seine Enkelin
war."

Die Kruse nickte.

"Entweder", fuhr Roswitha fort, "war es eine unglueckliche Liebe (die
Kruse nickte wieder), oder es kann auch eine glueckliche gewesen sein,
und der Chinese konnte es bloss nicht aushalten, dass es alles mit
einemmal so wieder vorbei sein sollte. Denn die Chinesen sind doch
auch Menschen, und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein wie mit
uns." "Alles", versicherte die Kruse und wollte dies eben durch ihre
Geschichte bestaetigen, als ihr Mann eintrat und sagte: "Mutter, du
koenntest mir die Flasche mit dem Lederlack geben; ich muss doch das
Sielenzeug blank haben, wenn der Herr morgen wieder da ist; der sieht
alles, und wenn er auch nichts sagt, so merkt man doch, dass er's
gesehen hat."

"Ich bringe es Ihnen raus, Kruse", sagte Roswitha. "Ihre Frau will mir
bloss noch was erzaehlen; aber es ist gleich aus, und dann komm ich
und bring es."

Roswitha, die Flasche mit dem Lack in der Hand, kam denn auch ein
paar Minuten danach auf den Hof hinaus und stellte sich neben das
Sielenzeug, das Kruse eben ueber den Gartenzaun gelegt hatte. "Gott",
sagte er, waehrend er ihr die Flasche aus der Hand nahm, "viel hilft
es ja nicht, es nieselt in einem weg, und die Blaenke vergeht doch
wieder. Aber ich denke, alles muss seine Ordnung haben."

"Das muss es. Und dann, Kruse, es ist ja doch auch ein richtiger Lack,
das kann ich gleich sehen, und was ein richtiger Lack ist, der klebt
nicht lange, der muss gleich trocknen. Und wenn es dann morgen nebelt
oder nass faellt, dann schadet es nichts mehr. Aber das muss ich doch
sagen, das mit dem Chinesen ist eine merkwuerdige Geschichte."

Kruse lachte. "Unsinn is es, Roswitha. Und meine Frau, statt aufs
Richtige zu sehen, erzaehlt immer so was, un wenn ich ein reines Hemd
anziehen will, fehlt ein Knopp. Un so is es nu schon, solange wir hier
sind. Sie hat immer bloss solche Geschichten in ihrem Kopp und dazu
das schwarze Huhn. Un das schwarze Huhn legt nich mal Eier. Un am
Ende, wovon soll es auch Eier legen? Es kommt ja nich ,raus, und vons
blosse Kikeriki kann doch so was nich kommen. Das is von keinem Huhn
nich zu verlangen."

"Hoeren Sie, Kruse, das werde ich Ihrer Frau wiedererzaehlen. Ich habe
Sie immer fuer einen anstaendigen Menschen gehalten, und nun sagen Sie
so was wie das da von Kikeriki. Die Mannsleute sind doch immer noch
schlimmer, als man denkt. Un eigentlich muesst ich nu gleich den
Pinsel hier nehmen und Ihnen einen schwarzen Schnurrbart anmalen."

"Nu, von Ihnen, Roswitha, kann man sich das schon gefallen lassen",
und Kruse, der meist den Wuerdigen spielte, schien in einen mehr und
mehr schaekrigen Ton uebergehen zu wollen, als er ploetzlich der
gnaedigen Frau ansichtig wurde, die heute von der anderen Seite
der Plantage herkam und in ebendiesem Augenblicke den Gartenzaun
passierte.

"Guten Tag, Roswitha, du bist ja so ausgelassen. Was macht denn
Annie?"

"Sie schlaeft, gnaed'ge Frau."

Aber Roswitha, als sie das sagte, war doch rot geworden und ging,
rasch abbrechend, auf das Haus zu, um der gnaedigen Frau beim
Umkleiden behilflich zu sein. Denn ob Johanna da war, das war die
Frage. Die steckte jetzt viel auf dem "Amt" drueben, weil es zu Haus
weniger zu tun gab, und Friedrich und Christel waren ihr zu langweilig
und wussten nie was.

Annie schlief noch. Effi beugte sich ueber die Wiege, liess sich dann
Hut und Regenmantel abnehmen und setzte sich auf das kleine Sofa in
ihrer Schlafstube. Das feuchte Haar strich sie langsam zurueck, legte
die Fuesse auf einen niedrigen Stuhl, den Roswitha herangeschoben,
und sagte, waehrend sie sichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich
langen Spaziergang genoss: "Ich muss dich darauf aufmerksam machen,
Roswitha, dass Kruse verheiratet ist."

"Ich weiss, gnaed'ge Frau."

"Ja, was weiss man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht
wuesste. Das kann nie was werden."

"Es soll ja auch nichts werden, gnaed'ge Frau ..."

"Denn wenn du denkst, sie sei krank, da machst du die Rechnung ohne
den Wirt. Die Kranken leben am laengsten. Und dann hat sie das
schwarze Huhn. Vor dem huete dich, das weiss alles und plaudert alles
aus. Ich weiss nicht, ich habe einen Schauder davor. Und ich wette,
dass das alles da oben mit dem Huhn zusammenhaengt."

"Ach, das glaub ich nicht. Aber schrecklich ist es doch. Und Kruse,
der immer gegen seine Frau ist, kann es mir nicht ausreden."

"Was sagte der?"

"Er sagte, es seien bloss Maeuse."

"Nun, Maeuse, das ist auch gerade schlimm genug. Ich kann keine Maeuse
leiden. Aber ich sah ja deutlich, wie du mit dem Kruse schwatztest
und vertraulich tatst, und ich glaube sogar, du wolltest ihm einen
Schnurrbart anmalen. Das ist doch schon sehr viel. Und nachher sitzt
du da. Du bist ja noch eine schmucke Person und hast so was. Aber sieh
dich vor, soviel kann ich dir bloss sagen. Wie war es denn eigentlich
das erstemal mit dir? Ist es so, dass du mir's erzaehlen kannst?"

"Ach, ich kann schon. Aber schrecklich war es. Und weil es so
schrecklich war, drum koennen gnaed'ge Frau auch ganz ruhig sein, von
wegen dem Kruse. Wem es so gegangen ist wie mir, der hat genug davon
und passt auf. Mitunter traeume ich noch davon, und dann bin ich den
andern Tag wie zerschlagen. Solche grausame Angst ..."

Effi hatte sich aufgerichtet und stuetzte den Kopf auf ihren Arm. "Nun
erzaehle. Wie kann es denn gewesen sein? Es ist ja mit euch, das weiss
ich noch von Hause her, immer dieselbe Geschichte ..."

"Ja, zuerst is es wohl immer dasselbe, und ich will mir auch nicht
einbilden, dass es mit mir was Besonderes war, ganz und gar nicht.
Aber wie sie's mir dann auf den Kopf zusagten und ich mit einem Male
sagen musste: 'ja, es ist so', ja, das war schrecklich. Die Mutter,
na, das ging noch, aber der Vater, der die Dorfschmiede hatte, der war
streng und wuetend, und als er's hoerte, da kam er mit einer Stange
auf mich los, die er eben aus dem Feuer genommen hatte, und wollte
mich umbringen. Und ich schrie laut auf und lief auf den Boden und
versteckte mich, und da lag ich und zitterte und kam erst wieder nach
unten, als sie mich riefen und sagten, ich solle nur kommen. Und dann
hatte ich noch eine juengere Schwester, die wies immer auf mich hin
und sagte 'Pfui'. Und dann, wie das Kind kommen sollte, ging ich in
eine Scheune nebenan, weil ich mir's bei uns nicht getraute. Da fanden
mich fremde Leute halb tot und trugen mich ins Haus und in mein Bett.
Und den dritten Tag nahmen sie mir das Kind fort, und als ich nachher
fragte, wo es sei, da hiess es, es sei gut aufgehoben. Ach, gnaedigste
Frau, die heil'ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend."

Effi fuhr auf und sah Roswitha mit grossen Augen an. Aber sie war
doch mehr erschrocken als empoert. "Was du nur sprichst! Ich bin ja
doch eine verheiratete Frau. So was darfst du nicht sagen, das ist
ungehoerig, das passt sich nicht."

"Ach, gnaedigste Frau ..."

"Erzaehle mir lieber, was aus dir wurde. Das Kind hatten sie dir
genommen. Soweit warst du ..."

"Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, der fuhr bei
dem Schulzen vor und fragte, ob da nicht eine Amme sei. Da sagte der
Schulze 'ja'. Gott lohne es ihm, und der fremde Herr nahm mich gleich
mit, und von da an hab ich bessere Tage gehabt; selbst bei der
Registratorin war es doch immer noch zum Aushalten, und zuletzt bin
ich zu Ihnen gekommen, gnaedigste Frau. Und das war das Beste, das
Allerbeste." Und als sie das sagte, trat sie an das Sofa heran und
kuesste Effi die Hand.

"Roswitha, du musst mir nicht immer die Hand kuessen, ich mag das
nicht. Und nimm dich nur in acht mit dem Kruse. Du bist doch sonst
eine so gute und verstaendige Person ... Mit einem Ehemann ... das tut
nie gut."

"Ach, gnaed'ge Frau, Gott und seine Heiligen fuehren uns wunderbar,
und das Unglueck, das uns trifft, das hat doch auch sein Glueck. Und
wen es nicht bessert, dem is nich zu helfen ... Ich kann eigentlich
die Mannsleute gut leiden ..."

"Siehst du, Roswitha, siehst du."

"Aber wenn es mal wieder so ueber mich kaeme, mit dem Kruse, das is
ja nichts, und ich koennte nicht mehr anders, da lief ich gleich
ins Wasser. Es war zu schrecklich. Alles. Und was nur aus dem armen
Wurm geworden is? Ich glaube nicht, dass es noch lebt; sie haben es
umkommen lassen, aber ich bin doch schuld." Und sie warf sich vor
Annies Wiege nieder und wiegte das Kind hin und her und sang in einem
fort ihr "Buhkueken von Halberstadt".

"Lass", sagte Effi. "Singe nicht mehr; ich habe Kopfweh. Aber bringe
mir die Zeitungen. Oder hat Gieshuebler vielleicht die Journale
geschickt?"

"Das hat er. Und die Modezeitung lag obenauf. Da haben wir drin
geblaettert, ich und Johanna, eh sie rueber ging. Johanna aergert sich
immer, dass sie so was nicht haben kann. Soll ich die Modezeitung
bringen?"

"Ja, die bringe und bring auch die Lampe."

Roswitha ging, und Effi, als sie allein war, sagte: "Womit man sich
nicht alles hilft? Eine huebsche Dame mit einem Muff und eine mit
einem Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das Beste, mich auf andre
Gedanken zu bringen."

Im Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm von Innstetten, worin
er mitteilte, dass er erst mit dem zweiten Zug kommen, also nicht vor
Abend in Kessin eintreffen werde.

Der Tag verging in ewiger Unruhe; gluecklicherweise kam Gieshuebler
im Laufe des Nachmittags und half ueber eine Stunde weg. Endlich um
sieben Uhr fuhr der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begruesste
sich. Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung, und so kam
es, dass er die Verlegenheit nicht sah, die sich in Effis Herzlichkeit
mischte. Drinnen im Flur brannten die Lampen und Lichter, und das
Teezeug, das Friedrich schon auf einen der zwischen den Schraenken
stehenden Tische gestellt hatte, reflektierte den Lichterglanz.

"Das sieht ja ganz so aus wie damals, als wir hier ankamen. Weisst du
noch, Effi?"

Sie nickte.

"Nur der Haifisch mit seinem Fichtenzweig verhaelt sich heute ruhiger,
und auch Rollo spielt den Zurueckhaltenden und legt mir nicht mehr die
Pfoten auf die Schulter. Was ist das mit dir, Rollo?"

Rollo strich an seinem Herrn vorbei und wedelte.

"Der ist nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder mit
andern. Nun, ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls lass uns
eintreten." Und er trat in sein Zimmer und bat Effi, waehrend er sich
aufs Sofa niederliess, neben ihm Platz zu nehmen. "Es war so huebsch
in Berlin, ueber Erwarten; aber in all meiner Freude habe ich mich
immer zurueckgesehnt. Und wie gut du aussiehst! Ein bisschen blass und
ein bisschen veraendert, aber es kleidet dich."

Effi wurde rot.

"Und nun wirst du auch noch rot. Aber es ist, wie ich dir sage. Du
hattest so was von einem verwoehnten Kind, mit einemmal siehst du aus
wie eine Frau."

"Das hoer ich gern, Geert, aber ich glaube, du sagst es nur so."

"Nein, nein, du kannst es dir gutschreiben, wenn es etwas Gutes ist
..."

"Ich daechte doch."

"Und nun rate, von wem ich dir Gruesse bringe."

"Das ist nicht schwer, Geert. Ausserdem, wir Frauen, zu denen ich
mich, seitdem du wieder da bist, ja rechnen darf (und sie reichte ihm
die Hand und lachte), wir Frauen, wir raten leicht. Wir sind nicht so
schwerfaellig wie ihr."

"Nun, von wem?"

"Nun, natuerlich von Vetter Briest. Er ist ja der einzige, den ich in
Berlin kenne, die Tanten abgerechnet, die du nicht aufgesucht haben
wirst und die viel zu neidisch sind, um mich gruessen zu lassen. Hast
du nicht auch gefunden, alle alten Tanten sind neidisch?"

"Ja, Effi, das ist wahr. Und dass du das sagst, das ist ganz meine
alte Effi wieder. Denn du musst wissen, die alte Effi, die noch aussah
wie ein Kind, nun, die war auch nach meinem Geschmack. Gradeso wie die
jetzige gnaed'ge Frau." "Meinst du? Und wenn du dich zwischen beiden
entscheiden solltest ..."

"Das ist eine Doktorfrage, darauf lasse ich mich nicht ein. Aber da
bringt Friedrich den Tee. Wie hat's mich nach dieser Stunde verlangt!
Und hab es auch ausgesprochen, sogar zu deinem Vetter Briest, als wir
bei Dressel sassen und in Champagner dein Wohl tranken ... Die Ohren
muessen dir geklungen haben ... Und weisst du, was dein Vetter dabei
sagte?"

"Gewiss was Albernes. Darin ist er gross."

"Das ist der schwaerzeste Undank, den ich all mein Lebtag erlebt habe.
'Lassen wir Effi leben', sagte er, 'meine schoene Cousine ... Wissen
Sie, Innstetten, dass ich Sie am liebsten fordern und totschiessen
moechte? Denn Effi ist ein Engel, und Sie haben mich um diesen Engel
gebracht.' Und dabei sah er so ernst und wehmuetig aus, dass man's
beinah haette glauben koennen."

"Oh, diese Stimmung kenne ich an ihm. Bei der wievielten wart ihr?"

"Ich hab es nicht mehr gegenwaertig, und vielleicht haette ich es auch
damals nicht mehr sagen koennen. Aber das glaub ich, dass es ihm ganz
ernst war. Und vielleicht waere es auch das Richtige gewesen. Glaubst
du nicht, dass du mit ihm haettest leben koennen?"

"Leben koennen. Das ist wenig, Geert. Aber beinah moecht ich sagen,
ich haette auch nicht einmal mit ihm leben koennen."

"Warum nicht? Er ist wirklich ein liebenswuerdiger und netter Mensch
und auch ganz gescheit."

"Ja, das ist er ..."

"Aber ..."

"Aber er ist dalbrig. Und das ist keine Eigenschaft, die wir Frauen
lieben, auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe Kinder sind,
wohin du mich immer gerechnet hast und vielleicht, trotz meiner
Fortschritte, auch jetzt noch rechnest. Das Dalbrige, das ist nicht
unsre Sache. Maenner muessen Maenner sein."

"Gut, dass du das sagst. Alle Teufel, da muss man sich ja
zusammennehmen. Und ich kann von Glueck sagen, dass ich von so was,
das wie Zusammennehmen aussieht oder wenigstens ein Zusammennehmen in
Zukunft fordert, so gut wie direkt herkomme ... Sag, wie denkst du dir
ein Ministerium?"

"Ein Ministerium? Nun, das kann zweierlei sein. Es koennen Menschen
sein, kluge, vornehme Herren, die den Staat regieren, und es kann auch
bloss ein Haus sein, ein Palazzo, ein Palazzo Strozzi oder Pitti oder,
wenn die nicht passen, irgendein andrer. Du siehst, ich habe meine
italienische Reise nicht umsonst gemacht."

"Und koenntest du dich entschliessen, in solchem Palazzo zu wohnen?
Ich meine in solchem Ministerium?"

"Um Gottes willen, Geert, sie haben dich doch nicht zum Minister
gemacht? Gieshuebler sagte so was. Und der Fuerst kann alles. Gott,
der hat es am Ende durchgesetzt, und ich bin erst achtzehn."

Innstetten lachte. "Nein, Effi, nicht Minister, so weit sind wir noch
nicht. Aber vielleicht kommen noch allerhand Gaben in mir heraus, und
dann ist es nicht unmoeglich." "Also jetzt noch nicht, noch nicht
Minister?"

"Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu sagen, auch nicht einmal in
einem Ministerium wohnen, aber ich werde taeglich ins Ministerium
gehen, wie ich jetzt in unser Landratsamt gehe, und werde dem Minister
Vortrag halten und mit ihm reisen, wenn er die Provinzialbehoerden
inspiziert. Und du wirst eine Ministerialraetin sein und in Berlin
leben, und in einem halben Jahre wirst du kaum noch wissen, dass du
hier in Kessin gewesen bist und nichts gehabt hast als Gieshuebler und
die Duenen und die Plantage."

Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer groesser; um
ihre Mundwinkel war ein nervoeses Zucken, und ihr ganzer zarter
Koerper zitterte. Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitz vor
Innstetten nieder, umklammerte seine Knie und sagte in einem Ton, wie
wenn sie betete: "Gott sei Dank!"

Innstetten verfaerbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen
fluechtig, aber doch immer sich erneuernd ueber ihn kam, war wieder da
und sprach so deutlich aus seinem Auge, dass Effi davor erschrak. Sie
hatte sich durch ein schoenes Gefuehl, das nicht viel was andres als
ein Bekenntnis ihrer Schuld war, hinreissen lassen und dabei mehr
gesagt, als sie sagen durfte. Sie musste das wieder ausgleichen,
musste was finden, irgendeinen Ausweg, es koste, was es wolle.

"Steh auf, Effi. Was hast du?"

Effi erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa
nicht wieder ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran,
augenscheinlich weil sie nicht Kraft genug fuehlte, sich ohne Stuetze
zu halten.

"Was hast du?" wiederholte Innstetten. "Ich dachte, du haettest hier
glueckliche Tage verlebt. Und nun rufst du 'Gott sei Dank', als ob
dir hier alles nur ein Schrecknis gewesen waere. War ich dir ein
Schrecknis? Oder war es was andres? Sprich?"

"Dass du noch fragen kannst, Geert", sagte sie, waehrend sie mit einer
aeussersten Anstrengung das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte.
"Glueckliche Tage! Ja, gewiss, glueckliche Tage, aber doch auch andre.
Nie bin ich die Angst hier ganz losgeworden, nie. Noch keine vierzehn
Tage, dass es mir wieder ueber die Schulter sah, dasselbe Gesicht,
derselbe fahle Teint. Und diese letzten Naechte, wo du fort warst, war
es auch wieder da, nicht das Gesicht, aber es schlurrte wieder, und
Rollo schlug wieder an, und Roswitha, die's auch gehoert, kam an
mein Bett und setzte sich zu mir, und erst, als es schon daemmerte,
schliefen wir wieder ein. Es ist ein Spukhaus, und ich hab es auch
glauben sollen, das mit dem Spuk -denn du bist ein Erzieher. Ja,
Geert, das bist du. Aber lass es sein, wie's will, soviel weiss
ich, ich habe mich ein ganzes Jahr lang und laenger in diesem Hause
gefuerchtet, und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke ich,
von mir abfallen, und ich werde wieder frei sein."

Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte
gefolgt. Was sollte das heissen: "du bist ein Erzieher"? Und dann das
andere, was vorausging: "und ich hab es auch glauben sollen, das mit
dem Spuk". Was war das alles? Wo kam das her? Und er fuehlte seinen
leisen Argwohn sich wieder regen und fester einnisten. Aber er hatte
lange genug gelebt, um zu wissen, dass alle Zeichen truegen und dass
wir in unsrer Eifersucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in
die Irre gehen als in der Blindheit unseres Vertrauens. Es konnte ja
so sein, wie sie sagte.

Und wenn es so war, warum sollte sie nicht ausrufen: "Gott sei Dank!"

Und so, rasch alle Moeglichkeiten ins Auge fassend, wurde er seines
Argwohns wieder Herr und reichte ihr die Hand ueber en Tisch hin:
"Verzeih mir, Effi, aber ich war so sehr ueberrascht von dem allen.
Freilich wohl meine Schuld. Ich bin immer zu sehr mit mir beschaeftigt
gewesen. Wir Maenner sind alle Egoisten. Aber das soll nun anders
werden. Ein Gutes hat Berlin gewiss: Spukhaeuser gibt es da nicht. Wo
sollen die auch herkommen? Und nun lass uns hinuebergehen, dass ich
Annie sehe; Roswitha verklagt mich sonst als einen unzaertlichen
Vater."

Effi war unter diesen Worten allmaehlich ruhiger geworden, und das
Gefuehl, aus einer selbstgeschaffenen Gefahr sich gluecklich befreit
zu haben, gab ihr die Spannkraft und gute Haltung wieder zurueck.



Zweiundzwanzigstes Kapitel

Am andern Morgen nahmen beide gemeinschaftlich ihr etwas verspaetetes
Fruehstueck. Innstetten hatte seine Missstimmung und Schlimmeres
ueberwunden, und Effi lebte so ganz dem Gefuehl ihrer Befreiung, dass
sie nicht bloss die Faehigkeit einer gewissen erkuenstelten Laune,
sondern fast auch ihre fruehere Unbefangenheit wiedergewonnen hatte.
Sie war noch in Kessin, und doch war ihr schon zumute, als laege es
weit hinter ihr.

"Ich habe mir's ueberlegt, Effi", sagte Innstetten, "du hast nicht so
ganz unrecht mit allem, was du gegen unser Haus hier gesagt hast. Fuer
Kapitaen Thomsen war es gerade gut genug, aber nicht fuer eine junge
verwoehnte Frau; alles altmodisch, kein Platz. Da sollst du's in
Berlin besser haben, auch einen Saal, aber einen andern als hier, und
auf Flur und Treppe hohe bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Zepter
und Krone oder auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau
Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig."

Effi lachte. "So soll es sein. Aber wer sucht uns eine Wohnung? Ich
kann doch nicht Vetter Briest auf die Suche schicken. Oder gar die
Tanten! Die finden alles gut genug." "Ja, das Wohnungssuchen. Das
macht einem keiner zu Dank. Ich denke, da musst du selber hin."

"Und wann meinst du?" "Mitte Maerz."

"Oh, das ist viel zu spaet, Geert, dann ist ja alles fort. Die guten
Wohnungen werden schwerlich auf uns warten!" "Ist schon recht. Aber
ich bin erst seit gestern wieder hier und kann doch nicht sagen 'reise
morgen'. Das wuerde mich schlecht kleiden und passt mir auch wenig;
ich bin froh, dass ich dich wiederhabe."

"Nein", sagte sie, waehrend sie das Kaffeegeschirr, um eine
aufsteigende Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geraeuschvoll
zusammenrueckte, "nein, so soll's auch nicht sein, nicht heut und
nicht morgen, aber doch in den naechsten Tagen. Und wenn ich etwas
finde, so bin ich rasch wieder zurueck. Aber noch eins, Roswitha und
Annie muessen mit. Am schoensten waer es, du auch. Aber ich sehe ein,
das geht nicht. Und ich denke, die Trennung soll nicht lange dauern.
Ich weiss auch schon, wo ich miete ..."

"Nun?"

"Das bleibt mein Geheimnis. Ich will auch ein Geheimnis haben. Damit
will ich dich dann ueberraschen." In diesem Augenblick trat Friedrich
ein, um die Postsachen abzugeben. Das meiste war Dienstliches und
Zeitungen. "Ah, da ist auch ein Brief fuer dich", sagte Innstetten.
"Und wenn ich nicht irre, die Handschrift der Mama." Effi nahm den
Brief. "Ja, von der Mama. Aber das ist ja nicht der Friesacker
Poststempel; sieh nur, das heisst ja deutlich Berlin."

"Freilich", lachte Innstetten. "Du tust, als ob es ein Wunder waere.
Die Mama wird in Berlin sein und hat ihrem Liebling von ihrem Hotel
aus einen Brief geschrieben." "Ja", sagte Effi, "so wird es sein. Aber
ich aengstige mich doch beinah und kann keinen rechten Trost darin
finden, dass Hulda Niemeyer immer sagte: Wenn man sich aengstigt, ist
es besser, als wenn man hofft. Was meinst du dazu?"

"Fuer eine Pastorstochter nicht ganz auf der Hoehe. Aber nun lies den
Brief. Hier ist ein Papiermesser."

Effi schnitt das Kuvert auf und las: "Meine liebe Effi. Seit 24
Stunden bin ich hier in Berlin; Konsultationen bei Schweigger. Als er
mich sieht, beglueckwuenscht er mich, und als ich erstaunt ihn frage,
wozu, erfahre ich, dass Ministerialdirektor Wuellersdorf bei ihm
gewesen und ihm erzaehlt habe: Innstetten sei ins Ministerium berufen.
Ich bin ein wenig aergerlich, dass man dergleichen von einem Dritten
erfahren muss. Aber in meinem Stolz und meiner Freude sei Euch
verziehen. Ich habe es uebrigens immer gewusst (schon als 1. noch bei
den Rathenowern war), dass etwas aus ihm werden wuerde. Nun kommt es
Dir zugute. Natuerlich muesst Ihr eine Wohnung haben und eine andere
Einrichtung. Wenn Du, meine liebe Effi, glaubst, meines Rates dabei
beduerfen zu koennen, so komme, so rasch es Dir Deine Zeit erlaubt.
Ich bleibe acht Tage hier in Kur, und wenn es nicht anschlaegt,
vielleicht noch etwas laenger; Schweigger drueckt sich unbestimmt
darueber aus. Ich habe eine Privatwohnung in der Schadowstrasse
genommen; neben dem meinigen sind noch Zimmer frei. Was es mit meinem
Auge ist, darueber muendlich; vorlaeufig beschaeftigt mich nur Eure
Zukunft. Briest wird unendlich gluecklich sein, er tut immer so
gleichgueltig gegen dergleichen, eigentlich haengt er aber mehr
daran als ich. Gruesse Innstetten, kuesse Annie, die Du vielleicht
mitbringst. Wie immer Deine Dich zaertlich liebende Mutter Luise von
B."

Effi legte den Brief aus der Hand und sagte nichts. Was sie zu
tun habe, das stand bei ihr fest; aber sie wollte es nicht selber
aussprechen. Innstetten sollte damit kommen, und dann wollte sie
zoegernd ja sagen. Innstetten ging auch wirklich in die Falle.

"Nun, Effi, du bleibst so ruhig."

"Ach, Geert, es hat alles so seine zwei Seiten. Auf der einen Seite
beglueckt es mich, die Mama wiederzusehen, und vielleicht sogar schon
in wenigen Tagen. Aber es spricht auch so vieles dagegen."

"Was?"

"Die Mama, wie du weisst, ist sehr bestimmt und kennt nur ihren eignen
Willen. Dem Papa gegenueber hat sie alles durchsetzen koennen. Aber
ich moechte gern eine Wohnung haben, die nach meinem Geschmack ist,
und eine neue Einrichtung, die mir gefaellt."

Innstetten lachte. "Und das ist alles?"

"Nun, es waere grade genug. Aber es ist nicht alles." Und nun nahm sie
sich zusammen und sah ihn an und sagte: "Und dann, Geert, ich moechte
nicht gleich wieder von dir fort." "Schelm, das sagst du so, weil du
meine Schwaeche kennst. Aber wir sind alle so eitel, und ich will es
glauben. Ich will es glauben und doch zugleich auch den Heroischen
spielen, den Entsagenden. Reise, sobald du's fuer noetig haeltst und
vor deinem Herzen verantworten kannst."

"So darfst du nicht sprechen, Geert. Was heisst das 'vor meinem
Herzen verantworten'. Damit schiebst du mir, halb gewaltsam, eine
Zaertlichkeitsrolle zu, und ich muss dir dann aus reiner Kokettene
sagen: 'Ach, Geert, dann reise ich nie.' Oder doch so etwas
Aehnliches."

Innstetten drohte ihr mit dem Finger. "Effi, du bist mir zu fein. Ich
dachte immer, du waerst ein Kind, und ich sehe nun, dass du das Mass
hast wie alle andern. Aber lassen wir das, oder wie dein Papa immer
sagte: 'Das ist ein zu weites Feld.' Sage lieber, wann willst du
fort?"

"Heute haben wir Dienstag. Sagen wir also Freitag mittag mit dem
Schiff. Dann bin ich am Abend in Berlin."

"Abgemacht. Und wann zurueck?"

"Nun, sagen wir Montag abend. Das sind dann drei Tage." "Geht nicht.
Das ist zu frueh. In drei Tagen kannst du's nicht zwingen. Und so
rasch laesst dich die Mama auch nicht fort." "Also auf Diskretion."

"Gut." Und damit erhob sich Innstetten, um nach dem Landratsamte
hinueberzugehen.

Die Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Roswitha war sehr
gluecklich. "Ach, gnaedigste Frau, Kessin, nun ja ... aber Berlin ist
es nicht. Und die Pferdebahn. Und wenn es dann so klingelt und man
nicht weiss, ob man links oder rechts soll, und mitunter ist mir schon
gewesen, als ginge alles grad ueber mich weg. Nein, so was ist hier
nicht. Ich glaube, manchen Tag sehen wir keine sechs Menschen. Und
immer bloss die Duenen und draussen die See. Und das rauscht und
rauscht, aber weiter ist es auch nichts."

"Ja, Roswitha, du hast recht. Es rauscht und rauscht immer, aber
es ist kein richtiges Leben. Und dann kommen einem allerhand dumme
Gedanken. Das kannst du doch nicht bestreiten, das mit dem Kruse war
nicht in der Richtigkeit." "Ach, gnaedigste Frau ..."

"Nun, ich will nicht weiter nachforschen. Du wirst es natuerlich nicht
zugeben. Und nimm nur nicht zu wenig Sachen mit. Deine Sachen kannst
du eigentlich ganz mitnehmen und Annies auch."

"Ich denke, wir kommen noch mal wieder."

"Ja, ich. Der Herr wuenscht es. Aber ihr koennt vielleicht dableiben,
bei meiner Mutter. Sorge nur, dass sie Anniechen nicht zu sehr
verwoehnt. Gegen mich war sie mitunter streng, aber ein Enkelkind ..."

"Und dann ist Anniechen ja auch so zum Anbeissen. Da muss ja jeder
zaertlich sein."

Das war am Donnerstag, am Tag vor der Abreise. Innstetten war ueber
Land gefahren und wurde erst gegen Abend zurueckerwartet.

Am Nachmittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Marktplatz, und trat
hier in die Apotheke und bat um eine Flasche Sal volatile. "Man weiss
nie, mit wem man reist", sagte sie zu dem alten Gehilfen, mit dem sie
auf dem Plauderfusse stand und der sie anschwaermte wie Gieshuebler
selbst.

"Ist der Herr Doktor zu Hause?" fragte sie weiter, als sie das
Flaeschchen eingesteckt hatte.

"Gewiss, gnaedige Frau; er ist hier nebenan und liest die Zeitungen."

"Ich werde ihn doch nicht stoeren?" "Oh, nie."

Und Effi trat ein. Es war eine kleine, hohe Stube, mit Regalen
ringsherum, auf denen allerlei Kolben und Retorten standen; nur an
der einen Wand befanden sich alphabetisch geordnete, vorn mit einem
Eisenringe versehene Kaesten, in denen die Rezepte lagen.

Gieshuebler war beglueckt und verlegen. "Welche Ehre. Hier unter
meinen Retorten. Darf ich die gnaedige Frau auffordern, einen
Augenblick Platz zu nehmen?"

"Gewiss, lieber Gieshuebler. Aber auch wirklich nur einen Augenblick.
Ich will Ihnen adieu sagen."

"Aber meine gnaedigste Frau, Sie kommen ja doch wieder. Ich habe
gehoert, nur auf drei, vier Tage ..."

"Ja, lieber Freund, ich soll wiederkommen, und es ist sogar
verabredet, dass ich spaetestens in einer Woche wieder in Kessin bin.
Aber ich koennte doch auch nicht wiederkommen. Muss ich Ihnen sagen,
welche tausend Moeglichkeiten es gibt ... Ich sehe, Sie wollen mir
sagen, dass ich noch zu jung sei ..., auch Junge koennen sterben. Und
dann so vieles andre noch. Und da will ich doch lieber Abschied nehmen
von Ihnen, als waer es fuer immer."

"Aber meine gnaedigste Frau ..."

"Als waer es fuer immer. Und ich will Ihnen danken, lieber
Gieshuebler. Denn Sie waren das Beste hier; natuerlich, weil Sie der
Beste waren. Und wenn ich hundert Jahre alt wuerde, so werde ich Sie
nicht vergessen. Ich habe mich hier mitunter einsam gefuehlt, und
mitunter war mir so schwer ums Herz, schwerer, als Sie wissen koennen;
ich habe es nicht immer richtig eingerichtet; aber wenn ich Sie
gesehen habe, vom ersten Tag an, dann habe ich mich immer wohler
gefuehlt und auch besser."

"Aber meine gnaedigste Frau."

"Und dafuer wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben ein Flaeschchen
mit Sal volatile gekauft; im Coupe sind mitunter so merkwuerdige
Menschen und wollen einem nicht mal erlauben, dass man ein Fenster
aufmacht; und wenn mir dann vielleicht - denn es steigt einem ja
ordentlich zu Kopf, ich meine das Salz - die Augen uebergehen, dann
will ich an Sie denken. Adieu, lieber Freund, und gruessen Sie Ihre
Freundin, die Trippelli. Ich habe in den letzten Wochen oefter an sie
gedacht und an Fuerst Kotschukoff. Ein eigentuemliches Verhaeltnis
bleibt es doch. Aber ich kann mich hineinfinden ... Und lassen Sie
einmal von sich hoeren. Oder ich werde schreiben." Damit ging Effi.
Gieshuebler begleitete sie bis auf den Platz hinaus. Er war wie
benommen, so sehr, dass er ueber manches Raetselhafte, was sie
gesprochen, ganz hinwegsah.

Effi ging wieder nach Haus. "Bringen Sie mir die Lampe, Johanna",
sagte sie, "aber in mein Schlafzimmer. Und dann eine Tasse Tee. Ich
hab es so kalt und kann nicht warten, bis der Herr wieder da ist."

Beides kam. Effi sass schon an ihrem kleinen Schreibtisch, einen
Briefbogen vor sich, die Feder in der Hand. "Bitte, Johanna, den Tee
auf den Tisch da."

Als Johanna das Zimmer wieder verlassen hatte, schloss Effi sich ein,
sah einen Augenblick in den Spiegel und setzte sich dann wieder.

Und nun schrieb sie: "Ich reise morgen mit dem Schiff, und dies sind
Abschiedszeilen. Innstetten erwartet mich in wenigen Tagen zurueck,
aber ich komme nicht wieder ... Warum ich nicht wiederkomme, Sie
wissen es ... Es waere das beste gewesen, ich haette dies Stueck Erde
nie gesehen. Ich beschwoere Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu
fassen; alle Schuld ist bei mir. Blick ich auf Ihr Haus ..., Ihr Tun
mag entschuldbar sein, nicht das meine. Meine Schuld ist sehr schwer,
aber vielleicht kann ich noch heraus. Dass wir hier abberufen wurden,
ist mir wie ein Zeichen, dass ich noch zu Gnaden angenommen werden
kann. Vergessen Sie das Geschehene, vergessen Sie mich. Ihre Effi."

Sie ueberflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war ihr das "Sie";
aber auch das musste sein; es sollte ausdruecken, dass keine Bruecke
mehr da sei. Und nun schob sie die Zeilen in ein Kuvert und ging auf
ein Haus zu, zwischen dem Kirchhof und der Waldecke. Ein duenner Rauch
stieg aus dem halb eingefallenen Schornstein. Da gab sie die Zeilen
ab.

Als sie wieder zurueck war, war Innstetten schon da, und sie setzte
sich zu ihm und erzaehlte ihm von Gieshuebler und dem Sal volatile.

Innstetten lachte. "Wo hast du nur dein Latein her, Effi?"

Das Schiff, ein leichtes Segelschiff (die Dampfboote gingen nur
sommers), fuhr um zwoelf. Schon eine Viertelstunde vorher waren Effi
und Innstetten an Bord; auch Roswitha und Annie.

Das Gepaeck war groesser, als es fuer einen auf so wenige Tage
geplanten Ausflug geboten schien. Innstetten sprach mit dem Kapitaen;
Effi, in einem Regenmantel und hellgrauem Reisehut, stand auf dem
Hinterdeck, nahe am Steuer, und musterte von hier aus das Bollwerk und
die huebsche Haeuserreihe, die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade
der Landungsbruecke gegenueber lag Hoppensacks Hotel, ein drei Stock
hohes Gebaeude, von dessen Giebeldach eine gelbe Flagge, mit Kreuz
und Krone darin, schlaff in der stillen, etwas nebeligen Luft
herniederhing. Effi sah eine Weile nach der Flagge hinauf, liess dann
aber ihr Auge wieder abwaerts gleiten und verweilte zuletzt auf einer
Anzahl von Personen, die neugierig am Bollwerk herumstanden. In diesem
Augenblick wurde gelaeutet. Effi war ganz eigen zumut; das Schiff
setzte sich langsam in Bewegung, und als sie die Landungsbruecke noch
einmal musterte, sah sie, dass Crampas in vorderster Reihe stand. Sie
erschrak bei seinem Anblick und freute sich doch auch. Er seinerseits,
in seiner ganzen Haltung veraendert, war sichtlich bewegt und gruesste
ernst zu ihr hinueber, ein Gruss, den sie ebenso, aber doch zugleich
in grosser Freundlichkeit erwiderte; dabei lag etwas Bittendes in
ihrem Auge. Dann ging sie rasch auf die Kajuete zu, wo sich Roswitha
mit Annie schon eingerichtet hatte. Hier in dem etwas stickigen Raum
blieb sie, bis man aus dem Fluss in die weite Bucht des Breitling
eingefahren war; da kam Innstetten und rief sie nach oben, dass sie
sich an dem herrlichen Anblick erfreue, den die Landschaft gerade an
dieser Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf. Ueber dem Wasserspiegel
hingen graue Wolken, und nur dann und wann schoss ein halb
umschleierter Sonnenblick aus dem Gewoelk hervor. Effi gedachte des
Tages, wo sie, vor jetzt Fuenfvierteljahren, im offenen Wagen am Ufer
ebendieses Breitlings hin entlanggefahren war. Eine kurze Spanne Zeit,
und das Leben oft so still und einsam. Und doch, was war alles seitdem
geschehen!

So fuhr man die Wasserstrasse hinauf und war um zwei an der Station
oder doch ganz in Naehe derselben. Als man gleich danach das Gasthaus
des "Fuersten Bismarck" passierte, stand auch Golchowski wieder in der
Tuer und versaeumte nicht, den Herrn Landrat und die gnaedige Frau bis
an die Stufen der Boeschung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht
angemeldet, und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig auf
und ab. Ihr Gespraech drehte sich um die Wohnungsfrage; man war einig
ueber den Stadtteil, und dass es zwischen dem Tiergarten und dem
Zoologischen Garten sein muesse. "Ich will den Finkenschlag hoeren und
die Papageien auch", sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu.

Nun aber hoerte man das Signal, und der Zug lief ein; der
Bahnhofsinspektor war voller Entgegenkommen, und Effi erhielt ein
Coupe fuer sich. Noch ein Haendedruck, ein Wehen mit dem Tuch, und der
Zug setzte sich wieder in Bewegung.



Dreiundzwanzigstes Kapitel

Auf dem Friedrichstrassen-Bahnhof war ein Gedraenge; aber trotzdem,
Effi hatte schon vom Coupe aus die Mama erkannt und neben ihr den
Vetter Briest. Die Freude des Wiedersehens war gross, das Warten in
der Gepaeckhalle stellte die Geduld auf keine allzu harte Probe,
und nach wenig mehr als fuenf Minuten rollte die Droschke neben dem
Pferdebahngleise hin in die Dorotheenstrasse hinein und auf die
Schadowstrasse zu, an deren naechstgelegener Ecke sich die "Pension"
befand. Roswitha war entzueckt und freute sich ueber Annie, die die
Haendchen nach den Lichtern ausstreckte.

Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, wie
erwartet, neben denen der Frau von Briest, aber doch auf demselben
Korridor lagen, und als alles seinen Platz und Stand hatte und Annie
in einem Bettchen mit Gitter gluecklich untergebracht war, erschien
Effi wieder im Zimmer der Mama, einem kleinen Salon mit Kamin, drin
ein schwaches Feuer brannte; denn es war mildes, beinah warmes Wetter.

Auf dem runden Tische mit gruener Schirmlampe waren drei Kuverts
gelegt, und auf einem Nebentischchen stand das Teezeug.

"Du wohnst ja reizend, Mama", sagte Effi, waehrend sie dem Sofa
gegenueber Platz nahm, aber nur um sich gleich danach an dem Teetisch
zu schaffen zu machen. "Darf ich wieder die Rolle des Teefraeuleins
uebernehmen?"

"Gewiss, meine liebe Effi Aber nur fuer Dagobert und dich selbst. Ich
meinerseits muss verzichten, was mir beinah schwerfaellt."

"Ich verstehe, deiner Augen halber. Aber nun sage mir, Mama, was ist
es damit? In der Droschke, die noch dazu so klapperte, haben wir immer
nur von Innstetten und unserer grossen Karriere gesprochen, viel
zuviel, und das geht nicht so weiter; glaube mir, deine Augen sind
mir wichtiger, und in einem finde ich sie, Gott sei Dank, ganz
unveraendert, du siehst mich immer noch so freundlich an wie frueher."

Und sie eilte auf die Mama zu und kuesste ihr die Hand. "Effi, du bist
so stuermisch. Ganz die alte."

"Ach nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte, es waere so. Man aendert
sich in der Ehe."

Vetter Briest lachte. "Cousine, ich merke nicht viel davon; du bist
noch huebscher geworden, das ist alles. Und mit dem Stuermischen wird
es wohl auch noch nicht vorbei sein."

"Ganz der Vetter", versicherte die Mama; Effi selbst aber wollte
davon nichts hoeren und sagte: "Dagobert, du bist alles, nur kein
Menschenkenner. Es ist sonderbar. Ihr Offiziere seid keine guten
Menschenkenner, die jungen gewiss nicht. Ihr guckt euch immer nur
selber an oder eure Rekruten, und die von der Kavallerie haben auch
noch ihre Pferde. Die wissen nun vollends nichts."

"Aber Cousine, wo hast du denn diese ganze Weisheit her? Du kennst
ja keine Offiziere. Kessin, so habe ich gelesen, hat ja auf die ihm
zugedachten Husaren verzichtet, ein Fall, der uebrigens einzig in
der Weltgeschichte dasteht. Und willst du von alten Zeiten sprechen?
Du warst ja noch ein halbes Kind, als die Rathenower zu euch
herueberkamen."

"Ich koennte dir erwidern, dass Kinder am besten beobachten. Aber ich
mag nicht, das sind ja alles bloss Allotria. Ich will wissen, wie's
mit Mamas Augen steht."

Frau von Briest erzaehlte nun, dass es der Augenarzt fuer Blutandrang
nach dem Gehirn ausgegeben habe. Daher kaeme das Flimmern. Es muesse
mit Diaet gezwungen werden; Bier, Kaffee, Tee - alles gestrichen und
gelegentlich eine lokale Blutentziehung, dann wuerde es bald besser
werden. "Er sprach so von vierzehn Tagen. Aber ich kenne die
Doktorangaben; vierzehn Tage heisst sechs Wochen, und ich werde
noch hier sein, wenn Innstetten kommt und ihr in eure neue Wohnung
einzieht. Ich will auch nicht leugnen, dass das das Beste von der
Sache ist und mich ueber die mutmasslich lange Kurdauer schon vorweg
troestet. Sucht euch nur recht was Huebsches. Ich habe mir Landgrafen-
oder Keithstrasse gedacht, elegant und doch nicht allzu teuer. Denn
ihr werdet euch einschraenken muessen. Innstettens Stellung ist sehr
ehrenvoll, aber sie wirft nicht allzuviel ab. Und Briest klagt auch.
Die Preise gehen herunter, und er erzaehlt mir jeden Tag, wenn
nicht Schutzzoelle kaemen, so muesste er mit einem Bettelsack von
Hohen-Cremmen abziehen. Du weisst, er uebertreibt gern. Aber nun lange
zu, Dagobert, und wenn es sein kann, erzaehle uns was Huebsches.
Krankheitsberichte sind immer langweilig, und die liebsten Menschen
hoeren bloss zu, weil es nicht anders geht. Effi wird wohl auch gern
eine Geschichte hoeren, etwas aus den Fliegenden Blaettern oder aus
dem Kladderadatsch. Er soll aber nicht mehr so gut sein."

"Oh, er ist noch ebensogut wie frueher. Sie haben immer noch
Strudelwitz und Prudelwitz, und da macht es sich von selber."

"Mein Liebling ist Karlchen Miessnick und Wippchen von Bernau."

"Ja, das sind die Besten. Aber Wippchen, der uebrigens - Pardon,
schoene Cousine - keine Kladderadatschfigur ist, Wippchen hat
gegenwaertig nichts zu tun, es ist ja kein Krieg mehr. Leider.
Unsereins moechte doch auch mal an die Reihe kommen und hier diese
schreckliche Leere", und er strich vom Knopfloch nach der Achsel
hinueber, "endlich loswerden." "Ach, das sind ja bloss Eitelkeiten.
Erzaehle lieber. Was ist denn jetzt dran?"

"Ja, Cousine, das ist ein eigen Ding. Das ist nicht fuer jedermann.
Jetzt haben wir naemlich die Bibelwitze."

"Die Bibelwitze? Was soll das heissen? ... Bibel und Witze gehoeren
nicht zusammen."

"Eben deshalb sagte ich, es sei nicht fuer jedermann. Aber ob
zulaessig oder nicht, sie stehen jetzt hoch im Preis. Modesache, wie
Kiebitzeier."

"Nun, wenn es nicht zu toll ist, so gib uns eine Probe. Geht es?"

"Gewiss geht es. Und ich moechte sogar hinzusetzen duerfen, du triffst
es besonders gut. Was jetzt naemlich kursiert, ist etwas hervorragend
Feines, weil es als Kombination auftritt und in die einfache
Bibelstelle noch das dativisch Wrangelsche mit einmischt. Die
Fragestellung - alle diese Witze treten naemlich in Frageform auf
- ist uebrigens in vorliegendem Falle von grosser Simplizitaet und
lautet: 'Wer war der erste Kutscher?' Und nun rate."

"Nun, vielleicht Apollo."

"Sehr gut. Du bist doch ein Daus, Effi. Ich waere nicht darauf
gekommen. Aber trotzdem, du triffst damit nicht ins Schwarze."

"Nun, wer war es denn?"

"Der erste Kutscher war 'Leid'. Denn schon im Buche Hiob heisst es:
'Leid soll mir nicht widerfahren', oder auch 'wieder fahren' in zwei
Woertern und mit einem e."

Effi wiederholte kopfschuettelnd den Satz, auch die Zubemerkung,
konnte sich aber trotz aller Muehe nicht drin zurechtfinden; sie
gehoerte ganz ausgesprochen zu den Bevorzugten, die fuer derlei Dinge
durchaus kein Organ haben, und so kam denn Vetter Briest in die nicht
beneidenswerte Situation, immer erneut erst auf den Gleichklang und
dann auch wieder auf den Unterschied von 'widerfahren' und 'wieder
fahren' hinweisen zu muessen.

"Ach, nun versteh ich. Und du musst mir verzeihen, dass es so lange
gedauert hat. Aber es ist wirklich zu dumm."

"Ja, dumm ist es", sagte Dagobert kleinlaut.

"Dumm und unpassend und kann einem Berlin ordentlich verleiden. Da
geht man nun aus Kessin fort, um wieder unter Menschen zu sein, und
das erste, was man hoert, ist ein Bibelwitz. Auch Mama schweigt, und
das sagt genug. Ich will dir aber doch den Rueckzug erleichtern ..."

"Das tu, Cousine."

"... den Rueckzug erleichtern und es ganz ernsthaft als ein gutes
Zeichen nehmen, dass mir, als erstes hier, von meinem Vetter Dagobert
gesagt wurde: 'Leid soll mir nicht widerfahren.' Sonderbar, Vetter, so
schwach die Sache als Witz ist, ich bin dir doch dankbar dafuer."

Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, versuchte ueber Effis
Feierlichkeit zu spoetteln, liess aber ab davon, als er sah, dass es
sie verdross.

Bald nach zehn Uhr brach er auf und versprach, am anderen Tage
wiederzukommen, um nach den Befehlen zu fragen.

Und gleich nachdem er gegangen, zog sich auch Effi in ihre Zimmer
zurueck.

Am andern Tage war das schoenste Wetter, und Mutter und Tochter
brachen frueh auf, zunaechst nach der Augenklinik, wo Effi im
Vorzimmer verblieb und sich mit dem Durchblaettern eines Albums
beschaeftigte. Dann ging es nach dem Tiergarten und bis in die Naehe
des "Zoologischen", um dort herum nach einer Wohnung zu suchen. Es
traf sich auch wirklich so, dass man in der Keithstrasse, worauf sich
ihre Wuensche von Anfang an gerichtet hatten, etwas durchaus Passendes
ausfindig machte, nur dass es ein Neubau war, feucht und noch
unfertig. "Es wird nicht gehen, liebe Effi", sagte Frau von Briest,
"schon einfach Gesundheitsruecksichten werden es verbieten. Und dann,
ein Geheimrat ist kein Trockenwohner."

Effi, so sehr ihr die Wohnung gefiel, war um so einverstandener mit
diesem Bedenken, als ihr an einer raschen Erledigung ueberhaupt nicht
lag, ganz im Gegenteil: "Zeit gewonnen, alles gewonnen", und so war
ihr denn ein Hinausschieben der ganzen Angelegenheit eigentlich das
Liebste, was ihr begegnen konnte. "Wir wollen diese Wohnung aber doch
im Auge behalten, Mama, sie liegt so schoen und ist im wesentlichen
das, was ich mir gewuenscht habe." Dann fuhren beide Damen in die
Stadt zurueck, assen im Restaurant, das man ihnen empfohlen, und waren
am Abend in der Oper, wozu der Arzt unter der Bedingung, dass Frau von
Briest mehr hoeren als sehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte.

Die naechsten Tage nahmen einen aehnlichen Verlauf; man war aufrichtig
erfreut, sich wiederzuhaben und nach so langer Zeit wieder ausgiebig
miteinander plaudern zu koennen. Effi, die sich nicht bloss auf
Zuhoeren und Erzaehlen, sondern, wenn ihr am wohlsten war, auch auf
Medisieren ganz vorzueglich verstand, geriet mehr als einmal in ihren
alten Uebermut, und die Mama schrieb nach Hause, wie gluecklich
sie sei, das "Kind" wieder so heiter und lachlustig zu finden; es
wiederhole sich ihnen allen die schoene Zeit von vor fast zwei Jahren,
wo man die Ausstattung besorgt habe. Auch Vetter Briest sei ganz der
alte. Das war nun auch wirklich der Fall, nur mit dem Unterschied,
dass er sich seltener sehen liess als vordem und auf die Frage nach
dem "Warum" anscheinend ernsthaft versicherte: "Du bist mir zu
gefaehrlich, Cousine." Das gab dann jedesmal ein Lachen bei Mutter und
Tochter, und Effi sagte: "Dagobert, du bist freilich noch sehr jung,
aber zu solcher Form des Courmachers doch nicht mehr jung genug."

So waren schon beinahe vierzehn Tage vergangen. Innstetten schrieb
immer dringlicher und wurde ziemlich spitz, fast auch gegen die
Schwiegermama, so dass Effi einsah, ein weiteres Hinausschieben sei
nicht mehr gut moeglich und es muesse nun wirklich gemietet werden.
Aber was dann? Bis zum Umzug nach Berlin waren immer noch drei Wochen,
und Innstetten drang auf rasche Rueckkehr. Es gab also nur ein Mittel:
Sie musste wieder eine Komoedie spielen, musste krank werden.

Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; aber es musste
sein, und als ihr das feststand, stand ihr auch fest, wie die Rolle,
bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, gespielt werden muesse.

"Mama, Innstetten, wie du siehst, wird ueber mein Ausbleiben
empfindlich. Ich denke, wir geben also nach und mieten heute noch.
Und morgen reise ich. Ach, es wird mir so schwer, mich von dir zu
trennen."

Frau von Briest war einverstanden. "Und welche Wohnung wirst du
waehlen?"

"Natuerlich die erste, die in der Keithstrasse, die mir von Anfang
an so gut gefiel und dir auch. Sie wird wohl noch nicht ganz
ausgetrocknet sein, aber es ist ja das Sommerhalbjahr, was
einigermassen ein Trost ist. Und wird es mit der Feuchtigkeit zu arg
und kommt ein bisschen Rheumatismus, so hab ich ja schliesslich immer
noch Hohen-Cremmen."

"Kind, beruf es nicht; ein Rheumatismus ist mitunter da, man weiss
nicht wie."

Diese Worte der Mama kamen Effi sehr zupass. Sie mietete denselben
Vormittag noch und schrieb eine Karte an Innstetten, dass sie den
naechsten Tag zurueckwolle. Gleich danach wurden auch wirklich die
Koffer gepackt und alle Vorbereitungen getroffen. Als dann aber der
andere Morgen da war, liess Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte:
"Mama, ich kann nicht reisen. Ich habe ein solches Reissen und Ziehen,
es schmerzt mich ueber den ganzen Ruecken hin, und ich glaube beinah,
es ist ein Rheumatismus. Ich haette nicht gedacht, dass das so
schmerzhaft sei."

"Siehst du, was ich dir gesagt habe; man soll den Teufel nicht an die
Wand malen. Gestern hast du noch leichtsinnig darueber gesprochen,
und heute ist es schon da. Wenn ich Schweigger sehe, werde ich ihn
fragen, was du tun sollst." "Nein, nicht Schweigger. Der ist ja ein
Spezialist. Das geht nicht, und er koennte es am Ende uebelnehmen, in
so was anderem zu Rate gezogen zu werden. Ich denke, das beste ist,
wir warten es ab. Es kann ja auch voruebergehen. Ich werde den
ganzen Tag ueber von Tee und Sodawasser leben, und wenn ich dann
transpiriere, komm ich vielleicht drueber hin."

Frau von Briest drueckte ihre Zustimmung aus, bestand aber darauf,
dass sie sich gut verpflege. Dass man nichts geniessen muesse, wie das
frueher Mode war, das sei ganz falsch und schwaeche bloss; in diesem
Punkt stehe sie ganz zu der jungen Schule: tuechtig essen.

Effi sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb ein
Telegramm an Innstetten, worin sie von dem "leidigen Zwischenfall" und
einer aergerlichen, aber doch nur momentanen Behinderung sprach, und
sagte dann zu Roswitha: "Roswitha, du musst mir nun auch Buecher
besorgen; es wird nicht schwerhalten, ich will alte, ganz alte."

"Gewiss, gnaed'ge Frau. Die Leihbibliothek ist ja gleich hier nebenan.
Was soll ich besorgen?"

"Ich will es aufschreiben, allerlei zur Auswahl, denn mitunter haben
sie nicht das eine, was man grade haben will." Roswitha brachte
Bleistift und Papier, und Effi schrieb auf:

Walter Scott, Ivanhoe oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion;
Dickens, David Copperfield; Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von
Bredow.

Roswitha las den Zettel durch und schnitt in der anderen Stube die
letzte Zeile fort; sie genierte sich ihret- und ihrer Frau wegen, den
Zettel in seiner urspruenglichen Gestalt abzugeben.

Ohne besondere Vorkommnisse verging der Tag. Am andern Morgen war
es nicht besser und am dritten auch nicht. "Effi, das geht so nicht
laenger. Wenn so was einreisst, dann wird man's nicht wieder los;
wovor die Doktoren am meisten warnen und mit Recht, das sind solche
Verschleppungen."

Effi seufzte. "Ja, Mama, aber wen sollen wir nehmen? Nur keinen
jungen; ich weiss nicht, aber es wuerde mich genieren."

"Ein junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht ist, desto
schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme mit einem ganz
alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch in der Heckerschen
Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren. Und damals war er nah
an Fuenfzig und hatte schoenes graues Haar, ganz kraus. Er war ein
Damenmann, aber in den richtigen Grenzen. Aerzte, die das vergessen,
gehen unter, und es kann auch nicht anders sein; unsere Frauen,
wenigstens die aus der Gesellschaft, haben immer noch einen guten
Fond."

"Meinst du? Ich freue mich immer, so was Gutes zu hoeren. Denn
mitunter hoert man doch auch andres. Und schwer mag es wohl oft sein.
Und wie heisst denn der alte Geheimrat? Ich nehme an, dass es ein
Geheimrat ist."

"Geheimrat Rummschuettel."

Effi lachte herzlich. "Rummschuettel! Und als Arzt fuer jemanden, der
sich nicht ruehren kann."

"Effi, du sprichst so sonderbar. Grosse Schmerzen kannst du nicht
haben."

"Nein, in diesem Augenblick nicht; es wechselt bestaendig."

Am anderen Morgen erschien Geheimrat Rummschuettel. Frau von Briest
empfing ihn, und als er Effi sah, war sein erstes Wort: "Ganz die
Mama."

Diese wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre und
drueber seien doch eine lange Zeit; Rummschuettel blieb aber bei
seiner Behauptung, zugleich versichernd: nicht jeder Kopf praege sich
ihm ein, aber wenn er ueberhaupt erst einen Eindruck empfangen habe,
so bleibe der auch fuer immer. "Und nun, meine gnaedigste Frau von
Innstetten, wo fehlt es, wo sollen wir helfen?"

"Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudruecken,
was es ist. Es wechselt bestaendig. In diesem Augenblick ist es wie
weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht, aber ich
moecht beinah glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen den Ruecken
entlang, und dann kann ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet an
Neuralgie, da hab ich es frueher beobachten koennen. Vielleicht ein
Erbstueck von ihm."

"Sehr wahrscheinlich", sagte Rummschuettel, der den Puls gefuehlt
und die Patientin leicht, aber doch scharf beobachtet hatte. "Sehr
wahrscheinlich, meine gnaedigste Frau." Was er aber still zu sich
selber sagte, das lautete: "Schulkrank und mit Virtuositaet gespielt;
Evastochter comme il faut." Er liess jedoch nichts davon merken,
sondern sagte mit allem wuenschenswerten Ernst: "Ruhe und Waerme
sind das Beste, was ich anraten kann. Eine Medizin, uebrigens nichts
Schlimmes, wird das Weitere tun."

Und er erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum
amararum eine halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen.
"Hiervon, meine gnaedigste Frau, bitte ich Sie, alle zwei Stunden
einen halben Teeloeffel voll nehmen zu wollen. Es wird Ihre Nerven
beruhigen. Und worauf ich noch dringen moechte: keine geistigen
Anstrengungen, keine Besuche, keine Lektuere." Dabei wies er auf das
neben ihr liegende Buch.

"Es ist Scott."

"Oh, dagegen ist nichts einzuwenden. Das beste sind
Reisebeschreibungen. Ich spreche morgen wieder vor."

Effi hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt. Als
sie wieder allein war - die Mama begleitete den Geheimrat -, schoss
ihr trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht gut bemerkt, dass er
ihrer Komoedie mit einer Komoedie begegnet war. Er war offenbar ein
ueberaus lebensgewandter Herr, der alles recht gut sah, aber nicht
alles sehen wollte, vielleicht weil er wusste, dass dergleichen auch
mal zu respektieren sein koenne. Denn gab es nicht zu respektierende
Komoedien, war nicht die, die er selber spielte, eine solche? Bald
danach kam die Mama zurueck, und Mutter und Tochter ergingen sich in
Lobeserhebungen ueber den feinen alten Herrn, der trotz seiner beinah
Siebzig noch etwas Jugendliches habe. "Schicke nur gleich Roswitha
nach der Apotheke ... Du sollst aber nur alle drei Stunden nehmen,
hat er mir draussen noch eigens gesagt. So war er schon damals, er
verschrieb nicht oft und nicht viel; aber immer Energisches, und es
half auch gleich."

Rummschuettel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten, weil er sah,
welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm
ihn fuer sie ein, und sein Urteil stand ihm nach dem dritten Besuch
fest: "Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie
sie handelt." Ueber solche Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag
laengst hinter ihm.

Als Rummschuettel seinen vierten Besuch machte, fand er Effi auf, in
einem Schaukelstuhl sitzend, ein Buch in der Hand, Annie neben ihr.

"Ah, meine gnaedigste Frau! Hocherfreut. Ich schiebe es nicht auf die
Arznei; das schoene Wetter, die hellen, frischen Maerztage, da faellt
die Krankheit ab. Ich beglueckwuensche Sie. Und die Frau Mama?"

"Sie ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstrasse, wo wir
gemietet haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage meinen Mann,
den ich mich, wenn in unserer Wohnung erst alles in Ordnung sein wird,
herzlich freue, Ihnen vorstellen zu koennen. Denn ich darf doch wohl
hoffen, dass Sie auch in Zukunft sich meiner annehmen werden."

Er verbeugte sich.

"Die neue Wohnung", fuhr sie fort, "ein Neubau, macht mir freilich
Sorge. Glauben Sie, Herr Geheimrat, dass die feuchten Waende ..."

"Nicht im geringsten, meine gnaedigste Frau. Lassen Sie drei, vier
Tage lang tuechtig heizen und immer Tueren und Fenster auf, da koennen
Sie's wagen, auf meine Verantwortung. Und mit Ihrer Neuralgie, das war
nicht von solcher Bedeutung. Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die
mir Gelegenheit gegeben hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und
eine neue zu machen."

Er wiederholte seine Verbeugung, sah noch Annie freundlich in die
Augen und verabschiedete sich unter Empfehlungen an die Mama.

Kaum dass er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch und
schrieb: "Lieber Innstetten! Eben war Rummschuettel hier und hat mich
aus der Kur entlassen. Ich koennte nun reisen, morgen etwa; aber heut
ist schon der 24., und am 28. willst Du hier eintreffen. Angegriffen
bin ich ohnehin noch. Ich denke, Du wirst einverstanden sein, wenn ich
die Reise ganz aufgebe. Die Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs,
und wir wuerden, wenn ich kaeme, in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben
muessen. Auch der Kostenpunkt ist in Betracht zu ziehen, die Ausgaben
werden sich ohnehin haeufen; unter anderem ist Rummschuettel zu
honorieren, wenn er uns auch als Arzt verbleibt. Uebrigens ein sehr
liebenswuerdiger alter Herr. Er gilt aerztlich nicht fuer ersten
Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner und Neider. Aber dies Wort
umschliesst doch auch ein Lob; es kann eben nicht jeder mit uns
umgehen. Dass ich von den Kessinern nicht persoenlich Abschied nehme,
hat nicht viel auf sich. Bei Gieshuebler war ich. Die Frau Majorin hat
sich immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart;
bleibt noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl
mich letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich Karten;
Gueldenklees, wie Du mir schreibst, sind in Italien (was sie da
wollen, weiss ich nicht), und so bleiben nur die drei andern.
Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann der Formen und
weisst das richtige Wort zu treffen. An Frau Von Padden, die mir am
Silvesterabend so ausserordentlich gut gefiel, schreibe ich vielleicht
selber noch und spreche ihr mein Bedauern aus. Lass mich in einem
Telegramm wissen, ob Du mit allem einverstanden bist. Wie immer Deine
Effi."

Effi brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die Antwort
beschleunigen koenne, und am naechsten Vormittag traf denn auch das
erbetene Telegramm von Innstetten ein: "Einverstanden mit allem." Ihr
Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf den naechsten Droschkenstand
zu: "Keithstrasse Ic." Und erst die Linden und dann die
Tiergartenstrasse hinunter flog die Droschke, und nun hielt sie vor
der neuen Wohnung.

Oben standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt
durcheinander, aber es stoerte sie nicht, und als sie auf den breiten,
aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der Kanalbruecke der
Tiergarten vor ihr, dessen Baeume schon ueberall einen gruenen
Schimmer zeigten. Darueber aber ein klarer blauer Himmel und eine
lachende Sonne.

Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann trat sie vom
Balkon her wieder ueber die Tuerschwelle zurueck, hob den Blick und
faltete die Haende.

"Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden."



Vierundzwanzigstes Kapitel

Drei Tage danach, ziemlich spaet, um die neunte Stunde, traf
Innstetten in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama, der
Vetter; der Empfang war herzlich, am herzlichsten von seiten Effis,
und man hatte bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen, als der
Wagen, den man genommen, vor der neuen Wohnung in der Keithstrasse
hielt. "Ach, da hast du gut gewaehlt, Effi", sagte Innstetten, als
er in das Vestibuel eintrat, "kein Haifisch, kein Krokodil und
hoffentlich auch kein Spuk."

"Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere Zeit an,
und ich fuerchte mich nicht mehr und will auch besser sein als frueher
und dir mehr zu Willen leben." Alles das fluesterte sie ihm zu,
waehrend sie die teppichbedeckte Treppe bis in den zweiten Stock
hinanstiegen. Der Vetter fuehrte die Mama.

Oben fehlte noch manches, aber fuer einen wohnlichen Eindruck war doch
gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darueber aus. "Effi, du
bist doch ein kleines Genie"; aber diese lehnte das Lob ab und zeigte
auf die Mama, die habe das eigentliche Verdienst. "Hier muss es
stehen", so habe es unerbittlich geheissen, und immer habe sie's
getroffen, wodurch natuerlich viel Zeit gespart und die gute Laune
nie gestoert worden sei. Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu
begruessen, bei welcher Gelegenheit sie sagte, Fraeulein Annie liesse
sich fuer heute entschuldigen - ein kleiner Witz, auf den sie stolz
war und mit dem sie auch ihren Zweck vollkommen erreichte.

Und nun nahmen sie Platz um den schon gedeckten Tisch, und als
Innstetten sich ein Glas Wein eingeschenkt und "auf glueckliche Tage"
mit allen angestossen hatte, nahm er Effis Hand und sagte: "Aber Effi,
nun erzaehle mir, was war das mit deiner Krankheit?"

"Ach, lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bisschen
schmerzhaft und eine rechte Stoerung, weil es einen Strich durch
unsere Plaene machte. Aber mehr war es nicht, und nun ist es vorbei.
Rummschuettel hat sich bewaehrt, ein feiner, liebenswuerdiger alter
Herr, wie ich dir, glaub ich, schon schrieb. In seiner Wissenschaft
soll er nicht gerade glaenzen, aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und
sie wird wohl recht haben, wie in allen Stuecken. Unser guter Doktor
Hannemann war auch kein Licht und traf es doch immer. Und nun sag, was
macht Gieshuebler und die anderen alle?"

"Ja, wer sind die anderen alle? Crampas laesst sich der gnaed'gen Frau
empfehlen ..."

"Ah, sehr artig."

"Und der Pastor will dir desgleichen empfohlen sein; nur die
Herrschaften auf dem Lande waren ziemlich nuechtern und schienen auch
mich fuer deinen Abschied ohne Abschied verantwortlich machen zu
wollen. Unsere Freundin Sidonie war sogar spitz, und nur die gute Frau
von Padden, zu der ich eigens vorgestern noch hinueberfuhr, freute
sich aufrichtig ueber deinen Gruss und deine Liebeserklaerung an sie.
Du seist eine reizende Frau, sagte sie, aber ich sollte dich gut
hueten. Und als ich ihr erwiderte, du faendest schon, dass ich mehr
ein Erzieher als ein Ehemann sei, sagte sie halblaut und beinahe wie
abwesend: 'Ein junges Laemmchen, weiss wie Schnee.' Und dann brach sie
ab."

Vetter Briest lachte. "'Ein junges Laemmchen, weiss wie Schnee.' Da
hoerst du's, Cousine." Und er wollte sie zu necken fortfahren, gab es
aber auf, als er sah, dass sie sich verfaerbte.

Das Gespraech, das meist zurueckliegende Verhaeltnisse beruehrte,
spann sich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr zuletzt aus diesem
und jenem, was Innstetten mitteilte, dass sich von dem ganzen Kessiner
Hausstand nur Johanna bereit erklaert habe, die Uebersiedlung nach
Berlin mitzumachen. Sie sei natuerlich noch zurueckgeblieben, werde
aber in zwei, drei Tagen mit dem Rest der Sachen eintreffen; er sei
froh ueber ihren Entschluss, denn sie sei immer die Brauchbarste
gewesen und von einem ausgesprochenen grossstaedtischen Schick.
Vielleicht ein bisschen zu sehr. Christel und Friedrich haetten sich
beide fuer zu alt erklaert, und mit Kruse zu verhandeln, habe sich
von vornherein verboten. "Was soll uns ein Kutscher hier?" schloss
Innstetten. "Pferd und Wagen, das sind tempi passati, mit diesem Luxus
ist es in Berlin vorbei. Nicht einmal das schwarze Huhn haetten wir
unterbringen koennen. Oder unterschaetze ich die Wohnung?"

Effi schuettelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat, erhob
sich die Mama; es sei bald elf, und sie habe noch einen weiten Weg,
uebrigens solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand sei ja nah
- ein Ansinnen, das Vetter Briest natuerlich ablehnte. Bald darauf
trennte man sich, nachdem noch ein Rendezvous fuer den anderen
Vormittag verabredet war.

Effi war ziemlich frueh auf und hatte - die Luft war beinahe
sommerlich warm - den Kaffeetisch bis nahe an die geoeffnete
Balkontuer ruecken lassen, und als Innstetten nun auch erschien, trat
sie mit ihm auf den Balkon hinaus und sagte: "Nun, was sagst du? Du
wolltest den Finkenschlag aus dem Tiergarten hoeren und die Papageien
aus dem Zoologischen.

Ich weiss nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, aber moeglich
ist es. Hoerst du wohl? Das kam von drueben, drueben aus dem kleinen
Park. Es ist nicht der eigentliche Tiergarten, aber doch beinah."

Innstetten war entzueckt und von einer Dankbarkeit, als ob Effi ihm
das alles persoenlich herangezaubert habe. Dann setzten sie sich, und
nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, dass Innstetten eine grosse
Veraenderung an dem Kinde finden solle, was er denn auch schliesslich
tat. Und dann plauderten sie weiter, abwechselnd ueber die Kessiner
und die in Berlin zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch ueber
eine Sommerreise. Mitten im Gespraech aber mussten sie abbrechen, um
rechtzeitig beim Rendezvous erscheinen zu koennen.

Man traf sich, wie verabredet, bei Helms, gegenueber dem Roten
Schloss, besuchte verschiedene Laeden, ass bei Hiller und war bei
guter Zeit wieder zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein
gewesen. Innstetten herzlich froh, das grossstaedtische Leben wieder
mitmachen und auf sich wirken lassen zu koennen. Tags darauf, am 1.
April, begab er sich in das Kanzlerpalais, um sich einzuschreiben
(eine persoenliche Gratulation unterliess er aus Ruecksicht), und ging
dann aufs Ministerium, um sich da zu melden. Er wurde auch angenommen,
trotzdem es ein geschaeftlich und gesellschaftlich sehr unruhiger
Tag war, ja, sah sich seitens seines Chefs durch besonders
entgegenkommende Liebenswuerdigkeit ausgezeichnet. Er wisse, was er an
ihm habe, und sei sicher, ihr Einvernehmen nie gestoert zu sehen.

Auch im Hause gestaltete sich alles zum Guten. Ein aufrichtiges
Bedauern war es fuer Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich
anfaenglich vermutet, fast sechs Wochen lang in Kur gewesen, nach
Hohen-Cremmen zurueckkehren zu sehen, ein Bedauern, das nur dadurch
einigermassen gemildert wurde, dass sich Johanna denselben Tag noch
in Berlin einstellte. Das war immerhin was, und wenn die huebsche
Blondine dem Herzen Effis auch nicht ganz so nahe stand wie die ganz
selbstsuchtslose und unendlich gutmuetige Roswitha, so war sie doch
gleichmaessig angesehen, ebenso bei Innstetten wie bei ihrer jungen
Herrin, weil sie sehr geschickt und brauchbar und der Maennerwelt
gegenueber von einer ausgesprochenen und selbstbewussten
Reserviertheit war. Einem Kessiner on dit zufolge liessen sich die
Wurzeln ihrer Existenz auf eine laengst pensionierte Groesse der
Garnison Pasewalk zurueckfuehren, woraus man sich auch ihre vornehme
Gesinnung, ihr schoenes blondes Haar und die besondere Plastik ihrer
Gesamterscheinung erklaeren wollte. Johanna selbst teilte die Freude,
die man allerseits ueber ihr Eintreffen empfand, und war durchaus
einverstanden damit, als Hausmaedchen und Jungfer, ganz wie frueher,
den Dienst bei Effi zu uebernehmen, waehrend Roswitha, die der
Christel in beinahe Jahresfrist ihre Kochkuenste so ziemlich abgelernt
hatte, dem Kuechendepartement vorstehen sollte. Annies Abwartung und
Pflege fiel Effi selber zu, worueber Roswitha freilich lachte. Denn
sie kannte die jungen Frauen.

Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war
gluecklicher als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, dass Effi
sich unbefangener und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich
freier fuehlte. Wohl blickte das Vergangene noch in ihr Leben hinein,
aber es aengstigte sie nicht mehr oder doch um vieles seltener und
voruebergehender, und alles, was davon noch in ihr nachzitterte, gab
ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem, was sie tat, lag etwas
Wehmuetiges, wie eine Abbitte, und es haette sie gluecklich gemacht,
dies alles noch deutlicher zeigen zu koennen. Aber das verbot sich
freilich.

Das gesellschaftliche Leben der grossen Stadt war, als sie waehrend
der ersten Aprilwochen ihre Besuche machten, noch nicht vorueber, wohl
aber im Erloeschen, und so kam es fuer sie zu keiner rechten Teilnahme
mehr daran. In der zweiten Haelfte des Mai starb es dann ganz hin, und
mehr noch als vorher war man gluecklich, sich in der Mittagsstunde,
wenn Innstetten von seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder
nachmittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schlossgarten
machen zu koennen. Effi sah sich, wenn sie die lange Front zwischen
dem Schloss und den Orangeriebaeumen auf und ab schritt, immer
wieder die massenhaft dort stehenden roemischen Kaiser an, fand
eine merkwuerdige Aehnlichkeit zwischen Nero und Titus, sammelte
Tannenaepfel, die von den Trauertannen gefallen waren, und ging dann,
Arm in Arm mit ihrem Manne, bis auf das nach der Spree hin einsam
gelegene "Belvedere" zu.

"Da drin soll es auch einmal gespukt haben", sagte sie.

"Nein, bloss Geistererscheinungen."

"Das ist dasselbe."

"Ja, zuweilen", sagte Innstetten. "Aber eigentlich ist doch ein
Unterschied. Geistererscheinungen werden immer gemacht - wenigstens
soll es hier in dem 'Belvedere' so gewesen sein, wie Vetter Briest
erst gestern noch erzaehlte -, Spuk aber wird nie gemacht, Spuk ist
natuerlich."

"Also glaubst du doch dran?"

"Gewiss glaub ich dran. Es gibt so was. Nur an das, was wir in Kessin
davon hatten, glaub ich nicht recht. Hat dir denn Johanna schon ihren
Chinesen gezeigt?"

"Welchen?"

"Nun, unsern. Sie hat ihn, ehe sie unser altes Haus verliess, oben von
der Stuhllehne abgeloest und ihn ins Portemonnaie gelegt. Als ich mir
neulich ein Markstueck bei ihr wechselte, hab ich ihn gesehen. Und sie
hat es mir auch verlegen bestaetigt."

"Ach, Geert, das haettest du mir nicht sagen sollen. Nun ist doch
wieder so was in unserm Hause."

"Sag ihr, dass sie ihn verbrennt."

"Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. Aber ich
will Roswitha bitten ..."

"Um was? Ah, ich verstehe schon, ich ahne, was du vorhast. Die soll
ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie tun. Ist es
so was?"

Effi nickte.

"Nun, tu, was du willst. Aber sag es niemandem."

Effi meinte dann schliesslich, es lieber doch lassen zu wollen, und
unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reiseplaene fuer den
Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis an den "Grossen
Stern" zurueck und gingen dann durch die Korso-Allee und die breite
Friedrich-Wilhelm-Strasse auf ihre Wohnung zu.

Sie hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische
Gebirge zu gehen, wo gerade in diesem Jahr wieder die Oberammergauer
Spiele stattfanden. Es liess sich aber nicht tun; Geheimrat von
Wuellesdorf, den Innstetten schon von frueher her kannte und der jetzt
sein Spezialkollege war, erkrankte ploetzlich, und Innstetten musste
bleiben und ihn vertreten. Erst Mitte August war alles wieder
beglichen und damit die Reisemoeglichkeit gegeben; es war aber nun zu
spaet geworden, um noch nach Oberammergau zu gehen, und so entschied
man sich fuer einen Aufenthalt auf Ruegen. "Zunaechst natuerlich
Stralsund, mit Schill, den du kennst, und mit Scheele, den du nicht
kennst und der den Sauerstoff entdeckte, was man aber nicht zu wissen
braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und dem Rugard, von wo
man, wie mir Wuellersdorf sagte, die ganze Insel uebersehen kann, und
dann zwischen dem Grossen und Kleinen Jasmunder-Bodden hin, bis nach
Sassnitz. Denn nach Ruegen reisen heisst nach Sassnitz reisen. Binz
ginge vielleicht auch noch, aber da sind - ich muss Wuellersdorf noch
einmal zitieren - so viele kleine Steinchen und Muschelschalen am
Strand, und wir wollen doch baden."

Effi war einverstanden mit allem, was von seiten Innstettens geplant
wurde, vor allem auch damit, dass der ganze Hausstand auf vier Wochen
aufgeloest und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen, Johanna aber zu
ihrem etwas juengeren Halbbruder reisen sollte, der bei Pasewalk eine
Schneidemuehle hatte. So war alles gut untergebracht. Mit Beginn der
naechsten Woche brach man denn auch wirklich auf, und am selben Abend
noch war man in Sassnitz. Ueber dem Gasthaus stand "Hotel Fahrenheit".
"Die Preise hoffentlich nach Reaumur", setzte Innstetten, als er
den Namen las, hinzu, und in bester Laune machten beide noch einen
Abendspaziergang an dem Klippenstrand hin und sahen von einem
Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein ueberzitterte
Bucht. Effi war entzueckt. "Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja
Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber natuerlich nicht im Hotel; die
Kellner sind mir zu vornehm, und man geniert sich, um eine Flasche
Sodawasser zu bitten ..."

"Ja, lauter Attaches. Es wird sich aber wohl eine Privatwohnung finden
lassen."

"Denk ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach aussehen."

Schoen wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Fruehstueck im
Freien. Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt werden
mussten, und so beschloss Effi, die fuer sie freigewordene Stunde
sofort zur Wohnungssuche zu benutzen. Sie ging erst an einer
eingepferchten Wiese, dann an Haeusergruppen und Haferfeldern vorueber
und bog zuletzt in einen Weg ein, der schluchtartig auf das Meer
zulief. Da, wo dieser Schluchtenweg den Strand traf, stand ein von
hohen Buchen ueberschattetes Gasthaus, nicht so vornehm wie das
Fahrenheitsche, mehr ein blosses Restaurant, in dem, der fruehen
Stunde halber, noch alles leer war. Effi nahm an einem Aussichtspunkt
Platz, und kaum dass sie von dem Sherry, den sie bestellt, genippt
hatte, so trat auch schon der Wirt an sie heran, um halb aus Neugier
und halb aus Artigkeit ein Gespraech mit ihr anzuknuepfen.

"Es gefaellt uns sehr gut hier", sagte sie, "meinem Manne und mir;
welch praechtiger Blick ueber die Bucht, und wir sind nur in Sorge
wegen einer Wohnung."

"Ja, gnaedigste Frau, das wird schwerhalten ..."

"Es ist aber schon spaet im Jahr ..."

"Trotzdem. Hier in Sassnitz ist sicherlich nichts zu finden, dafuer
moecht ich mich verbuergen; aber weiterhin am Strand, wo das naechste
Dorf anfaengt, Sie koennen die Daecher von hier aus blinken sehen, da
moecht es vielleicht sein."

"Und wie heisst das Dorf?" "Crampas."

Effi glaubte nicht recht gehoert zu haben. "Crampas", wiederholte sie
mit Anstrengung. "Ich habe den Namen als Ortsnamen nie gehoert ... Und
sonst nichts in der Naehe?"

"Nein, gnaedigste Frau. Hier herum nichts. Aber hoeher hinauf, nach
Norden zu, da kommen noch wieder Doerfer, und in dem Gasthause, das
dicht neben Stubbenkammer liegt, wird man Ihnen gewiss Auskunft geben
koennen. Es werden dort von solchen, die gerne noch vermieten wollen,
immer Adressen abgegeben."

Effi war froh, das Gespraech allein gefuehrt zu haben, und als sie
bald danach ihrem Manne Bericht erstattet und nur den Namen des an
Sassnitz angrenzenden Dorfes verschwiegen hatte, sagte dieser: "Nun,
wenn es hier herum nichts gibt, so wird es das beste sein, wir nehmen
einen Wagen (wodurch man sich beilaeufig einem Hotel immer empfiehlt)
und uebersiedeln ohne weiteres da hoeher hinauf, nach Stubbenkammer
hin. Irgendwas Idyllisches mit einer Geissblattlaube wird sich da wohl
finden lassen, und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das
Hotel selbst. Eins ist schliesslich wie das andere."

Effi war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie das
neben Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten eben
gesprochen, und bestellten daselbst einen Imbiss. "Aber erst nach
einer halben Stunde; wir haben vor, zunaechst noch einen Spaziergang
zu machen und uns den Herthasee anzusehen. Ein Fuehrer ist doch wohl
da?"

Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren trat alsbald an
unsere Reisenden heran. Er sah so wichtig und feierlich aus, als ob er
mindestens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienst gewesen waere.

Der von hohen Baeumen umstandene See lag ganz in der Naehe, Binsen
saeumten ihn ein, und auf der stillen, schwarzen Wasserflaeche
schwammen zahlreiche Mummeln.

"Es sieht wirklich nach so was aus", sagte Effi, "nach Herthadienst."

"Ja, gnaed'ge Frau ... Dessen sind auch noch die Steine Zeugen."

"Welche Steine?"

"Die Opfersteine."

Und waehrend sich das Gespraech in dieser Weise fortsetzte, traten
alle drei vom See her an eine senkrechte, abgestochene Kies- und
Lehmwand heran, an die sich etliche glattpolierte Steine lehnten, alle
mit einer flachen Hoehlung und etlichen nach unten laufenden Rinnen.

"Und was bezwecken die?"

"Dass es besser abliefe, gnaed'ge Frau."

"Lass uns gehen", sagte Effi, und den Arm ihres Mannes nehmend, ging
sie mit ihm wieder auf das Gasthaus zurueck, wo nun, an einer Stelle
mit weitem Ausblick auf das Meer, das vorher bestellte Fruehstueck
aufgetragen wurde. Die Bucht lag im Sonnenlicht vor ihnen, einzelne
Segelboote glitten darueber hin, und um die benachbarten Klippen
haschten sich die Moewen. Es war sehr schoen, auch Effi fand es;
aber wenn sie dann ueber die glitzernde Flaeche hinwegsah, bemerkte
sie, nach Sueden zu, wieder die hell aufleuchtenden Daecher des
langgestreckten Dorfes, dessen Name sie heute frueh so sehr erschreckt
hatte.

Innstetten, wenn auch ohne Wissen und Ahnung dessen, was in ihr
vorging, sah doch deutlich, dass es ihr an aller Lust und Freude
gebrach. "Es tut mir leid, Effi, dass du der Sache nicht recht froh
wirst. Du kannst den Herthasee nicht vergessen und noch weniger die
Steine."

Sie nickte. "Es ist so, wie du sagst. Und ich muss dir bekennen, ich
habe nichts in meinem Leben gesehen, was mich so traurig gestimmt
haette. Wir wollen das Wohnungssuchen ganz aufgeben; ich kann hier
nicht bleiben."

"Und gestern war es dir noch der Golf von Neapel und alles moegliche
Schoene."

"Ja, gestern."

"Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?"

"Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent, als ob es
sterben wollte."

"Gut dann, Effi", sagte Innstetten und reichte ihr die Hand.

"Ich will dich mit Ruegen nicht quaelen, und so geben wir's denn
auf. Abgemacht. Es ist nicht noetig, dass wir uns an Stubbenkammer
anklammern oder an Sassnitz oder da weiter hinunter. Aber wohin?"

"Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das Dampfschiff ab,
das, wenn ich nicht irre, morgen von Stettin kommt und nach Kopenhagen
hinueberfaehrt. Da soll es ja so vergnueglich sein, und ich kann dir
gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach etwas Vergnueglichem sehne.
Hier ist mir, als ob ich in meinem ganzen Leben nicht mehr lachen
koennte und ueberhaupt nie gelacht haette, und du weisst doch, wie
gern ich lache."

Innstetten zeigte sich voll Teilnahme mit ihrem Zustand, und das um
so lieber, als er ihr in vielem recht gab. Es war wirklich alles
schwermuetig, so schoen es war.

Und so warteten sie denn das Stettiner Schiff ab und trafen am
dritten Tag in aller Fruehe in Kopenhagen ein, wo sie auf Kongens
Nytorv Wohnung nahmen. Zwei Stunden spaeter waren sie schon im
Thorwaldsen-Museum, und Effi sagte: "Ja, Geert, das ist schoen, und
ich bin gluecklich, dass wir uns hierher auf den Weg gemacht haben."
Bald danach gingen sie zu Tisch und machten an der Table d'hote die
Bekanntschaft einer ihnen gegenuebersitzenden juetlaendischen Familie,
deren bildschoene Tochter, Thora von Penz, ebenso Innstettens wie
Effis beinah bewundernde Aufmerksamkeit sofort in Anspruch nahm. Effi
konnte sich nicht satt sehen an den grossen blauen Augen und dem
flachsblonden Haar, und als man sich nach anderthalb Stunden von Tisch
erhob, wurde seitens der Penzschen Familie - die leider, denselben Tag
noch, Kopenhagen wieder verlassen musste - die Hoffnung ausgesprochen,
das junge preussische Paar mit naechstem in Schloss Aggerhuus (eine
halbe Meile vom Limfjord) begruessen zu duerfen, eine Einladung, die
von den Innstettens auch ohne langes Zoegern angenommen wurde. So
vergingen die Stunden im Hotel. Aber damit war es nicht genug des
Guten an diesem merkwuerdigen Tag, von dem Effi denn auch versicherte,
dass er im Kalender rot angestrichen werden muesse.

Der Abend brachte, das Mass des Gluecks voll zu machen, eine
Vorstellung im Tivoli-Theater: eine italienische Pantomime, Arlequin
und Colombine.

Effi war wie berauscht von den kleinen Schelmereien, und als sie spaet
am Abend nach ihrem Hotel zurueckkehrten, sagte sie: "Weisst du,
Geert, nun fuehl ich doch, dass ich allmaehlich wieder zu mir komme.
Von der schoenen Thora will ich gar nicht erst sprechen; aber wenn ich
bedenke, heute vormittag Thorwaldsen und heute abend diese Colombine
..."

"... Die dir im Grunde doch noch lieber war als Thorwaldsen..."

"Offen gestanden, ja. Ich habe nun mal den Sinn fuer dergleichen.
Unser gutes Kessin war ein Unglueck fuer mich. Alles fiel mir da auf
die Nerven. Ruegen beinah auch. Ich denke, wir bleiben noch ein paar
Tage hier in Kopenhagen, natuerlich mit Ausflug nach Frederiksborg
und Helsingoer, und dann nach Juetland hinueber; ich freue mich
aufrichtig, die schoene Thora wiederzusehen, und wenn ich ein Mann
waere, so verliebte ich mich in sie."

Innstetten lachte. "Du weisst noch nicht, was ich tue."

"Waer mir schon recht. Dann gibt es einen Wettstreit, und du sollst
sehen, dann hab ich auch noch meine Kraefte."

"Das brauchst du mir nicht erst zu versichern."

So verlief denn auch die Reise. Drueben in Juetland fuhren sie den
Limfjord hinauf, bis Schloss Aggerhuus, wo sie drei Tage bei der
Penzschen Familie verblieben, und kehrten dann mit vielen Stationen
und kuerzeren und laengeren Aufenthalten in Viborg, Flensburg, Kiel
ueber Hamburg (das ihnen ungemein gefiel) in die Heimat zurueck -
nicht direkt nach Berlin in die Keithstrasse, wohl aber vorher nach
Hohen-Cremmen, wo man sich nun einer wohlverdienten Ruhe hingeben
wollte, fuer Innstetten bedeutete das nur wenige Tage, da sein Urlaub
abgelaufen war, Effi blieb aber noch eine Woche laenger und sprach es
aus, erst zum dritten Oktober, ihrem Hochzeitstag, wieder zu Hause
eintreffen zu wollen.

Annie war in der Landluft praechtig gediehen, und was Roswitha geplant
hatte, dass sie der Mama in Stiefelchen entgegenlaufen sollte, das
gelang auch vollkommen. Briest gab sich als zaertlicher Grossvater,
warnte vor zuviel Liebe, noch mehr vor zuviel Strenge, und war in
allem der alte. Eigentlich aber galt all seine Zaertlichkeit doch nur
Effi, mit der er sich in seinem Gemuet immer beschaeftigte, zumeist
auch, wenn er mit seiner Frau allein war.

"Wie findest du Effi?"

"Lieb und gut wie immer. Wir koennen Gott nicht genug danken, eine so
liebenswuerdige Tochter zu haben. Und wie dankbar sie fuer alles ist
und immer so gluecklich, wieder unter unserm Dach zu sein."

"Ja", sagte Briest, "sie hat von dieser Tugend mehr, als mir lieb ist.
Eigentlich ist es, als waere dies hier immer noch ihre Heimstaette.
Sie hat doch den Mann und das Kind, und der Mann ist ein Juwel, und
das Kind ist ein Engel, aber dabei tut sie, als waere Hohen-Cremmen
immer noch die Hauptsache fuer sie, und Mann und Kind kaemen gegen uns
beide nicht an. Sie ist eine praechtige Tochter, aber sie ist es mir
zu sehr. Es aengstigt mich ein bisschen. Und ist auch ungerecht gegen
Innstetten. Wie steht es denn eigentlich damit?"

"Ja, Briest, was meinst du?"

"Nun, ich meine, was ich meine, und du weisst auch was. Ist sie
gluecklich? Oder ist da doch irgendwas im Wege? Von Anfang an war
mir's so, als ob sie ihn mehr schaetze als liebe. Und das ist in
meinen Augen ein schlimm Ding. Liebe haelt auch nicht immer vor, aber
Schaetzung gewiss nicht. Eigentlich aergern sich die Weiber, wenn sie
wen schaetzen muessen; erst aergern sie sich, und dann langweilen sie
sich, und zuletzt lachen sie."

"Hast du so was an dir selber erfahren?"

"Das will ich nicht sagen. Dazu stand ich nicht hoch genug in der
Schaetzung. Aber schrauben wir uns nicht weiter, Luise. Sage, wie
steht es?"

"Ja, Briest, du kommst immer auf diese Dinge zurueck. Da reicht ja
kein dutzendmal, dass wir darueber gesprochen und unsere Meinungen
ausgetauscht haben, und immer bist du wieder da mit deinem
Alleswissenwollen und fragst dabei so schrecklich naiv, als ob ich in
alle Tiefen saehe. Was hast du nur fuer Vorstellungen von einer jungen
Frau und ganz speziell von deiner Tochter? Glaubst du, dass das alles
so plan daliegt? Oder dass ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht
gleich auf den Namen der Person besinnen) oder dass ich die Wahrheit
sofort klipp und klar in den Haenden halte, wenn mir Effi ihr Herz
ausgeschuettet hat? Oder was man wenigstens so nennt. Denn was heisst
ausschuetten? Das Eigentliche bleibt doch zurueck. Sie wird sich
hueten, mich in ihre Geheimnisse einzuweihen. Ausserdem, ich weiss
nicht, von wem sie's hat, sie ist ... ja, sie ist eine sehr schlaue
kleine Person, und diese Schlauheit an ihr ist um so gefaehrlicher,
weil sie so sehr liebenswuerdig ist."

"Also das gibst du doch zu ... liebenswuerdig. Und auch gut?"

"Auch gut. Das heisst voll Herzensguete. Wie's sonst steht, da bin ich
mir doch nicht sicher; ich glaube, sie hat einen Zug, den lieben Gott
einen guten Mann sein zu lassen und sich zu troesten, er werde wohl
nicht allzu streng mit ihr sein."

"Meinst du?"

"Ja, das meine ich. Uebrigens glaube ich, dass sich vieles gebessert
hat. Ihr Charakter ist, wie er ist, aber die Verhaeltnisse liegen seit
ihrer Uebersiedlung um vieles guenstiger, und sie leben sich mehr und
mehr ineinander ein. Sie hat mir so was gesagt, und was mir wichtiger
ist, ich hab es auch bestaetigt gefunden, mit Augen gesehen."

"Nun, was sagte sie?"

"Sie sagte: 'Mama, es geht jetzt besser. Innstetten war immer ein
vortrefflicher Mann, so einer, wie's nicht viele gibt, aber ich konnte
nicht recht an ihn heran, er hatte so was Fremdes. Und fremd war er
auch in seiner Zaertlichkeit. Ja, dann am meisten; es hat Zeiten
gegeben, wo ich mich davor fuerchtete."

"Kenn ich, kenn' ich."

"Was soll das heissen, Briest? Soll ich mich gefuerchtet haben, oder
willst du dich gefuerchtet haben? Ich finde beides gleich laecherlich
..."

"Du wolltest von Effi erzaehlen."

"Nun also, sie gestand mir, dass dies Gefuehl des Fremden sie
verlassen habe, was sie sehr gluecklich mache. Kessin sei nicht der
rechte Platz fuer sie gewesen, das spukige Haus und die Menschen da,
die einen zu fromm, die andern zu platt; aber seit ihrer Uebersiedlung
nach Berlin fuehle sie sich ganz an ihrem Platz. Er sei der beste
Mensch, etwas zu alt fuer sie und zu gut fuer sie, aber sie sei nun
ueber den Berg. Sie brauchte diesen Ausdruck, der mir allerdings
auffiel."

"Wieso? Er ist nicht ganz auf der Hoehe, ich meine der Ausdruck. Aber
..."

"Es steckt etwas dahinter. Und sie hat mir das auch andeuten wollen."

"Meinst du?"

"Ja, Briest; du glaubst immer, sie koenne kein Wasser trueben. Aber
darin irrst du. Sie laesst sich gern treiben, und wenn die Welle gut
ist, dann ist sie auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht
ihre Sache."

Roswitha kam mit Annie, und so brach das Gespraech ab.

Dies Gespraech fuehrten Briest und Frau an demselben Tag, wo
Innstetten von Hohen-Cremmen nach Berlin hin abgereist war, Effi auf
wenigstens noch eine Woche zuruecklassend. Er wusste, dass es nichts
Schoeneres fuer sie gab, als so sorglos in einer weichen Stimmung
hintraeumen zu koennen, immer freundliche Worte zu hoeren und die
Versicherung, wie liebenswuerdig sie sei. Ja, das war das, was ihr vor
allem wohltat, und sie genoss es auch diesmal wieder in vollen Zuegen
und aufs dankbarste, trotzdem jede Zerstreuung fehlte; Besuch kam
selten, weil es seit ihrer Verheiratung, wenigstens fuer die junge
Welt, an dem rechten Anziehungspunkt gebrach, und selbst die Pfarre
und die Schule waren nicht mehr das, was sie noch vor Jahr und Tag
gewesen waren. Zumal im Schulhaus stand alles halb leer. Die Zwillinge
hatten sich im Fruehjahr an zwei Lehrer in der Naehe von Genthin
verheiratet, grosse Doppelhochzeit mit Festbericht im "Anzeiger fuers
Havelland", und Hulda war in Friesack zur Pflege einer alten Erbtante,
die sich uebrigens, wie gewoehnlich in solchen Faellen, um sehr viel
langlebiger erwies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda schrieb
aber trotzdem immer zufriedene Briefe, nicht weil sie wirklich
zufrieden war (im Gegenteil), sondern weil sie den Verdacht nicht
aufkommen lassen wollte, dass es einem so ausgezeichneten Wesen anders
als sehr gut ergehen koenne. Niemeyer, ein schwacher Vater, zeigte die
Briefe mit Stolz und Freude, waehrend der ebenfalls ganz in seinen
Toechtern lebende Jahnke sich herausgerechnet hatte, dass beide
junge Frauen am selben Tage, und zwar am Weihnachtsheiligabend, ihre
Niederkunft halten wuerden. Effi lachte herzlich und drueckte dem
Grossvater in spe zunaechst den Wunsch aus, bei beiden Enkeln zu
Gevatter geladen zu werden, liess dann aber die Familienthemata fallen
und erzaehlte von "Kjoebenhavn" und Helsingoer, vom Limfjord und
Schloss Aggerhuus und vor allem von Thora von Penz, die, wie sie
nur sagen koenne, "typisch skandinavisch" gewesen sei, blauaeugig,
flachsen und immer in einer roten Plueschtaille, wobei sich Jahnke
verklaerte und einmal ueber das andere sagte: "Ja, so sind sie; rein
germanisch, viel deutscher als die Deutschen."

An ihrem Hochzeitstag, dem dritten Oktober, wollte Effi wieder in
Berlin sein. Nun war es der Abend vorher, und unter dem Vorgeben,
dass sie packen und alles zur Rueckreise vorbereiten wolle, hatte sie
sich schon verhaeltnismaessig frueh auf ihr Zimmer zurueckgezogen.
Eigentlich lag ihr aber nur daran, allein zu sein; so gern sie
plauderte, so hatte sie doch auch Stunden, wo sie sich nach Ruhe
sehnte.

Die von ihr im Oberstock bewohnten Zimmer lagen nach dem Garten
hinaus; in dem kleineren schliefen Roswitha und Annie, die Tuer nur
angelehnt, in dem groesseren, das sie selber innehatte, ging sie auf
und ab; die unteren Fensterfluegel waren geoeffnet, und die kleinen
weissen Gardinen bauschten sich in dem Zug, der ging, und fielen dann
langsam ueber die Stuhllehne, bis ein neuer Zugwind kam und sie wieder
frei machte. Dabei war es so hell, dass man die Unterschriften unter
den ueber dem Sofa haengenden und in schmale Goldleisten eingerahmten
Bildern deutlich lesen konnte:

"Der Sturm auf Dueppel, Schanze V" und daneben: "Koenig Wilhelm und
Graf Bismarck auf der Hoehe von Lipa". Effi schuettelte den Kopf und
laechelte. "Wenn ich wieder hier bin, bitt ich mir andere Bilder aus;
ich kann so was Kriegerisches nicht leiden." Und nun schloss sie
das eine Fenster und setzte sich an das andere, dessen Fluegel sie
offenliess. Wie tat ihr das alles so wohl. Neben dem Kirchturm stand
der Mond und warf sein Licht auf den Rasenplatz mit der Sonnenuhr
und den Heliotropbeeten. Alles schimmerte silbern, und neben den
Schattenstreifen lagen weisse Lichtstreifen, so weiss, als laege
Leinwand auf der Bleiche. Weiterhin aber standen die hohen
Rhabarberstauden wieder, die Blaetter herbstlich gelb, und sie musste
des Tages gedenken, nun erst wenig ueber zwei Jahre, wo sie hier
mit Hulda und den Jahnkeschen Maedchen gespielt hatte. Und dann
war sie, als der Besuch kam, die kleine Steintreppe neben der Bank
hinaufgestiegen, und eine Stunde spaeter war sie Braut.

Sie erhob sich und ging auf die Tuer zu und horchte: Roswitha schlief
schon und Annie auch.

Und mit einem Male, waehrend sie das Kind so vor sich hatte, traten
ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Tagen wieder vor ihre
Seele: das landraetliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit
dem Blick auf die Plantage, und sie sass im Schaukelstuhl und wiegte
sich; und nun trat Crampas an sie heran, um sie zu begruessen, und
dann kam Roswitha mit dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in
die Hoehe und kuesste es.

"Das war der erste Tag; da fing es an." Und waehrend sie dem nachhing,
verliess sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich
wieder an das offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus.

"Ich kann es nicht loswerden", sagte sie. "Und was das schlimmste ist
und mich ganz irre macht an mir selbst ..."

In diesem Augenblick setzte die Turmuhr drueben ein, und Effi zaehlte
die Schlaege.

"Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir
sprechen davon, dass unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes
und Freundliches und vielleicht Zaertliches. Und ich sitze dabei und
hoere es und habe die Schuld auf meiner Seele."

Und sie stuetzte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und
schwieg.

"Und ich habe die Schuld auf meiner Seele", wiederholte sie. "Ja, da
hab ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist
es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas
ganz anderes - Angst, Todesangst und die ewige Furcht: Es kommt doch
am Ende noch an den Tag. Und dann ausser der Angst ... Scham. Ich
schaeme mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch
nicht die rechte Scham. Ich schaeme mich bloss von wegen dem ewigen
Lug und Trug; immer war es mein Stolz, dass ich nicht luegen koenne
und auch nicht zu luegen brauche, luegen ist so gemein, und nun habe
ich doch immer luegen muessen, vor ihm und vor aller Welt, im grossen
und im kleinen, und Rummschuettel hat es gemerkt und hat die Achseln
gezuckt, und wer weiss, was er von mir denkt, jedenfalls nicht das
Beste. Ja, Angst quaelt mich und dazu Scham ueber mein Luegenspiel.
Aber Scham ueber meine Schuld, die hab ich nicht oder doch nicht so
recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, dass ich sie
nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und
wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich,
dann ist etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das
richtige Gefuehl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten
Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, mal gesagt: auf ein
richtiges Gefuehl, darauf kaeme es an, und wenn man das habe, dann
koenne einem das Schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht
habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den
Teufel nenne, das habe dann eine sichere Macht ueber uns. Um Gottes
Barmherzigkeit willen, steht es so mit mir?"

Und sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich. Als sie
sich wieder aufrichtete, war sie ruhiger geworden und sah wieder in
den Garten hinaus. Alles war so still, und ein leiser, feiner Ton, wie
wenn es regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr.

So verging eine Weile. Herueber von der Dorfstrasse klang ein
Geplaerr: der alte Nachtwaechter Kulicke rief die Stunden ab, und
als er zuletzt schwieg, vernahm sie von fernher, aber immer naeher
kommend, das Rasseln des Zuges, der auf eine halbe Meile Entfernung an
Hohen-Cremmen vorueberfuhr. Dann wurde der Laerm wieder schwaecher,
endlich erstarb er ganz, und nur der Mondschein lag noch auf dem
Grasplatz, und nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie
leiser Regen nieder. Aber es war nur die Nachtluft, die ging.



Fuenfundzwanzigstes Kapitel

Am andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Innstetten empfing sie
am Bahnhof, mit ihm Rollo, der, als sie plaudernd durch den Tiergarten
hinfuhren, nebenher trabte.

"Ich dachte schon, du wuerdest nicht Wort halten."

"Aber Geert, ich werde doch Wort halten, das ist doch das erste."

"Sage das nicht. Immer Wort halten ist sehr viel. Und mitunter kann
man auch nicht. Denke doch zurueck. Ich erwartete dich damals in
Kessin, als du die Wohnung mietetest, und wer nicht kam, war Effi."

"Ja, das war was anderes."

Sie mochte nicht sagen "ich war krank", und Innstetten hoerte drueber
hin. Er hatte seinen Kopf auch voll anderer Dinge, die sich auf sein
Amt und seine gesellschaftliche Stellung bezogen. "Eigentlich, Effi,
faengt unser Berliner Leben nun erst an. Als wir im April hier
einzogen, damals ging es mit der Saison auf die Neige, kaum noch, dass
wir unsere Besuche machen konnten, und Wuellersdorf, der einzige,
dem wir naherstanden - nun, der ist leider Junggeselle. Von Juni an
schlaeft dann alles ein, und die heruntergelassenen Rollos verkuenden
einem schon auf hundert Schritt 'Alles ausgeflogen'; ob wahr oder
nicht, macht keinen Unterschied ... Ja, was blieb da noch? Mal mit
Vetter Briest sprechen, mal bei Hiller essen, das ist kein richtiges
Berliner Leben. Aber nun soll es anders werden. Ich habe mir die Namen
aller Raete notiert, die noch mobil genug sind, um ein Haus zu machen.
Und wir wollen es auch, wollen auch ein Haus machen, und wenn der
Winter dann da ist, dann soll es im ganzen Ministerium heissen: 'Ja,
die liebenswuerdigste Frau, die wir jetzt haben, das ist doch die Frau
von Innstetten.'"

"Ach, Geert, ich kenne dich ja gar nicht wieder, du sprichst ja wie
ein Courmacher."

"Es ist unser Hochzeitstag, und da musst du mir schon was zugute
halten."

Innstetten war ernsthaft gewillt, auf das stille Leben, das er
in seiner landraetlichen Stellung gefuehrt, ein gesellschaftlich
angeregteres folgen zu lassen, um seinet- und noch mehr um Effis
willen; es liess sich aber anfangs nur schwach und vereinzelt damit
an, die rechte Zeit war noch nicht gekommen, und das Beste, was man
zunaechst von dem neuen Leben hatte, war genauso wie waehrend des
zurueckliegenden Halbjahres ein Leben im Hause. Wuellersdorf kam oft,
auch Vetter Briest, und waren die da, so schickte man zu Gizickis
hinauf, einem jungen Ehepaar, das ueber ihnen wohnte. Gizicki selbst
war Landgerichtsrat, seine kluge, aufgeweckte Frau ein Fraeulein
von Schmettau. Mitunter wurde musiziert, kurze Zeit sogar ein Whist
versucht; man gab es aber wieder auf, weil man fand, dass eine
Plauderei gemuetlicher waere. Gizickis hatten bis vor kurzem in einer
kleinen oberschlesischen Stadt gelebt, und Wuellersdorf war sogar,
freilich vor einer Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten
kleinen Nestern der Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch den
bekannten Spottvers:

        Schrimm
        Ist schlimm,
        Rogasen
        Zum Rasen,
        Aber weh dir nach Samter
        Verdammter -

mit ebensoviel Emphase wie Vorliebe zu zitieren pflegte.

Niemand erheiterte sich dabei mehr als Effi, was dann meistens
Veranlassung wurde, kleinstaedtische Geschichten in Huelle und Fuelle
folgen zu lassen. Auch Kessin mit Gieshuebler und der Trippelli,
Oberfoerster Ring und Sidonie Grasenabb kam dann wohl an die Reihe,
wobei sich Innstetten, wenn er guter Laune war, nicht leicht genugtun
konnte. "Ja", so hiess es dann wohl, "unser gutes Kessin! Das muss ich
zugeben, es war eigentlich reich an Figuren, obenan Crampas, Major
Crampas, ganz Beau und halber Barbarossa, den meine Frau, ich weiss
nicht, soll ich sagen unbegreiflicher- oder begreiflicherweise, stark
in Affektion genommen hatte ..."

"Sagen wir begreiflicherweise", warf Wuellersdorf ein, "denn ich nehme
an, dass er Ressourcenvorstand war und Komoedie spielte, Liebhaber
oder Bonvivants. Und vielleicht noch mehr, vielleicht war er auch ein
Tenor."

Innstetten bestaetigte das eine wie das andere, und Effi suchte
lachend darauf einzugehen, aber es gelang ihr nur mit Anstrengung,
und wenn dann die Gaeste gingen und Innstetten sich in sein Zimmer
zurueckzog, um noch einen Stoss Akten abzuarbeiten, so fuehlte sie
sich immer aufs neue von den alten Vorstellungen gequaelt, und es war
ihr zu Sinn, als ob ihr ein Schatten nachginge.

Solche Beaengstigungen blieben ihr auch. Aber sie kamen doch seltener
und schwaecher, was bei der Art, wie sich ihr Leben gestaltete, nicht
wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr nicht nur Innstetten,
sondern auch fernerstehende Personen begegneten, und nicht zum
wenigsten die beinah zaertliche Freundschaft, die die Ministerin, eine
selbst noch junge Frau, fuer sie an den Tag legte - all das liess die
Sorgen und Aengste zurueckliegender Tage sich wenigstens mindern,
und als ein zweites Jahr ins Land gegangen war und die Kaiserin,
bei Gelegenheit einer neuen Stiftung, die "Frau Geheimraetin" mit
ausgewaehlt und in die Zahl der Ehrendamen eingereiht, der alte Kaiser
Wilhelm aber auf dem Hofball gnaedige, huldvolle Worte an die schoene
junge Frau, von der er schon gehoert habe, gerichtet hatte, da fiel es
allmaehlich von ihr ab. Es war einmal gewesen, aber weit, weit weg,
wie auf einem andern Stern, und alles loeste sich wie ein Nebelbild
und wurde Traum.

Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten
sich des Gluecks der Kinder, Annie wuchs heran - "schoen wie die
Grossmutter", sagte der alte Briest -, und wenn es an dem klaren
Himmel eine Wolke gab, so war es die, dass es, wie man nun beinahe
annehmen musste, bei Klein Annie sein Bewenden haben werde; Haus
Innstetten (denn es gab nicht einmal Namensvettern) stand also
mutmasslich auf dem Aussterbeetat. Briest, der den Fortbestand anderer
Familien obenhin behandelte, weil er eigentlich nur an die Briests
glaubte, scherzte mitunter darueber und sagte: "Ja, Innstetten,
wenn das so weitergeht, so wird Annie seinerzeit wohl einen Bankier
heiraten (hoffentlich einen christlichen, wenn's deren dann noch
gibt), und mit Ruecksicht auf das alte freiherrliche Geschlecht der
Innstetten wird dann Seine Majestaet Annies Haute-finance-Kinder unter
dem Namen 'von der Innstetten' im Gothaischen Kalender, oder was
weniger wichtig ist, in der preussischen Geschichte fortleben lassen."
- Ausfuehrungen, die von Innstetten selbst immer mit einer kleinen
Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von Effi dagegen
mit Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz sie war, so war
sie's doch nur fuer ihre Person, und ein eleganter und welterfahrener
und vor allem sehr, sehr reicher Bankierschwiegersohn waere durchaus
nicht gegen ihre Wuensche gewesen.

Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende Frauen das
tun; als aber eine lange, lange Zeit - sie waren schon im siebenten
Jahr in ihrer neuen Stellung - vergangen war, wurde der alte
Rummschuettel, der auf dem Gebiet der Gynaekologie nicht ganz ohne
Ruf war, durch Frau von Briest doch schliesslich zu Rate gezogen. Er
verordnete Schwalbach. Weil aber Effi seit letztem Winter auch an
katarrhalischen Affektionen litt und ein paarmal sogar auf Lunge
hin behorcht worden war, so hiess es abschliessend: "Also zunaechst
Schwalbach, meine Gnaedigste, sagen wir drei Wochen, und dann
ebensolange Ems. Bei der Emser Kur kann aber der Geheimrat zugegen
sein. Bedeutet mithin alles in allem drei Wochen Trennung. Mehr kann
ich fuer Sie nicht tun, lieber Innstetten."

Damit war man denn auch einverstanden, und zwar sollte Effi, dahin
ging ein weiterer Beschluss, die Reise mit einer Geheimraetin Zwicker
zusammen machen, wie Briest sagte, "zum Schutz dieser letzteren",
worin er nicht ganz unrecht hatte, da die Zwicker, trotz guter
Vierzig, eines Schutzes erheblich beduerftiger war als Effi
Innstetten, der wieder viel mit Vertretung zu tun hatte, beklagte,
dass er, von Schwalbach gar nicht zu reden, wahrscheinlich auch auf
gemeinschaftliche Tage in Ems werde verzichten muessen. Im uebrigen
wurde der 24. Juni (Johannistag) als Abreisetag festgesetzt, und
Roswitha half der gnaedigen Frau beim Packen und Aufschreiben der
Waesche. Effi hatte noch immer die alte Liebe fuer sie, war doch
Roswitha die einzige, mit der sie von all dem Zurueckliegenden, von
Kessin und Crampas, von dem Chinesen und Kapitaen Thomsens Nichte frei
und unbefangen reden konnte.

"Sage, Roswitha, du bist doch eigentlich katholisch. Gehst du denn nie
zur Beichte?"

"Nein."

"Warum nicht?"

"Ich bin frueher gegangen. Aber das Richtige hab ich doch nicht
gesagt."

"Das ist sehr unrecht. Dann freilich kann es nicht helfen."

"Ach, gnaedigste Frau, bei mir im Dorf machten es alle so. Und welche
waren, die kicherten bloss."

"Hast du denn nie empfunden, dass es ein Glueck ist, wenn man etwas
auf der Seele hat, dass es runter kann?"

"Nein, gnaedigste Frau. Angst habe ich wohl gehabt, als mein Vater
damals mit dem gluehenden Eisen auf mich loskam; ja, das war eine
grosse Furcht, aber weiter war es nichts."

"Nicht vor Gott?"

"Nicht so recht, gnaedigste Frau. Wenn man sich vor seinem Vater so
fuerchtet, wie ich mich gefuerchtet habe, dann fuerchtet man sich
nicht so sehr vor Gott. Ich habe bloss immer gedacht, der liebe Gott
sei gut und werde mir armem Wurm schon helfen."

Effi laechelte und brach ab und fand es auch natuerlich, dass die arme
Roswitha so sprach, wie sie sprach. Sie sagte aber doch: "Weisst du,
Roswitha, wenn ich wiederkomme, muessen wir doch noch mal ernstlich
drueber reden. Es war doch eigentlich eine grosse Suende."

"Das mit dem Kinde und dass es verhungert ist? Ja, gnaedigste Frau,
das war es. Aber ich war es ja nicht, das waren ja die anderen ... Und
dann ist es auch schon so sehr lange her."



Sechsundzwanzigstes Kapitel

Effi war nun schon in die fuenfte Woche fort und schrieb glueckliche,
beinahe uebermuetige Briefe, namentlich seit ihrem Eintreffen in Ems,
wo man doch unter Menschen sei, das heisst unter Maennern, von denen
sich in Schwalbach nur ausnahmsweise was gezeigt habe. Geheimraetin
Zwicker, ihre Reisegefaehrtin, habe freilich die Frage nach dem
Kurgemaessen dieser Zutat aufgeworfen und sich aufs entschiedenste
dagegen ausgesprochen, alles natuerlich mit einem Gesichtsausdruck,
der so ziemlich das Gegenteil versichert habe; die Zwicker sei
reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit,
aber hoechst amuesant, und man koenne viel, sehr viel von ihr lernen;
nie habe sie sich, trotz ihrer Fuenfundzwanzig, so als Kind gefuehlt,
wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen,
auch in fremder Literatur, und als sie, Effi beispielsweise neulich
von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, ob es denn wirklich so
schrecklich sei, habe die Zwicker geantwortet: "Ach, meine liebe
Baronin, was heisst schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes." - "Sie
schien mich auch", so schloss Effi ihren Brief, "mit diesem 'anderen'
bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiss,
dass Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und aehnlichem herleitest,
und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt
noch, dass Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier ausserordentlich
unter der Hitze."

Innstetten hatte diesen letzten Brief mit geteilten Empfindungen
gelesen, etwas erheitert, aber doch auch ein wenig missmutig. Die
Zwicker war keine Frau fuer Effi, der nun mal ein Zug innewohnte, sich
nach links hin treiben zu lassen; er gab es aber auf, irgendwas in
diesem Sinne zu schreiben, einmal weil er sie nicht verstimmen wollte,
mehr noch, weil er sich sagte, dass es doch nichts helfen wuerde.
Dabei sah er der Rueckkehr seiner Frau mit Sehnsucht entgegen und
beklagte des Dienstes nicht bloss "immer gleichgestellte", sondern
jetzt, wo jeder Ministerialrat fort war oder fort wollte, leider auch
auf Doppelstunden gestellte Uhr.

Ja, Innstetten sehnte sich nach Unterbrechung von Arbeit und
Einsamkeit, und verwandte Gefuehle hegte man draussen in der Kueche,
wo Annie, wenn die Schulstunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am
liebsten verbrachte, was insoweit ganz natuerlich war, als Roswitha
und Johanna nicht nur das kleine Fraeulein in gleichem Masse liebten,
sondern auch untereinander nach wie vor auf dem besten Fusse standen.
Diese Freundschaft der beiden Maedchen war ein Lieblingsgespraech
zwischen den verschiedenen Freunden des Hauses, und Landgerichtsrat
Gizicki sagte dann wohl zu Wuellersdorf: "Ich sehe darin nur eine neue
Bestaetigung des alten Weisheitssatzes: 'Lasst fette Leute um mich
sein'; Caesar war eben ein Menschenkenner und wusste, dass Dinge
wie Behaglichkeit und Umgaenglichkeit eigentlich nur beim Embonpomt
sind." Von einem solchen liess sich denn nun bei beiden Maedchen auch
wirklich sprechen, nur mit dem Unterschied, dass das in diesem Falle
nicht gut zu umgehende Fremdwort bei Roswitha schon stark eine
Beschoenigung, bei Johanna dagegen einfach die zutreffende Bezeichnung
war. Diese letztere durfte man naemlich nicht eigentlich korpulent
nennen, sie war nur prall und drall und sah jederzeit mit einer
eigenen, ihr uebrigens durchaus kleidenden Siegermiene gradlinig und
blauaeugig ueber ihre Normalbueste fort. Von Haltung und Anstand
getragen, lebte sie ganz in dem Hochgefuehl, die Dienerin eines guten
Hauses zu sein, wobei sie das Ueberlegenheitsbewusstsein ueber die
halb baeuerisch gebliebene Roswitha in einem so hohen Masse hatte,
dass sie, was gelegentlich vorkam, die momentan bevorzugte Stellung
dieser nur belaechelte. Diese Bevorzugung - nun ja, wenn's dann mal
so sein sollte, war eine kleine liebenswuerdige Sonderbarkeit der
gnaedigen Frau, die man der guten alten Roswitha mit ihrer ewigen
Geschichte "von dem Vater mit der gluehenden Eisenstange" schon
goennen konnte. "Wenn man sich besser haelt, so kann dergleichen nicht
vorkommen." Das alles dachte sie, sprach's aber nicht aus. Es war eben
ein freundliches Miteinanderleben. Was aber wohl ganz besonders fuer
Frieden und gutes Einvernehmen sorgte, das war der Umstand, dass man
sich nach einem stillen Uebereinkommen in die Behandlung und fast
auch Erziehung Annies geteilt hatte. Roswitha hatte das poetische
Departement, die Maerchen- und Geschichtenerzaehlung, Johanna dagegen
das des Anstands, eine Teilung, die hueben und drueben so fest
gewurzelt stand, dass Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der
Charakter Annies, die eine ganz entschiedene Neigung hatte, das
vornehme Fraeulein zu betonen, allerdings mithalf, eine Rolle, bei der
sie keine bessere Lehrerin als Johanna haben konnte.

Noch einmal also: Beide Maedchen waren gleichwertig in Annies Augen.

In diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rueckkehr Effis
vorbereitete, war Roswitha der Rivalin mal wieder um einen Pas
voraus, weil ihr, und zwar als etwas ihr Zustaendiges, die ganze
Begruessungsangelegenheit zugefallen war. Diese Begruessung zerfiel
in zwei Hauptteile: Girlande mit Kranz und dann, abschliessend,
Gedichtvortrag. Kranz und Girlande - nachdem man ueber "W." oder "E.
v. I." eine Zeitlang geschwankt - hatten zuletzt keine sonderlichen
Schwierigkeiten gemacht ("W", in Vergissmeinnicht geflochten, war
bevorzugt worden), aber desto groessere Verlegenheit schien die
Gedichtfrage heraufbeschwoeren zu sollen und waere vielleicht ganz
unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht den Mut gehabt haette,
den von einer Gerichtssitzung heimkehrenden Landgerichtsrat auf
der zweiten Treppe zu stellen und ihm mit einem auf einen "Vers"
gerichteten Ansinnen mutig entgegenzutreten. Gizicki, ein sehr
guetiger Herr, hatte sofort alles versprochen, und noch am selben
Spaetnachmittag war seitens seiner Koechin der gewuenschte Vers, und
zwar folgenden Inhalts, abgegeben worden:

        Mama, wir erwarten dich lange schon,
        Durch Wochen und Tage und Stunden,
        Nun gruessen wir dich von Flur und Balkon
        Und haben Kraenze gewunden.
        Nun lacht Papa voll Freudigkeit,
        Denn die gattin- und mutterlose Zeit
        Ist endlich von ihm genommen,
        Und Roswitha lacht und Johanna dazu,
        Und Annie springt aus ihrem Schuh
        Und ruft: willkommen, willkommen.

Es versteht sich von selbst, dass die Strophe noch an demselben
Abend auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schoenheit
beziehungsweise Nichtschoenheit kritisch geprueft worden war. Das
Betonen von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna geaeussert,
erscheine zunaechst freilich in der Ordnung; aber es laege doch auch
etwas darin, was Anstoss erregen koenne, und sie persoenlich wuerde
sich als "Gattin und Mutter" dadurch verletzt fuehlen. Annie, durch
diese Bemerkung einigermassen geaengstigt, versprach, das Gedicht am
andern Tag der Klassenlehrerin vorlegen zu wollen, und kam mit dem
Bemerken zurueck, das Fraeulein sei mit "Gattin und Mutter" durchaus
einverstanden, aber desto mehr gegen "Roswitha und Johanna" gewesen -
worauf Roswitha erklaert hatte: Das Fraeulein sei eine dumme Gans; das
kaeme davon, wenn man zuviel gelernt habe.

Es war an einem Mittwoch, dass die Maedchen und Annie das vorstehende
Gespraech gefuehrt und den Streit um die bemaengelte Zeile beigelegt
hatten. Am andern Morgen - ein erwarteter Brief Effis hatte noch
den mutmasslich erst in den Schluss der naechsten Woche fallenden
Ankunftstag festzustellen- ging Innstetten auf das Ministerium. Jetzt
war Mittag heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem
Ruecken, eben vom Kanal her auf die Keithstrasse zuschritt, traf sie
Roswitha vor ihrer Wohnung.

"Nun lass sehen", sagte Annie, "wer am ehesten von uns die Treppe
heraufkommt." Roswitha wollte von diesem Wettlauf nichts wissen, aber
Annie jagte voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und fiel
dabei so ungluecklich, dass sie mit der Stirn auf den dicht an der
Treppe befindlichen Abkratzer aufschlug und stark blutete. Roswitha,
muehevoll nachkeuchend, riss jetzt die Klingel, und als Johanna das
etwas veraengstigte Kind hereingetragen hatte, beratschlagte man, was
nun wohl zu machen sei. "Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir
wollen nach dem gnaedigen Herrn schicken ... des Portiers Lene muss ja
jetzt auch aus der Schule wieder da sein." Es wurde aber alles wieder
verworfen, weil es zu lange dauere, man muesse gleich was tun, und so
packte man denn das Kind aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu
kuehlen. Alles ging auch gut, so dass man sich zu beruhigen begann.
"Und nun wollen wir sie verbinden", sagte schliesslich Roswitha. "Da
muss ja noch die lange Binde sein, die die gnaedige Frau letzten
Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eis den Fuss verknickt hatte
..."

"Freilich, freilich", sagte Johanna, "bloss wo die Binde hernehmen?
... Richtig, da faellt mir ein, die liegt im Naehtisch. Er wird wohl
zu sein, aber das Schloss ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen,
Roswitha, wir wollen den Deckel aufbrechen." Und nun wuchteten
sie auch wirklich den Deckel ab und begannen in den Faechern
herumzukramen, oben und unten, die zusammengerollte Binde jedoch
wollte sich nicht finden lassen. "Ich weiss aber doch, dass ich sie
gesehen habe", sagte Roswitha, und waehrend sie halb aergerlich immer
weiter suchte, flog alles, was ihr dabei zu Haenden kam, auf das
breite Fensterbrett: Naehzeug, Nadelkissen, Rollen mit Zwirn und
Seide, kleine vertrocknete Veilchenstraeusschen, Karten, Billetts,
zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten
Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden
umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht.

In diesem Augenblick trat Innstetten ein.

"Gott", sagte Roswitha und stellte sich erschrocken neben das Kind.
"Es ist nichts, gnaediger Herr; Annie ist auf das Kratzeisen gefallen
... Gott, was wird die gnaedige Frau sagen. Und doch ist es ein
Glueck, dass sie nicht mit dabei war." Innstetten hatte mittlerweile
die vorlaeufig aufgelegte Kompresse fortgenommen und sah, dass es ein
tiefer Riss, sonst aber ungefaehrlich war. "Es ist nicht schlimm",
sagte er; "trotzdem, Roswitha, wir muessen sehen, dass Rummschuettel
kommt. Lene kann ja gehen, die wird jetzt Zeit haben. Aber was in
aller Welt ist denn das da mit dem Naehtisch?"

Und nun erzaehlte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde gesucht
haetten; aber sie wolle es nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand
schneiden.

Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach beide
Maedchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. "Du bist so wild,
Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind. Aber dabei
kommt nichts heraus oder hoechstens so was." Und er wies auf die Wunde
und gab ihr einen Kuss. "Du hast aber nicht geweint, das ist brav, und
darum will ich dir die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor
wird in einer Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er
dich verbunden hat, so zerre nicht und ruecke und druecke nicht daran,
dann heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann ist alles
wieder in Ordnung oder doch beinah. Ein Glueck ist es aber doch, dass
es noch bis naechste Woche dauert, Ende naechster Woche, so schreibt
sie mir; eben habe ich einen Brief von ihr bekommen; sie laesst dich
gruessen und freut sich, dich wiederzusehen."

"Du koenntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa." "Das will ich
gern."

Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, dass das Essen
aufgetragen sei. Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und Vater
und Tochter setzten sich zu Tisch.



Siebenundzwanzigstes Kapitel

Innstetten und Annie sassen sich eine Weile stumm gegenueber; endlich
als ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein paar Fragen ueber die
Schulvorsteherin und welche Lehrerin sie eigentlich am liebsten habe.
Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust, weil sie fuehlte, dass
Innstetten wenig bei der Sache war. Es wurde erst besser, als Johanna
nach dem zweiten Gericht ihrem Anniechen zufluesterte, es gaebe noch
was. Und wirklich, die gute Roswitha, die dem Liebling an diesem
Unglueckstag was schuldig zu sein glaubte, hatte noch ein uebriges
getan und sich zu einer Omelette mit Apfelschnitten aufgeschwungen.

Annie wurde bei diesem Anblicke denn auch etwas redseliger, und ebenso
zeigte sich Innstettens Stimmung gebessert, als es gleich danach
klingelte und Geheimrat Rummschuettel eintrat. Ganz zufaellig. Er
sprach nur vor, ohne jede Ahnung, dass man nach ihm geschickt und um
seinen Besuch gebeten habe. Mit den aufgelegten Kompressen war er
zufrieden. "Lassen Sie noch etwas Bleiwasser holen und Annie morgen
zu Hause bleiben. Ueberhaupt Ruhe." Dann fragte er noch nach der
gnaedigen Frau und wie die Nachrichten aus Ems seien; er werde den
andern Tag wiederkommen und nachsehen.

Als man von Tisch aufgestanden und in das nebenan gelegene Zimmer
- dasselbe, wo man mit so viel Eifer und doch vergebens nach dem
Verbandstueck gesucht hatte - eingetreten war, wurde Annie wieder auf
das Sofa gebettet. Johanna kam und setzte sich zu dem Kind, waehrend
Innstetten die zahllosen Dinge, die bunt durcheinandergewuerfelt
noch auf dem Fensterbrett umher wieder in den Naehtisch einzuraeumen
begann. Dann und wann wusste er sich nicht recht Rat und musste
fragen.

"Wo haben die Briefe gelegen, Johanna?"

"Ganz zuunterst", sagte diese, "hier in diesem Fach."

Und waehrend so Frage und Antwort ging, betrachtete Innstetten
etwas aufmerksamer als vorher das kleine, mit einem roten Faden
zusammengebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zusammengelegter
Zettel als auch Briefen zu bestehen schien. Er fuhr, als waere es
ein Spiel Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite des
Paeckchens hin, und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte Worte,
flogen dabei an seinem Auge vorueber. Von deutlichem Erkennen konnte
keine Rede sein, aber es kam ihm doch so vor, als habe er die
Schriftzuege schon irgendwo gesehen. Ob er nachsehen solle?

"Johanna, Sie koennten uns den Kaffee bringen. Annie trinkt auch eine
halbe Tasse. Der Doktor hat's nicht verboten, und was nicht verboten
ist, ist erlaubt."

Als er das sagte, wand er den roten Faden ab und liess, waehrend
Johanna das Zimmer verliess, den ganzen Inhalt des Paeckchens rasch
durch die Finger gleiten. Nur zwei, drei Briefe waren adressiert: "An
Frau Landrat von Innstetten." Er erkannte jetzt auch die Handschrift;
es war die des Majors. Innstetten wusste nichts von einer
Korrespondenz zwischen Crampas und Effi, und in seinem Kopf begann
sich alles zu drehen. Er steckte das Paket zu sich und ging in sein
Zimmer zurueck. Etliche Minuten spaeter, und Johanna, zum Zeichen,
dass der Kaffee da sei, klopfte leise an die Tuer. Innstetten
antwortete auch, aber dabei blieb es; sonst alles still. Erst nach
einer Viertelstunde hoerte man wieder sein Aufundabschreiten auf dem
Teppich.

"Was nur Papa hat?" sagte Johanna zu Annie. "Der Doktor hat ihm doch
gesagt, es sei nichts."

Das Aufundabschreiten nebenan wollte kein Ende nehmen. Endlich
erschien Innstetten wieder im Nebenzimmer und sagte: "Johanna, achten
Sie auf Annie und dass sie ruhig auf dem Sofa bleibt. Ich will eine
Stunde gehen oder vielleicht zwei."

Dann sah er das Kind aufmerksam an und entfernte sich. "Hast du
gesehen, Johanna, wie Papa aussah?"

"Ja, Annie. Er muss einen grossen Aerger gehabt haben. Er war ganz
blass. So hab ich ihn noch nie gesehen."

Es vergingen Stunden. Die Sonne war schon unter, und nur ein roter
Widerschein lag noch ueber den Daechern drueben, als Innstetten wieder
zurueckkam. Er gab Annie die Hand, fragte, wie's ihr gehe, und ordnete
dann an, dass ihm Johanna die Lampe in sein Zimmer bringe. Die Lampe
kam auch. In dem gruenen Schirm befanden sich halb durchsichtige Ovale
mit Fotografien, allerlei Bildnisse seiner Frau, die noch in Kessin,
damals, als man den Wichertschen "Schritt vom Wege" aufgefuehrt hatte,
fuer die verschiedenen Mitspielenden angefertigt waren. Innstetten
drehte den Schirm langsam von links nach rechts und musterte jedes
einzelne Bildnis. Dann liess er ab davon, oeffnete, weil er es schwuel
fand, die Balkontuer und nahm schliesslich das Briefpaket wieder zur
Hand.

Es schien, dass er gleich beim ersten Durchsehen ein paar davon
ausgewaehlt und obenauf gelegt hatte. Diese las er jetzt noch einmal
mit halblauter Stimme.

"Sei heute nachmittag wieder in den Duenen, hinter der Muehle. Bei der
alten Adermann koennen wir uns ruhig sprechen, das Haus ist abgelegen
genug. Du musst Dich nicht um alles so bangen. Wir haben auch ein
Recht. Und wenn Du Dir das eindringlich sagst, wird, denke ich, alle
Furcht von Dir abfallen. Das Leben waere nicht des Lebens wert,
wenn das alles gelten sollte, was zufaellig gilt. Alles Beste liegt
jenseits davon. Lerne Dich daran freuen."

"...Fort, so schreibst Du, Flucht. Unmoeglich. Ich kann meine Frau
nicht im Stich lassen, zu allem andern auch noch in Not. Es geht
nicht, und wir muessen es leicht nehmen, sonst sind wir arm und
verloren. Leichtsinn ist das Beste, was wir haben. Alles ist
Schicksal. Es hat so sein sollen. Und moechtest Du, dass es anders
waere, dass wir uns nie gesehen haetten?"

Dann kam der dritte Brief.

"...Sei heute noch einmal an der alten Stelle. Wie sollen meine Tage
hier verlaufen ohne Dich! In diesem oeden Nest. Ich bin ausser mir,
und nur darin hast Du recht: Es ist die Rettung, und wir muessen
schliesslich doch die Hand segnen, die diese Trennung ueber uns
verhaengt."

Innstetten hatte die Briefe kaum wieder beiseite geschoben, als
draussen die Klingel ging. Gleich danach meldete Johanna: "Geheimrat
Wuellersdorf."

Wuellersdorf trat ein und sah auf den ersten Blick, dass etwas
vorgefallen sein muesse.

"Pardon, Wuellersdorf", empfing ihn Innstetten, "dass ich Sie gebeten
habe, noch gleich heute bei mir vorzusprechen. Ich stoere niemand gern
in seiner Abendruhe, am wenigsten einen geplagten Ministerialrat. Es
ging aber nicht anders. Ich bitte Sie, machen Sie sich's bequem. Und
hier eine Zigarre."

Wuellersdorf setzte sich. Innstetten ging wieder auf und ab und waere
bei der ihn verzehrenden Unruhe gern in Bewegung geblieben, sah aber,
dass das nicht gehe. So nahm er denn auch seinerseits eine Zigarre,
setzte sich Wuellersdorf gegenueber und versuchte ruhig zu sein. "Es
ist", begann er, "um zweier Dinge willen, dass ich Sie habe bitten
lassen: erst um eine Forderung zu ueberbringen und zweitens um
hinterher, in der Sache selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist
nicht angenehm und das andere noch weniger. Und nun Ihre Antwort."

"Sie wissen, Innstetten, Sie haben ueber mich zu verfuegen. Aber eh
ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage: Muss es
sein? Wir sind doch ueber die Jahre weg, Sie, um die Pistole in die
Hand zu nehmen, und ich, um dabei mitzumachen. Indessen missverstehen
Sie mich nicht, alles dies soll kein Nein sein. Wie koennte ich Ihnen
etwas abschlagen. Aber nun sagen Sie, was ist es?"

"Es handelt sich um einen Galan meiner Frau, der zugleich mein Freund
war oder doch beinah."

Wuellersdorf sah Innstetten an. "Innstetten, das ist nicht moeglich."

"Es ist mehr als moeglich, es ist gewiss. Lesen Sie."

Wuellersdorf flog drueber hin. "Die sind an Ihre Frau gerichtet?"

"Ja. Ich fand sie heut in ihrem Naehtisch." "Und wer hat sie
geschrieben?"

"Major Crampas."

"Also Dinge, die sich abgespielt, als Sie noch in Kessin waren?"

Innstetten nickte.

"Liegt also sechs Jahre zurueck oder noch ein halb Jahr laenger."

"Ja."

Wuellersdorf schwieg. Nach einer Weile sagte Innstetten: "Es sieht
fast so aus, Wuellersdorf, als ob die sechs oder sieben Jahre
einen Eindruck auf Sie machten. Es gibt eine Verjaehrungstheorie,
natuerlich, aber ich weiss doch nicht, ob wir hier einen Fall haben,
diese Theorie gelten zu lassen."

"Ich weiss es auch nicht", sagte Wuellersdorf. "Und ich bekenne Ihnen
offen, um diese Frage scheint sich hier alles zu drehen."

Innstetten sah ihn gross an. "Sie sagen das in vollem Ernst?" "In
vollem Ernst. Es ist keine Sache, sich in jeu d'esprit oder in
dialektischen Spitzfindigkeiten zu versuchen."

"Ich bin neugierig, wie Sie das meinen. Sagen Sie mir offen, wie
stehen Sie dazu?"

"Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglueck ist hin.
Aber wenn Sie den Liebhaber totschiessen, ist Ihr Lebensglueck
sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz ueber empfangenes Leid kommt
noch der Schmerz ueber getanes Leid. Alles dreht sich um die Frage,
muessen Sie's durchaus tun? Fuehlen Sie sich so verletzt, beleidigt,
empoert, dass einer weg muss, er oder Sie? Steht es so?"

"Ich weiss es nicht."

"Sie muessen es wissen."

Innstetten war aufgesprungen, trat ans Fenster und tippte voll
nervoeser Erregung an die Scheiben. Dann wandte er sich rasch wieder,
ging auf Wuellersdorf zu und sagte: "Nein, so steht es nicht."

"Wie steht es denn?"

"Es steht so, dass ich unendlich ungluecklich bin; ich bin gekraenkt,
schaendlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefuehl
von Hass oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum
nicht, so kann ich zunaechst nichts anderes finden als die Jahre. Man
spricht immer von unsuehnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiss falsch,
aber vor den Menschen auch. Ich haette nie geglaubt, dass die Zeit,
rein als Zeit, so wirken koenne. Und dann als zweites: Ich liebe meine
Frau, ja, seltsam zu sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar
ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer
Liebenswuerdigkeit, eines ihr eigenen heiteren Scharmes, dass ich
mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum
Verzeihen geneigt fuehle."

Wuellersdorf nickte. "Kann ganz folgen, Innstetten, wuerde mir
vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen und mir
sagen: 'Ich liebe diese Frau so sehr, dass ich ihr alles verzeihen
kann', und wenn wir dann das andere hinzunehmen, dass alles weit, weit
zurueckliegt, wie ein Geschehnis auf einem andern Stern, ja, wenn es
so liegt, Innstetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte?"

"Weil es trotzdem sein muss. Ich habe mir's hin und her ueberlegt. Man
ist nicht bloss ein einzelner Mensch, man gehoert einem Ganzen an,
und auf das Ganze haben wir bestaendig Ruecksicht zu nehmen, wir sind
durchaus abhaengig von ihm. Ginge es, in Einsamkeit zu leben, so
koennt ich es gehen lassen; ich truege dann die mir aufgepackte Last,
das rechte Glueck waere hin, aber es muessen so viele leben ohne dies
'rechte Glueck', und ich wuerde es auch muessen und - auch koennen.
Man braucht nicht gluecklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen
Anspruch darauf, und den, der einem das Glueck genommen hat, den
braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn,
wenn man weltabgewandt weiterexistieren will, auch laufen lassen. Aber
im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas gebildet, das nun
mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewoehnt haben, alles
zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstossen
geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es
selbst und koennen es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch
den Kopf. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen solche Vorlesung halte, die
schliesslich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal gesagt
hat. Aber freilich, wer kann was Neues sagen! Also noch einmal, nichts
von Hass oder dergleichen, und um eines Glueckes willen, das mir
genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Haenden haben; aber jenes,
wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt
nicht nach Scharm und nicht nach Liebe und nicht nach Verjaehrung. Ich
habe keine Wahl. Ich muss."

"Ich weiss doch nicht, Innstetten ..."

Innstetten laechelte. "Sie sollen selbst entscheiden, Wuellersdorf. Es
ist jetzt zehn Uhr. Vor sechs Stunden, diese Konzession will ich Ihnen
vorweg machen, hatt' ich das Spiel noch in der Hand, konnt' ich noch
das eine und noch das andere, da war noch ein Ausweg. Jetzt nicht
mehr, jetzt stecke ich in einer Sackgasse. Wenn Sie wollen, so bin ich
selber schuld daran; ich haette mich besser beherrschen und bewachen,
alles in mir verbergen, alles im eignen Herzen auskaempfen sollen.
Aber es kam mir zu ploetzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum
einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geschickter in Ordnung
gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel,
und damit war das Spiel aus meiner Hand. Von dem Augenblick an hatte
mein Unglueck und, was schwerer wiegt, der Fleck auf meiner Ehre einen
halben Mitwisser und nach den ersten Worten, die wir hier gewechselt,
hat es einen ganzen. Und weil dieser Mitwisser da ist, kann ich nicht
mehr zurueck."

"Ich weiss doch nicht", wiederholte Wuellersdorf. "Ich mag nicht gerne
zu der alten abgestandenen Phrase greifen, aber doch laesst sich's
nicht besser sagen: Innstetten, es ruht alles in mir wie in einem
Grabe."

"Ja, Wuellersdorf, so heisst es immer. Aber es gibt keine
Verschwiegenheit. Und wenn Sie's wahrmachen und gegen andere die
Verschwiegenheit selber sind, so wissen Sie es, und es rettet mich
nicht vor Ihnen, dass Sie mir eben Ihre Zustimmung ausgedrueckt und
mir sogar gesagt haben: ich kann Ihnen in allem folgen. Ich bin,
und dabei bleibt es, von diesem Augenblick an ein Gegenstand Ihrer
Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes), und jedes Wort, das Sie
mich mit meiner Frau wechseln hoeren, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie
moegen wollen oder nicht, und wenn meine Frau von Treue spricht oder,
wie Frauen tun, ueber eine andere zu Gericht sitzt, so weiss ich
nicht, wo ich mit meinen Blicken hin soll. Und ereignet sich's gar,
dass ich in irgendeiner ganz alltaeglichen Beleidigungssache zum Guten
rede, "weil ja der dolus fehle" oder so was Aehnliches, so geht ein
Laecheln ueber Ihr Gesicht, oder es zuckt wenigstens darin, und in
Ihrer Seele klingt es: 'Der gute Innstetten, er hat doch eine wahre
Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemisch zu
untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet er nie. Er ist
noch nie an einer Sache erstickt.' ... Habe ich recht, Wuellersdorf,
oder nicht?"

Wuellersdorf war aufgestanden. "Ich finde es furchtbar, dass Sie recht
haben, aber Sie haben recht. Ich quaele Sie nicht laenger mit meinem
'Muss es sein?'. Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge
verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das
mit dem 'Gottesgericht', wie manche hochtrabend versichern, ist
freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist
ein Goetzendienst, aber wir muessen uns ihm unterwerfen, solange der
Goetze gilt."

Innstetten nickte.

Sie blieben noch eine Viertelstunde miteinander, und es wurde
festgestellt, Wuellersdorf solle noch denselben Abend abreisen. Ein
Nachtzug ging um zwoelf.

Dann trennten sie sich mit einem kurzen: "Auf Wiedersehen in Kessin."



Achtundzwanzigstes Kapitel

Am andern Abend, wie verabredet, reiste Innstetten. Er benutzte
denselben Zug, den am Tag vorher Wuellersdorf benutzt hatte, und war
bald nach fuenf Uhr frueh auf der Bahnstation, von wo der Weg nach
Kessin links abzweigte. Wie immer, solange die Saison dauerte, ging
auch heute, gleich nach Eintreffen des Zuges, das mehrerwaehnte
Dampfschiff, dessen erstes Laeuten Innstetten schon hoerte, als er die
letzten Stufen der vom Bahndamm hinabfuehrenden Treppe erreicht hatte.
Der Weg bis zur Anlegestelle war keine drei Minuten; er schritt darauf
zu und begruesste den Kapitaen, der etwas verlegen war, also im Laufe
des gestrigen Tages von der ganzen Sache schon gehoert haben musste,
und nahm dann seinen Platz in der Naehe des Steuers. Gleich danach
loeste sich das Schiff vom Brueckensteg los; das Wetter war herrlich,
helle Morgensonne, nur wenig Passagiere an Bord. Innstetten gedachte
des Tages, als er, mit Effi von der Hochzeitsreise zurueckkehrend,
hier am Ufer der Kessine hin in offenem Wagen gefahren war ein grauer
Novembertag damals, aber er selber froh im Herzen; nun hatte sich's
verkehrt: Das Licht lag draussen, und der Novembertag war in ihm.
Viele, viele Male war er dann des Weges hier gekommen, und der
Frieden, der sich ueber die Felder breitete, das Zuchtvieh in den
Koppeln, das aufhorchte, wenn er vorueberfuhr, die Leute bei der
Arbeit, die Fruchtbarkeit der Aecker, das alles hatte seinem Sinne
wohlgetan, und jetzt, in hartem Gegensatz dazu, war er froh, als etwas
Gewoelk heranzog und den lachenden blauen Himmel leise zu trueben
begann. So fuhren sie den Fluss hinab, und bald nachdem sie die
praechtige Wasserflaeche des Breitling passiert, kam der Kessiner
Kirchturm in Sicht und gleich danach auch das Bollwerk und die lange
Haeuserreihe mit Schiffen und Booten davor. Und nun waren sie heran.
Innstetten verabschiedete sich von dem Kapitaen und schritt auf den
Steg zu, den man, bequemeren Aussteigens halber, herangerollt hatte.
Wuellersdorf war schon da. Beide begruessten sich, ohne zunaechst
ein Wort zu sprechen, und gingen dann, quer ueber den Damm, auf den
Hoppensackschen Gasthof zu, wo sie unter einem Zeltdach Platz nahmen.

"Ich habe mich gestern frueh hier einquartiert", sagte Wuellersdorf,
der nicht gleich mit den Sachlichkeiten beginnen wollte. "Wenn man
bedenkt, dass Kessin ein Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes
Hotel hier zu finden. Ich bezweifle nicht, dass mein Freund, der
Oberkellner, drei Sprachen spricht; seinem Scheitel und seiner
ausgeschnittnen Weste nach koennen wir dreist auf vier rechnen ...
Jean, bitte, wollen Sie uns Kaffee und Kognak bringen."

Innstetten begriff vollkommen, warum Wuellersdorf diesen Ton anschlug,
war auch damit einverstanden, konnte aber seiner Unruhe nicht ganz
Herr werden und zog unwillkuerlich die Uhr.

"Wir haben Zeit", sagte Wuellersdorf. "Noch anderthalb Stunden oder
doch beinah. Ich habe den Wagen auf acht ein Viertel bestellt; wir
fahren nicht laenger als zehn Minuten." "Und wo?"

"Crampas schlug erst ein Waldeck vor, gleich hinter dem Kirchhof. Aber
dann unterbrach er sich und sagte: 'Nein, da nicht.' Und dann haben
wir uns ueber eine Stelle zwischen den Duenen geeinigt. Hart am
Strand; die vorderste Duene hat einen Einschnitt, und man sieht aufs
Meer."

Innstetten laechelte. "Crampas scheint sich einen Schoenheitspunkt
ausgesucht zu haben. Er hatte immer die Allueren dazu. Wie benahm er
sich?"

"Wundervoll."

"Uebermuetig? Frivol?"

"Nicht das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen offen,
Innstetten, dass es mich erschuetterte. Als ich Ihren Namen nannte,
wurde er totenblass und rang nach Fassung, und um seine Mundwinkel sah
ich ein Zittern. Aber all das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte
er sich wieder gefasst, und von da an war alles an ihm wehmuetige
Resignation. Es ist mir ganz sicher, er hat das Gefuehl, aus der Sache
nicht heil herauszukommen, und will auch nicht. Wenn ich ihn richtig
beurteile, er lebt gern und ist zugleich gleichgueltig gegen das
Leben. Er nimmt alles mit und weiss doch, dass es nicht viel damit
ist."

"Wer wird ihm sekundieren? Oder sag ich lieber, wen wird er
mitbringen?"

"Das war, als er sich wieder gefunden hatte, seine Hauptsorge. Er
nannte zwei, drei Adlige aus der Naehe, liess sie dann aber wieder
fallen, sie seien zu alt und zu fromm, er werde nach Treptow hin
telegrafieren an seinen Freund Buddenbrook. Und der ist auch gekommen,
famoser Mann, schneidig und doch zugleich wie ein Kind. Er konnte sich
nicht beruhigen und ging in groesster Erregung auf und ab. Aber als
ich ihm alles gesagt hatte, sagte er geradeso wie wir: 'Sie haben
recht, es muss sein!'"

Der Kaffee kam. Man nahm eine Zigarre, und Wuellersdorf war wieder
darauf aus, das Gespraech auf mehr gleichgueltige Dinge zu lenken.

"Ich wundere mich, dass keiner von den Kessinern sich einfindet, Sie
zu begruessen. Ich weiss doch, dass Sie sehr beliebt gewesen sind. Und
nun gar Ihr Freund Gieshuebler..."

Innstetten laechelte. "Da verkennen Sie die Leute hier an der Kueste;
halb Philister und halb Pfiffici, nicht sehr nach meinem Geschmack;
aber eine Tugend haben sie, sie sind alle sehr manierlich. Und nun gar
mein alter Gieshuebler. Natuerlich weiss jeder, um was sich's handelt;
aber eben deshalb huetet man sich, den Neugierigen zu spielen."

In diesem Augenblick wurde von links her ein zurueckgeschlagener
Chaisewagen sichtbar, der, weil es noch vor der bestimmten Zeit war,
langsam herankam.

"Ist das unser?" fragte Innstetten.

"Mutmasslich."

Und gleich danach hielt der Wagen vor dem Hotel, und Innstetten und
Wuellersdorf erhoben sich.

Wuellersdorf trat an den Kutscher heran und sagte: "Nach der Mole."

Die Mole lag nach der entgegengesetzten Strandseite, rechts statt
links, und die falsche Weisung wurde nur gegeben, um etwaigen
Zwischenfaellen, die doch immerhin moeglich waren, vorzubeugen. Im
uebrigen, ob man sich nun weiter draussen nach rechts oder links zu
halten vorhatte, durch die Plantage musste man jedenfalls, und so
fuehrte denn der Weg unvermeidlich an Innstettens alter Wohnung
vorueber. Das Haus lag noch stiller da als frueher; ziemlich
vernachlaessigt sah's in den Parterreraeumen aus; wie mocht es erst da
oben sein! Und das Gefuehl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so
oft bekaempft oder auch wohl belaechelt hatte, jetzt ueberkam es ihn
selbst, und er war froh, als sie dran vorueber waren.

"Da hab ich gewohnt", sagte er zu Wuellersdorf.

"Es sieht sonderbar aus, etwas oed und verlassen."

"Mag auch wohl. In der Stadt galt es als ein Spukhaus, und wie's heute
daliegt, kann ich den Leuten nicht unrecht geben."

"Was war es denn damit?"

"Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitaen mit Enkelin oder Nichte, die
eines schoenen Tages verschwand, und dann ein Chinese, der vielleicht
ein Liebhaber war, und auf dem Flur ein kleiner Haifisch und ein
Krokodil, beides an Strippen und immer in Bewegung. Wundervoll zu
erzaehlen, aber nicht jetzt. Es spukt einem doch allerhand anderes im
Kopf." "Sie vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen."

"Darf nicht. Und vorhin, Wuellersdorf, als Sie von Crampas sprachen,
sprachen Sie selber anders davon."

Bald danach hatte man die Plantage passiert, und der Kutscher wollte
jetzt rechts einbiegen auf die Mole zu. "Fahren Sie lieber links. Das
mit der Mole kann nachher kommen." Und der Kutscher bog links in eine
breite Fahrstrasse ein, die hinter dem Herrenbade grade auf den Wald
zulief. Als sie bis auf dreihundert Schritt an diesen heran waren,
liess Wuellersdorf den Wagen halten, und beide gingen nun, immer durch
mahlenden Sand hin, eine ziemlich breite Fahrstrasse hinunter, die
die hier dreifache Duenenreihe senkrecht durchschnitt. Ueberall zur
Seite standen dichte Bueschel von Strandhafer, um diesen herum aber
Immortellen und ein paar blutrote Nelken. Innstetten bueckte sich und
steckte sich eine der Nelken ins Knopfloch. "Die Immortellen nachher."

So gingen sie fuenf Minuten. Als sie bis an die ziemlich tiefe Senkung
gekommen waren, die zwischen den beiden vordersten Duenenreihen
hinlief, sahen sie, nach links hin, schon die Gegenpartei: Crampas und
Buddenbrook und mit ihnen den guten Doktor Hannemann, der seinen Hut
in der Hand hielt, so dass das weisse Haar im Winde flatterte.

Innstetten und Wuellersdorf gingen die Sandschlucht hinauf,
Buddenbrook kam ihnen entgegen. Man begruesste sich, worauf beide
Sekundanten beiseite traten, um noch ein kurzes sachliches Gespraech
zu fuehren. Es lief darauf hinaus, dass man a tempo avancieren und auf
zehn Schritt Distanz feuern solle. Dann kehrte Buddenbrook an seinen
Platz zurueck; alles erledigte sich rasch; und die Schuesse fielen.
Crampas stuerzte.

Innstetten, einige Schritte zuruecktretend, wandte sich ab von der
Szene. Wuellersdorf aber war auf Buddenbrook zugeschritten, und beide
warteten jetzt auf den Ausspruch des Doktors, der die Achseln zuckte.

Zugleich deutete Crampas durch eine Handbewegung an, dass er etwas
sagen wollte. Wuellersdorf beugte sich zu ihm nieder, nickte
zustimmend zu den paar Worten, die kaum hoerbar von des Sterbenden
Lippen kamen, und ging dann auf Innstetten zu.

"Crampas will Sie noch sprechen, Innstetten. Sie muessen ihm zu Willen
sein. Er hat keine drei Minuten Leben mehr."

Innstetten trat an Crampas heran.

"Wollen Sie ..." Das waren seine letzten Worte.

Noch ein schmerzlicher und doch beinah freundlicher Schimmer in seinem
Antlitz, und dann war es vorbei.



Neunundzwanzigstes Kapitel

Am Abend desselben Tages traf Innstetten wieder in Berlin ein. Er
war mit dem Wagen, den er innerhalb der Duenen an dem Querwege
zurueckgelassen hatte, direkt nach der Bahnstation gefahren, ohne
Kessin noch einmal zu beruehren, dabei den beiden Sekundanten die
Meldung an die Behoerden ueberlassend. Unterwegs (er war allein im
Coupe) hing er, alles noch mal ueberdenkend, dem Geschehenen nach; es
waren dieselben Gedanken wie zwei Tage zuvor, nur dass sie jetzt den
umgekehrten Gang gingen und mit der Ueberzeugtheit von seinem Recht
und seiner Pflicht anfingen, um mit Zweifeln daran aufzuhoeren.
"Schuld, wenn sie ueberhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde
gebunden und kann nicht hinfaellig werden von heute auf morgen. Schuld
verlangt Suehne; das hat einen Sinn. Aber Verjaehrung ist etwas
Halbes, etwas Schwaechliches, zum mindesten was Prosaisches." Und er
richtete sich an dieser Vorstellung auf und wiederholte sich's, dass
es gekommen sei, wie's habe kommen muessen. Aber im selben Augenblick,
wo dies fuer ihn feststand, warf er's auch wieder um. "Es muss eine
Verjaehrung geben, Verjaehrung ist das einzig Vernuenftige; ob es
nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgueltig; das Vernuenftige
ist meist prosaisch. Ich bin jetzt fuenfundvierzig. Wenn ich die
Briefe fuenfundzwanzig Jahre spaeter gefunden haette, so waer ich
siebzig. Dann haette Wuellersdorf gesagt: 'Innstetten, seien Sie kein
Narr.' Und wenn es Wuellersdorf nicht gesagt haette, so haette es
Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht, so ich selbst. Dies ist
mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze, so uebertreibt man und hat
die Laecherlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo faengt es an? Wo liegt die
Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heisst es Ehre,
und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heisst es
Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon
ueberschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwaertige,
resigniert und in seinem Elend doch noch ein Laecheln, so hiess der
Blick: 'Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen
und sich selber auch.' Und er hatte vielleicht recht. Mir klingt so
was in der Seele. Ja, wenn ich voll toedlichem Hass gewesen waere,
wenn mir hier ein tiefes Rachegefuehl gesessen haette ... Rache
ist nichts Schoenes, aber was Menschliches und hat ein natuerlich
menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff
zuliebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komoedie. Und diese
Komoedie muss ich nun fortsetzen und muss Effi wegschicken und sie
ruinieren und mich mit ... Ich musste die Briefe verbrennen, und die
Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann kam, ahnungslos, so
musste ich ihr sagen: 'Da ist dein Platz', und musste mich innerlich
von ihr scheiden. Nicht vor der Welt. Es gibt so viele Leben, die
keine sind, und so viele Ehen, die keine sind ... dann war das Glueck
hin, aber ich haette das Auge mit seinem Frageblick und mit seiner
stummen, leisen Anklage nicht vor mir."

Kurz vor zehn hielt Innstetten vor seiner Wohnung. Er stieg die
Treppen hinauf und zog die Glocke; Johanna kam und oeffnete.

"Wie steht es mit Annie?"

"Gut, gnaed'ger Herr. Sie schlaeft noch nicht ... Wenn der gnaed'ge
Herr ..."

"Nein, nein, das regt sie bloss auf. Ich sehe sie lieber morgen frueh.
Bringen Sie mir ein Glas Tee, Johanna. Wer war hier?"

"Nur der Doktor."

Und nun war Innstetten wieder allein. Er ging auf und ab, wie er's zu
tun liebte. "Sie wissen schon alles; Roswitha ist dumm, aber Johanna
ist eine kluge Person. Und wenn sie's nicht mit Bestimmtheit wissen,
so haben sie sich's zurechtgelegt und wissen es doch. Es ist
merkwuerdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert,
als waere jeder mit dabeigewesen."

Johanna brachte den Tee. Innstetten trank. Er war nach der
Ueberanstrengung todmuede und schlief ein.

Innstetten war zu guter Zeit auf. Er sah Annie, sprach ein paar Worte
mit ihr, lobte sie, dass sie eine gute Kranke sei, und ging dann aufs
Ministerium, um seinem Chef von allem Vorgefallenen Meldung zu machen.
Der Minister war sehr gnaedig. "Ja, Innstetten, wohl dem, der aus
allem, was das Leben uns bringen kann, heil herauskommt; Sie hat's
getroffen." Er fand alles, was geschehen, in der Ordnung und
ueberliess Innstetten das Weitere.

Erst spaet nachmittags war Innstetten wieder in seiner Wohnung, in
der er ein paar Zeilen von Wuellersdorf vorfand. "Heute frueh wieder
eingetroffen. Eine Welt von Dingen erlebt: Schmerzliches, Ruehrendes;
Gieshuebler an der Spitze. Der liebenswuerdigste Bucklige, den ich je
gesehen. Von Ihnen sprach er nicht allzuviel, aber die Frau, die Frau!
Er konnte sich nicht beruhigen, und zuletzt brach der kleine Mann in
Traenen aus. Was alles vorkommt. Es waere zu wuenschen, dass es mehr
Gieshuebler gaebe. Es gibt aber mehr andere. Und dann die Szene im
Hause des Majors ... furchtbar. Kein Wort davon. Man hat wieder mal
gelernt: aufpassen. Ich sehe Sie morgen. Ihr W."

Innstetten war ganz erschuettert, als er gelesen. Er setzte sich
und schrieb seinerseits ein paar Briefe. Als er damit zu Ende war,
klingelte er: "Johanna, die Briefe in den Kasten."

Johanna nahm die Briefe und wollte gehen.

"... Und dann, Johanna, noch eins: Die Frau kommt nicht wieder. Sie
werden von anderen erfahren, warum nicht. Annie darf nichts wissen,
wenigstens jetzt nicht. Das arme Kind. Sie muessen es ihr allmaehlich
beibringen, dass sie keine Mutter mehr hat. Ich kann es nicht. Aber
machen Sie's gescheit. Und dass Roswitha nicht alles verdirbt."

Johanna stand einen Augenblick ganz wie benommen da. Dann ging sie auf
Innstetten zu und kuesste ihm die Hand. Als sie wieder draussen in der
Kueche war, war sie von Stolz und Ueberlegenheit ganz erfuellt, ja
beinah von Glueck. Der gnaedige Herr hatte ihr nicht nur alles gesagt,
sondern am Schluss auch noch hinzugesetzt: "Und dass Roswitha nicht
alles verdirbt." Das war die Hauptsache, und ohne dass es ihr an
gutem Herzen und selbst an Teilnahme mit der Frau gefehlt haette,
beschaeftigte sie doch, ueber jedes andere hinaus, der Triumph einer
gewissen Intimitaetsstellung zum gnaedigen Herrn.

Unter gewoehnlichen Umstaenden waere ihr denn auch die Herauskehrung
und Geltendmachung dieses Triumphes ein leichtes gewesen, aber heute
traf sich's so wenig guenstig fuer sie, dass ihre Rivalin, ohne
Vertrauensperson gewesen zu sein, sich doch als die Eingeweihtere
zeigen sollte. Der Portier unten hatte naemlich, so ziemlich um
dieselbe Zeit, wo dies spielte, Roswitha in seine kleine Stube
hineingerufen und ihr gleich beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum
Lesen zugeschoben. "Da, Roswitha, das ist was fuer Sie; Sie koennen es
mir nachher wieder runterbringen. Es ist bloss das Fremdenblatt; aber
Lene ist schon hin und holt das Kleine Journal. Da wird wohl schon
mehr drinstehen; die wissen immer alles. Hoeren Sie, Roswitha, wer so
was gedacht haette."

Roswitha, sonst nicht allzu neugierig, hatte sich doch nach dieser
Ansprache so rasch wie moeglich die Hintertreppe hinaufbegeben und war
mit dem Lesen gerade fertig, als Johanna dazukam.

Diese legte die Briefe, die ihr Innstetten eben gegeben, auf den
Tisch, ueberflog die Adressen oder tat wenigstens so (denn sie wusste
laengst, an wen sie gerichtet waren) und sagte mit gut erkuenstelter
Ruhe: "Einer ist nach Hohen-Cremmen."

"Das kann ich mir denken", sagte Roswitha.

Johanna war nicht wenig erstaunt ueber diese Bemerkung. "Der Herr
schreibt sonst nie nach Hohen-Cremmen."

"Ja, sonst. Aber jetzt ... Denken Sie sich, das hat mir eben der
Portier unten gegeben."

Johanna nahm das Blatt und las nun halblaut eine mit einem dicken
Tintenstrich markierte Stelle: "Wie wir kurz vor Redaktionsschluss
von gut unterrichteter Seite her vernehmen, hat gestern frueh in dem
Badeort Kessin in Hinterpommern ein Duell zwischen dem Ministerialrat
v. I. (Keithstrasse) und dem Major von Crampas stattgefunden. Major
von Crampas fiel. Es heisst, dass Beziehungen zwischen ihm und der
Raetin, einer schoenen und noch sehr jungen Frau, bestanden haben
sollen."

"Was solche Blaetter auch alles schreiben", sagte Johanna, die
verstimmt war, ihre Neuigkeit ueberholt zu sehen.

"Ja", sagte Roswitha. "Und das lesen nun die Menschen und
verschimpfieren mir meine liebe, arme Frau. Und der arme Major. Nun
ist er tot."

"Ja, Roswitha, was denken Sie sich eigentlich? Soll er nicht tot sein?
Oder soll lieber unser gnaediger Herr tot sein?"

"Nein, Johanna, unser gnaed'ger Herr, der soll auch leben, alles soll
leben. Ich bin nicht fuer Totschiessen und kann nicht mal das Knallen
hoeren. Aber bedenken Sie doch, Johanna, das ist ja nun schon eine
halbe Ewigkeit her, und die Briefe, die mir gleich so sonderbar
aussahen, weil sie die rote Strippe hatten und drei- oder viermal
umwickelt und dann eingeknotet und keine Schleife - die sahen ja schon
ganz gelb aus, so lange ist es her. Wir sind ja nun schon ueber sechs
Jahre hier, und wie kann man wegen solcher alten Geschichten ..."

"Ach, Roswitha, Sie reden, wie Sie's verstehen. Und bei Licht besehen
sind Sie schuld. Von den Briefen kommt es her. Warum kamen Sie mit dem
Stemmeisen und brachen den Naehtisch auf, was man nie darf; man darf
kein Schloss aufbrechen, was ein anderer zugeschlossen hat."

"Aber, Johanna, das ist doch wirklich zu schlecht von Ihnen, mir so
was auf den Kopf zuzusagen, und Sie wissen doch, dass Sie schuld sind
und dass Sie wie naerrisch in die Kueche stuerzten und mir sagten, der
Naehtisch muesse aufgemacht werden, da waere die Bandage drin, und da
bin ich mit dem Stemmeisen gekommen, und nun soll ich schuld sein.
Nein, ich sage ..."

"Nun, ich will es nicht gesagt haben, Roswitha. Nur, Sie sollen mir
nicht kommen und sagen: der arme Major. Was heisst der arme Major! Der
ganze arme Major taugte nichts; wer solchen rotblonden Schnurrbart hat
und immer wribbelt, der taugt nie was und richtet bloss Schaden an.
Und wenn man immer in vornehmen Haeusern gedient hat ... aber das
haben Sie nicht, Roswitha, das fehlt Ihnen eben ... dann weiss man
auch, was sich passt und schickt und was Ehre ist, und weiss auch,
dass, wenn so was vorkommt, dann geht es nicht anders, und dann kommt
das, was man eine Forderung nennt, und dann wird einer totgeschossen."

"Ach, das weiss ich auch; ich bin nicht so dumm, wie Sie mich immer
machen wollen. Aber wenn es so lange her ist ..." "Ja, Roswitha, mit
Ihrem ewigen 'so lange her'; daran sieht man ja eben, dass Sie nichts
davon verstehen. Sie erzaehlen immer die alte Geschichte von Ihrem
Vater mit dem gluehenden Eisen und wie er damit auf Sie losgekommen,
und jedesmal, wenn ich einen gluehenden Bolzen eintue, muss ich auch
wirklich immer an Ihren Vater denken und sehe immer, wie er Sie wegen
des Kindes, das ja nun tot ist, totmachen will. Ja, Roswitha, davon
sprechen Sie in einem fort, und es fehlt bloss noch, dass Sie
Anniechen auch die Geschichte erzaehlen, und wenn Anniechen
eingesegnet wird, dann wird sie's auch gewiss erfahren, und vielleicht
denselben Tag noch; und das aergert mich, dass Sie das alles erlebt
haben, und Ihr Vater war doch bloss ein Dorfschmied und hat Pferde
beschlagen oder einen Radreifen belegt, und nun kommen Sie und
verlangen von unserm gnaed'gen Herrn, dass er sich das alles ruhig
gefallen laesst, bloss weil es so lange her ist. Was heisst lange her?
Sechs Jahre ist nicht lange her. Und unsre gnaed'ge Frau - die aber
nicht wiederkommt, der gnaed'ge Herr hat es mir eben gesagt -, unsre
gnaed'ge Frau wird erst sechsundzwanzig, und im August ist ihr
Geburtstag, und da kommen Sie mir mit 'lange her'. Und wenn sie
sechsunddreissig waere, ich sage Ihnen, bis sechsunddreissig muss man
erst recht aufpassen, und wenn der gnaed'ge Herr nichts getan haette,
dann haetten ihn die vornehmen Leute 'geschnitten'. Aber das Wort
kennen Sie gar nicht, Roswitha, davon wissen Sie nichts."

"Nein, davon weiss ich nichts, will auch nicht; aber das weiss ich,
Johanna, dass Sie in den gnaed'gen Herrn verliebt sind." Johanna
schlug eine krampfhafte Lache auf.

"Ja, lachen Sie nur. Ich seh es schon lange. Sie haben so was. Und ein
Glueck, dass unser gnaed'ger Herr keine Augen dafuer hat ... Die arme
Frau, die arme Frau."

Johanna lag daran, Frieden zu schliessen. "Lassen Sie's gut sein,
Roswitha. Sie haben wieder Ihren Koller; aber ich weiss schon, den
haben alle vom Lande."

"Kann schon sein."

"Ich will jetzt nur die Briefe forttragen und unten sehen, ob der
Portier vielleicht schon die andere Zeitung hat. Ich habe doch recht
verstanden, dass er Lene danach geschickt hat? Und es muss auch mehr
darin stehen; das hier ist ja so gut wie gar nichts."



Dreissigstes Kapitel

Effi und die Geheimraetin Zwicker waren seit fast drei Wochen in Ems
und bewohnten daselbst das Erdgeschoss einer reizenden kleinen Villa.
In ihrem zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen gemeinschaftlichen
Salon mit Blick auf den Garten stand ein Palisanderfluegel, auf dem
Effi dann und wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann einen
Walzer spielte; sie war ganz unmusikalisch und beschraenkte sich im
wesentlichen darauf, fuer Niemann als Tannhaeuser zu schwaermen.

Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten die
Voegel, und aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein "Lokal" befand,
hoerte man, trotz der fruehen Stunde, bereits das Zusammenschlagen
der Billardbaelle. Beide Damen hatten ihr Fruehstueck nicht im Salon
selbst, sondern auf einem ein paar Fuss hoch aufgemauerten und mit
Kies bestreuten Vorplatz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach
dem Garten hinunterfuehrten; die Markise, ihnen zu Haeupten, war
aufgezogen, um den Genuss der frischen Luft in nichts zu beschraenken,
und sowohl Effi wie die Geheimraetin waren ziemlich emsig bei ihrer
Handarbeit. Nur dann und wann wurden ein paar Worte gewechselt.

"Ich begreife nicht", sagte Effi, "dass ich schon seit vier Tagen
keinen Brief habe; er schreibt sonst taeglich. Ob Annie krank ist?
Oder er selbst?"

Die Zwicker laechelte: "Sie werden erfahren, liebe Freundin, dass er
gesund ist, ganz gesund."

Effi fuehlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde, wenig
angenehm beruehrt und schien antworten zu wollen, aber in ebendiesem
Augenblicke trat das aus der Umgegend von Bonn stammende Hausmaedchen,
das sich von Jugend an daran gewoehnt hatte, die mannigfachsten
Erscheinungen des Lebens an Bonner Studenten und Bonner Husaren
zu messen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus, um hier den
Fruehstueckstisch abzuraeumen. Sie hiess Afra.

"Afra", sagte Effi, "es muss doch schon neun sein; war der Postbote
noch nicht da?"

"Nein, noch nicht, gnaed'ge Frau." "Woran liegt es?"

"Natuerlich an dem Postboten; er ist aus dem Siegenschen und hat
keinen Schneid. Ich hab's ihm auch schon gesagt, das sei die 'reine
Lodderei'. Und wie ihm das Haar sitzt; ich glaube, er weiss gar nicht,
was ein Scheitel ist."

"Afra, Sie sind mal wieder zu streng. Denken Sie doch: Postbote, und
so tagaus, tagein bei der ewigen Hitze ..."

"Ist schon recht, gnaed'ge Frau. Aber es gibt doch andere, die
zwingen's; wo's drinsteckt, da geht es auch." Und waehrend sie noch so
sprach, nahm sie das Tablett geschickt auf ihre fuenf Fingerspitzen
und stieg die Stufen hinunter, um durch den Garten hin den naeheren
Weg in die Kueche zu nehmen.

"Eine huebsche Person", sagte die Zwicker. "Und so quick und kasch,
und ich moechte fast sagen, von einer natuerlichen Anmut. Wissen Sie,
liebe Baronin, dass mich diese Afra...

uebrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige Afra
gegeben haben, aber ich glaube nicht, dass unsere davon abstammt ..."

"Und nun, liebe Geheimraetin, vertiefen Sie sich wieder in Ihr
Nebenthema, das diesmal Afra heisst, und vergessen darueber ganz, was
Sie eigentlich sagen wollten ..."

"Doch nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich wenigstens wieder
zurueck. Ich wollte sagen, dass mich diese Afra ganz ungemein an die
stattliche Person erinnert, die ich in Ihrem Hause ..."

"Ja, Sie haben recht. Es ist eine Aehnlichkeit da. Nur, unser Berliner
Hausmaedchen ist doch erheblich huebscher und namentlich ihr Haar viel
schoener und voller. Ich habe so schoenes flachsenes Haar, wie unsere
Johanna hat, ueberhaupt noch nicht gesehen. Ein bisschen davon sieht
man ja wohl, aber solche Fuelle ..."

Die Zwicker laechelte. "Das ist wirklich selten, dass man eine
junge Frau mit solcher Begeisterung von dem flachsenen Haar ihres
Hausmaedchens sprechen hoert. Und nun auch noch von der Fuelle! Wissen
Sie, dass ich das ruehrend finde? Denn eigentlich ist man doch bei der
Wahl der Maedchen in einer bestaendigen Verlegenheit. Huebsch sollen
sie sein, weil es jeden Besucher, wenigstens die Maenner, stoert,
eine lange Stakete mit griesem Teint und schwarzen Raendern in der
Tueroeffnung erscheinen zu sehen, und ein wahres Glueck, dass die
Korridore meistens so dunkel sind. Aber nimmt man wieder zu viel
Ruecksicht auf solche Hausrepraesentation und den sogenannten ersten
Eindruck, und schenkt man wohl gar noch einer solchen huebschen Person
eine weisse Taendelschuerze nach der andern, so hat man eigentlich
keine ruhige Stunde mehr und fragt sich, wenn man nicht zu eitel ist
und nicht zu viel Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht Remedur
geschaffen werden muesse. Remedur war naemlich ein Lieblingswort
von Zwicker, womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle
Geheimraete haben solche Lieblingsworte."

Effi hoerte mit sehr geteilten Empfindungen zu. Wenn die Geheimraetin
nur ein bisschen anders gewesen waere, so haette dies alles reizend
sein koennen, aber da sie nun mal war, wie sie war, so fuehlte sich
Effi wenig angenehm von dem beruehrt, was sie sonst vielleicht einfach
erheitert haette.

"Das ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den Geheimraeten
sagen. Innstetten hat sich auch dergleichen angewoehnt, lacht aber
immer, wenn ich ihn daraufhin ansehe, und entschuldigt sich hinterher
wegen der Aktenausdruecke. Ihr Herr Gemahl war freilich schon laenger
im Dienst und ueberhaupt wohl aelter ..."

"Um ein geringes", sagte die Geheimraetin spitz und ablehnend.

"Und alles in allem kann ich mich in Befuerchtungen, wie Sie sie
aussprechen, nicht recht zurechtfinden. Das, was man gute Sitte nennt,
ist doch immer noch eine Macht ..."

"Meinen Sie?"

Und ich kann mir namentlich nicht denken, dass es gerade Ihnen,
liebe Freundin, beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen und
Befuerchtungen durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, dass ich diesen
Punkt hier so offen beruehre, gerade das, was die Maenner einen
'Scharm' nennen, Sie sind heiter, fesselnd, anregend, und wenn es
nicht indiskret ist, so moecht ich angesichts dieser Ihrer Vorzuege
wohl fragen duerfen, stuetzt sich das, was Sie da sagen, auf allerlei
Schmerzliches, das Sie persoenlich erlebt haben?"

"Schmerzliches?" sagte die Zwicker. "Ach, meine liebe, gnaedigste
Frau, Schmerzliches, das ist ein zu grosses Wort, auch dann noch, wenn
man vielleicht wirklich manches erlebt hat. Schmerzlich ist einfach
zuviel, viel zuviel. Und dann hat man doch schliesslich auch seine
Hilfsmittel und Gegenkraefte. Sie duerfen dergleichen nicht zu
tragisch nehmen."

"Ich kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was Sie
anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wuesste, was Suende
sei, das weiss ich auch; aber es ist doch ein Unterschied, ob man so
hineingeraet in allerlei schlechte Gedanken oder ob einem derlei Dinge
zur halben oder auch wohl zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun
gar im eigenen Hause ..."

"Davon will ich nicht sprechen, das will ich nicht so direkt gesagt
haben, obwohl ich, offen gestanden, auch nach dieser Seite hin voller
Misstrauen bin oder, wie ich jetzt sagen muss, war; denn es liegt
ja alles zurueck. Aber da gibt es Aussengebiete. Haben Sie von
Landpartien gehoert?"

"Gewiss. Und ich wollte wohl, Innstetten haette mehr Sinn dafuer ..."

"Ueberlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker sass immer in
Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort hoere, gibt es
mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Ueberhaupt diese Vergnuegungsorte
in der Umgegend unseres lieben alten Berlin! Denn ich liebe Berlin
trotz alledem. Aber schon die blossen Namen der dabei in Frage
kommenden Ortschaften umschliessen eine Welt von Angst und Sorge. Sie
laecheln. Und doch, sagen Sie selbst, liebe Freundin, was koennen Sie
von einer grossen Stadt und ihren Sittlichkeitszustaenden erwarten,
wenn Sie beinah unmittelbar vor den Toren derselben (denn zwischen
Charlottenburg und Berlin ist kein rechter Unterschied mehr), auf
kaum tausend Schritte zusammengedraengt, einem Pichelsberg, einem
Pichelsdorf und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist
zuviel. Sie koennen die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht
wieder."

Effi nickte.

"Und das alles", fuhr die Zwicker fort, "geschieht am gruenen Holz der
Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und
hoehere Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnaedigste, nach der
anderen Seite hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow
und Stralau, das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die
Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens
sonderbaren Namen wie Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie haetten hoeren
sollen, wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem
Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natuerlich
sind das gerade die Plaetze, die bevorzugt werden. Ich hasse diese
Landpartien, die sich das Volksgemuet als eine Kremserpartie mit 'Ich
bin ein Preusse' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern hier die Keime
einer sozialen Revolution. Wenn ich sage 'soziale Revolution', so
meine ich natuerlich moralische Revolution, alles andere ist bereits
wieder ueberholt, und schon Zwicker sagte mir noch in seinen letzten
Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn frisst seine Kinder.' Und Zwicker,
welche Maengel und Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm
schuldig, er war ein philosophischer Kopf und hatte ein natuerliches
Gefuehl fuer historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe
Frau von Innstetten, so artig sie sonst ist, hoert nur noch mit halbem
Ohr zu; natuerlich, der Postbote hat sich drueben blicken lassen, und
da fliegt denn das Herz hinueber und nimmt die Liebesworte vorweg aus
dem Brief heraus ... Nun, Boeselager, was bringen Sie?"

Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und
packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch
einen grossen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten,
geb. von Briest.

Die Empfaengerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder.
Die Zwicker aber ueberflog die Friseuranzeigen und lachte ueber die
Preisermaessigung von Shampooing.

Effi hoerte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief
zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklaerliche Scheu, ihn zu
oeffnen. Eingeschrieben und mit zwei grossen Siegeln und ein dickes
Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel: "Hohen-Cremmen", und die
Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der
fuenfte Tag, keine Zeile.

Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
Laengsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue
Ueberraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen
von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten
Papierstreifen drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des
Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie
schob das Konvolut zurueck und begann zu lesen, waehrend sie sich in
den Schaukelstuhl zuruecklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen
entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann
bueckte sie sich und nahm den Brief wieder auf. "Was ist Ihnen, liebe
Freundin? Schlechte Nachrichten?" Effi nickte, gab aber weiter keine
Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie
getrunken, sagte sie: "Es wird voruebergehen, liebe Geheimraetin, aber
ich moechte mich doch einen Augenblick zurueckziehen ... Wenn Sie mir
Afra schicken koennten."

Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurueck, wo sie sichtlich
froh war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderfluegel
entlangfuehlen zu koennen. So kam sie bis an ihr nach rechts hin
gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Tuer
geoeffnet und das Bett an der Wand gegenueber erreicht hatte, brach
sie ohnmaechtig zusammen.



Einunddreissgstes Kapitel

Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich
auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Strasse
hinaus. Wenn da doch Laerm und Streit gewesen waere; aber nur der
Sonnenschein lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die
Schatten, die das Gitter und die Baeume warfen. Das Gefuehl des
Alleinseins in der Welt ueberkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor
einer Stunde noch eine glueckliche Frau, Liebling aller, die sie
kannten, und nun ausgestossen. Sie hatte nur erst den Anfang des
Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.
Wohin?

Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer
Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von
dieser Geheimraetin, der das alles bloss ein "interessanter Fall" war
und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Mass
ihrer Neugier nicht heranreichte.

"Wohin?"

Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut,
weiterzulesen. Endlich sagte sie: "Wovor bange ich mich noch? Was kann
noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den
all dies kam, ist tot, eine Rueckkehr in mein Haus gibt es nicht, in
ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind
wird man dem Vater lassen. Natuerlich. Ich bin schuldig, und eine
Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst
werde ich wohl durchbringen. Ich will sehen, was die Mama darueber
schreibt, wie sie sich mein Leben denkt."

Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluss
zu lesen.

"... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich
selbst stellen muessen und darfst dabei, soweit aeussere Mittel
mitsprechen, unserer Unterstuetzung sicher sein. Du wirst am besten
in Berlin leben (in einer grossen Stadt vertut sich dergleichen am
besten) und wirst da zu den vielen gehoeren, die sich um freie Luft
und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du
das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphaere herabsteigen
muessen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein.
Und was das Traurigste fuer uns und fuer Dich ist (auch fuer Dich,
wie wir Dich zu kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird
Dir verschlossen sein, wir koennen Dir keinen stillen Platz in
Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es
hiesse das, dies Haus von aller Welt abschliessen, und das zu tun,
sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt
hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich 'Gesellschaft' nennt,
uns als etwas unbedingt Unertraegliches erschiene; nein, nicht
deshalb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt,
ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines
Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes,
aussprechen wollen ..." Effi konnte nicht weiterlesen; ihre Augen
fuellten sich mit Traenen, und nachdem sie vergeblich dagegen
angekaempft hatte, brach sie zuletzt in ein heftiges Schluchzen und
Weinen aus, darin sich ihr Herz erleichterte.

Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis "Herein" erschien
die Geheimraetin.

"Darf ich eintreten?"

"Gewiss, liebe Geheimraetin", sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt
und die Haende gefaltet, auf dem Sofa lag. "Ich bin erschoepft und
habe mich hier eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich
einen Stuhl zu nehmen."

Die Geheimraetin setzte sich so, dass der Tisch, mit einer
Blumenschale darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine
Spur von Verlegenheit und aenderte nichts in ihrer Haltung, nicht
einmal die gefalteten Haende. Mit einem Male war es ihr vollkommen
gleichgueltig, was die Frau dachte; nur fort wollte sie.

"Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnaedigste Frau
..."

"Mehr als traurig", sagte Effi. "Jedenfalls traurig genug, um unserem
Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muss noch heute fort."

"Ich moechte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit
Annie?"

"Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen ueberhaupt nicht aus
Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es
liegt mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann,
wenigstens an Ort und Stelle zu sein."

"Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser
Tage nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste
zur Verfuegung stellen?"

Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, dass man
sich eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in
Aufregung: Der Kaiser kaeme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am
Schluss seien grosse Manoever, und die Bonner Husaren kaemen auch.

Die Zwicker ueberschlug sofort, ob es sich verlohnen wuerde, bis dahin
zu bleiben, kam zu einem entschiedenen "Ja" und ging dann, um Effis
Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.

Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: "Und dann, Afra,
wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir,
um mir beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem
Siebenuhrzug fort."

"Heute noch? Ach, gnaedigste Frau, das ist doch aber schade. Nun
fangen ja die schoenen Tage erst an."

Effi laechelte.

Die Zwicker, die noch allerlei zu hoeren hoffte, hatte sich nur mit
Muehe bestimmen lassen, der "Frau Baronin" beim Abschied nicht das
Geleit zu geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei
man immer so zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepaeck
beschaeftigt; gerade Personen, die man liebhabe, von denen naehme man
gern vorher Abschied. Die Zwicker bestaetigte das, trotzdem sie das
Vorgeschuetzte darin sehr wohl herausfuehlte; sie hatte hinter allen
Tueren gestanden und wusste gleich, was echt und unecht war.

Afra begleitete Effi zum Bahnhof und liess sich fest versprechen, dass
die Frau Baronin im naechsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in
Ems gewesen, der komme immer wieder. Ems sei das Schoenste, ausser
Bonn.

Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt,
nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretaer im Salon, sondern
draussen auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn
Stunden zuvor mit Effi das Fruehstueck genommen hatte.

Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in
Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider
Seelen hatten sich laengst gefunden und gipfelten in einer der ganzen
Maennerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden die Maenner durchweg
weit zurueckbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden
koenne, die sogenannten "forschen" am meisten. "Die, die vor
Verlegenheit nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem
kurzen Vorstudium, immer noch die besten, aber die eigentlichen Don
Juans erweisen sich jedesmal als eine Enttaeuschung. Wo soll es am
Ende auch herkommen." Das waren so Weisheitssaetze, die zwischen den
zwei Freundinnen ausgetauscht wurden.

Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr als
dankbaren Thema, das natuerlich "Effi" hiess, eben wie folgt fort:
"Alles in allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne
jeden Adelsduenkel (oder doch gross in der Kunst, ihn zu verbergen)
und immer interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzaehlte,
wovon ich, wie ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten
Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fuenfundzwanzig
oder nicht viel mehr. Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und
traue ihm auch in diesem Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht
am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe - da steckt eine
wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so gut wie sicher. Es
waere das erste Mal, dass ich mich in solcher Sache geirrt haette.
Dass sie mit Vorliebe von den Berliner Modepredigern sprach und das
Mass der Gottseligkeit jedes einzelnen feststellte, das und der
gelegentliche Gretchenblick, der jedesmal versicherte, kein
Waesserchen trueben zu koennen - alle diese Dinge haben mich in
meinem Glauben ... Aber da kommt eben unsere Afra, von der ich Dir,
glaube ich, schon schrieb, eine huebsche Person, und packt mir ein
Zeitungsblatt auf den Tisch, das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin
fuer mich gegeben habe; die blau angestrichene Stelle. Nun verzeih,
wenn ich diese Stelle erst lese ...

Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege
sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, dass ich mich nicht geirrt
habe. Wer mag nur der Crampas sein?

Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann
auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Oefen und Kamine?
Solange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf
dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese
Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Uebrigens
bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man
nun mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst
nicht getaeuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so ganz gewoehnlich.
Ein schwaecherer Diagnostiker haette sich doch vielleicht hinters
Licht fuehren lassen.

Wie immer Deine Sophie."



Zweiunddreissigstes Kapitel

Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso langer
Zeit eine kleine Wohnung in der Koeniggraetzer Strasse, zwischen
Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer
und hinter diesem die Kueche mit Maedchengelass, alles so
durchschnittsmaessig und alltaeglich wie nur moeglich. Und doch war es
eine apart huebsche Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel,
am meisten vielleicht dem alten Geheimrat Rummschuettel, der, dann
und wann vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloss die nun weit
zurueckliegende Rheumatismus- und Neuralgiekomoedie sondern auch
alles, was seitdem sonst noch vorgekommen war, laengst verziehen
hatte, wenn es fuer ihn der Verzeihung ueberhaupt bedurfte. Denn
Rummschuettel kannte noch ganz anderes.

Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit
ziemlich viel kraenkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war
er am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, dass
es so hoch sei, nichts wissen. "Nur keine Entschuldigungen, meine
liebe gnaedigste Frau; denn erstens ist es mein Metier, und zweitens
bin ich gluecklich und beinahe stolz, die drei Treppen so gut
noch steigen zu koennen. Wenn ich nicht fuerchten muesste, Sie zu
belaestigen - denn ich komme doch schliesslich als Arzt und nicht
als Naturfreund und Landschaftsschwaermer -, so kaeme ich wohl noch
oefter, bloss um Sie zu sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr
Hinterfenster zu setzen. Ich glaube, Sie wuerdigen den Ausblick nicht
genug."

"O doch, doch", sagte Effi; Rummschuettel aber liess sich nicht
stoeren und fuhr fort: "Bitte, meine gnaedigste Frau, treten Sie hier
heran, nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, dass ich Sie bis
an das Fenster fuehre. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur
die verschiedenen Bahndaemme, drei, nein, vier, und wie es bestaendig
darauf hin und her gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder
hinter einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den
weissen Rauch durchleuchtet! Waere der Matthaeikirchhof nicht
unmittelbar dahinter, so waere es ideal."

"Ich sehe gern Kirchhoefe."

"Ja, Sie duerfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt
unabweislich immer die Frage, koennten hier nicht vielleicht einige
weniger liegen? Im uebrigen, meine gnaedigste Frau, bin ich mit Ihnen
zufrieden und beklage nur, dass Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems
bei Ihren katarrhalischen Affektionen, wuerde Wunder ..."

Effi schwieg.

"Ems wuerde Wunder tun. Aber da Sie's nicht moegen (und ich finde
mich darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten
sind Sie im Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik
und die Toiletten und all die Zerstreuungen einer regelrechten
Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache."

Effi war einverstanden, und Rummschuettel nahm Hut und Stock. Aber
er trat noch einmal an das Fenster heran. "Ich hoere von einer
Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung,
und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Gruen stehen
wird ... Eine reizende Wohnung. Ich koennte Sie fast beneiden ... Und
was ich schon laengst einmal sagen wollte, meine gnaedige Frau, Sie
schreiben mir immer einen so liebenswuerdigen Brief. Nun, wer freute
sich dessen nicht? Aber es ist doch jedesmal eine Muehe ... Schicken
Sie mir doch einfach Roswitha."

Effi dankte ihm, und so schieden sie.

"Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ..." hatte Rummschuettel
gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der
Keith- in der Koeniggraetzer Strasse? Gewiss war sie's, und zwar sehr
lange schon, gerade so lange, wie Effi selbst in der Koeniggraetzer
Strasse wohnte. Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha
bei ihrer lieben gnaedigen Frau sehen lassen, und das war ein
grosser Tag fuer beide gewesen, so sehr, dass dieses Tages hier noch
nachtraeglich gedacht werden muss.

Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
kam und sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurueckreiste, nicht
gleich eine selbstaendige Wohnung genommen, sondern es mit einem
Unterkommen in einem Pensionat versucht. Es war ihr damit auch
leidlich geglueckt. Die beiden Damen, die dem Pensionat vorstanden,
waren gebildet und voll Ruecksicht und hatten es laengst verlernt,
neugierig zu sein. Es kam da so vieles zusammen, dass ein
Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes einzelnen viel zu
umstaendlich gewesen waere. Dergleichen hinderte nur den
Geschaeftsgang. Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhoere
der Zwicker noch in Erinnerung hatte, fuehlte sich denn auch von
dieser Zurueckhaltung der Pensionsdamen sehr angenehm beruehrt; als
aber vierzehn Tage vorueber waren, empfand sie doch deutlich, dass die
hier herrschende Gesamtatmosphaere, die physische wie die moralische,
nicht wohl ertragbar fuer sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu
sieben, und zwar ausser Effi und der einen Pensionsvorsteherin (die
andere leitete draussen das Wirtschaftliche) zwei die Hochschule
besuchende Englaenderinnen, eine adelige Dame aus Sachsen, eine sehr
huebsche galizische Juedin, von der niemand wusste, was sie eigentlich
vorhatte, und eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin
werden wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die
gegenseitigen Ueberheblichkeiten, bei denen die Englaenderinnen
merkwuerdigerweise nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom
hoechsten Malergefuehl erfuellten Polzinerin um die Palme rangen,
waren unerquicklich; dennoch waere Effi, die sich passiv verhielt,
ueber den Druck, den diese geistige Atmosphaere uebte, hinweggekommen,
wenn nicht, rein physisch und aeusserlich, die sich hinzugesellende
Pensionsluft gewesen waere. Woraus sich diese eigentlich
zusammensetzte, war vielleicht ueberhaupt unerforschlich, aber dass
sie der sehr empfindlichen Effi den Atem raubte, war nur zu gewiss,
und so sah sie sich, aus diesem aeusserlichen Grunde, sehr bald
schon zur Aus- und Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die
sie denn auch in verhaeltnismaessiger Naehe fand. Es war dies die
vorgeschilderte Wohnung in der Koeniggraetzer Strasse. Sie sollte
dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres beziehen, hatte das Noetige
dazu beschafft und zaehlte waehrend der letzten Septembertage die
Stunden bis zur Erloesung aus dem Pensionat.

An einem dieser letzten Tage - sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor
aus dem Esszimmer zurueckgezogen und gedachte sich eben auf einem mit
einem grossblumigen Wollstoff ueberzogenen Seegrassofa auszuruhen -
wurde leise an ihre Tuer geklopft.

"Herein."

Das eine Hausmaedchen, eine kraenklich aussehende Person von Mitte
Dreissig, die durch bestaendigen Aufenthalt auf dem Korridor des
Pensionats den hier lagernden Dunstkreis ueberallhin in ihren
Falten mitschleppte, trat ein und sagte: Die gnaedige Frau moechte
entschuldigen, aber es wolle sie jemand sprechen.

"Wer?"

"Eine Frau."

"Und hat sie ihren Namen genannt?" "Ja, Roswitha."

Und siehe da, kaum dass Effi diesen Namen gehoert hatte, so
schuettelte sie den Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf
den Korridor hinaus, um Roswitha bei beiden Haenden zu fassen und in
ihr Zimmer zu ziehen.

"Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natuerlich was
Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie
gluecklich ich bin, ich koennte dir einen Kuss geben; ich haette nicht
gedacht, dass ich noch solche Freude haben koennte. Mein gutes altes
Herz, wie geht es dir denn? Weisst du noch, wie's damals war, als der
Chinese spukte? Das waren glueckliche Zeiten. Ich habe damals gedacht,
es waeren unglueckliche, weil ich das Harte des Lebens noch nicht
kannte. Seitdem habe ich es kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht
das Schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir
und erzaehle mir ... Ach, ich habe solche Sehnsucht. Was macht Annie?"

Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer um,
dessen grau und verstaubt aussehende Waende in schmale Goldleisten
gefasst waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, dass der gnaedige
Herr nun wieder aus Glatz zurueck sei; der alte Kaiser habe gesagt,
sechs Wochen in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag,
wo der gnaedige Herr wieder da sein wuerde, darauf habe sie bloss
gewartet, wegen Annie, die doch eine Aufsicht haben muesse. Denn
Johanna sei wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu
huebsch und beschaeftige sich noch zu viel mit sich selbst und denke
vielleicht Gott weiss was alles. Aber nun, wo der gnaedige Herr wieder
aufpassen und in allem nach dem Rechten sehen koenne, da habe sie
sich's doch antun wollen und mal sehen, wie's der gnaedigen Frau gehe
...

"Das ist recht, Roswitha ..."

Und habe mal sehen wollen, ob der gnaedigen Frau was fehle und ob
sie sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und
beispringen und alles machen und dafuer sorgen, dass es der gnaedigen
Frau wieder gutgehe.

Effi hatte sich in die Sofaecke zurueckgelehnt und die Augen
geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: "Ja,
Roswitha, was du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du
musst wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension, ich habe da
weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung besorgt, und in
drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich da mit dir ankaeme und
zu dir sagen koennte: 'Nein, Roswitha, da nicht, der Schrank muss
dahin und der Spiegel da', ja, das waere was, das sollte mir schon
gefallen. Und wenn wir dann muede von all der Plackerei waeren, dann
sagte ich: 'Nun, Roswitha, gehe da hinueber und hole uns eine Karaffe
Spatenbraeu, denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch auch
trinken, und wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes aus
dem Habsburger Hof mit, du kannst ja das Geschirr nachher wieder
herueberbringen' - ja, Roswitha, wenn ich mir das denke, da wird mir
ordentlich leichter ums Herz. Aber ich muss dich doch fragen, hast du
dir auch alles ueberlegt? Von Annie will ich nicht sprechen, an der
du doch haengst, sie ist ja fast wie dein eigen Kind - aber trotzdem,
fuer Annie wird schon gesorgt werden, und die Johanna haengt ja auch
an ihr. Also davon nichts. Aber bedenke, wie sich alles veraendert
hat, wenn du wieder zu mir willst. Ich bin nicht mehr wie damals; ich
habe jetzt eine ganz kleine Wohnung genommen, und der Portier wird
sich wohl nicht sehr um dich und um mich bemuehen. Und wir werden
eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer das, was wir sonst unser
Donnerstagessen nannten, weil da reingemacht wurde. Weisst du noch?
Und weisst du noch, wie der gute Gieshuebler mal dazukam und sich zu
uns setzen musste, und wie er dann sagte: So was Delikates habe er
noch nie gegessen. Du wirst dich noch erinnern, er war immer so
schrecklich artig, denn eigentlich war er doch der einzige Mensch
in der Stadt, der von Essen was verstand. Die andern fanden alles
schoen."

Roswitha freute sich ueber jedes Wort und sah schon alles in bestem
Gange, bis Effi wieder sagte: "Hast du dir das alles ueberlegt? Denn
du bist doch - ich muss das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft
war -, du bist doch nun durch viele Jahre hin verwoehnt, und es kam
nie darauf an, wir hatten es nicht noetig, sparsam zu sein; aber jetzt
muss ich sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir
gibt, du weisst, von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut
gegen mich, soweit sie's koennen, aber sie sind nicht reich. Und nun
sage, was meinst du?"

"Dass ich naechsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am
Abend, sondern gleich am Morgen, und dass ich da bin, wenn das
Einrichten losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die
gnaedige Frau."

"Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muss, kann man
alles."

"Und dann, gnaedigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu
fuerchten, als ob ich mal denken koennte: 'fuer Roswitha ist das nicht
gut genug'. Fuer Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnaedigen
Frau teilen muss, und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja,
darauf freue ich mich schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das
verstehe ich. Und wenn ich es nicht verstuende, dann wollte ich es
schon lernen. Denn, gnaedige Frau, das hab' ich nicht vergessen, als
ich da auf dem Kirchhof sass, mutterwindallein, und bei mir dachte,
nun waere es doch wohl das beste, ich laege da gleich mit in der
Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei Leben erhalten? Ach, ich habe
so viel durchzumachen gehabt. Als mein Vater damals mit der gluehenden
Stange auf mich loskam ..."

"Ich weiss schon, Roswitha ..."

"Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof sass,
so ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam
die gnaedige Frau. Und ich will nicht selig werden, wenn ich das
vergesse."

Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. "Sehen Sie, gnaedige
Frau, den muessen Sie doch auch noch sehen."

Und nun trat auch Effi heran.

Drueben, auf der anderen Seite der Strasse, sass Rollo und sah nach
den Fenstern der Pension hinauf.

Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstuetzt, ihre Wohnung
in der Koeniggraetzer Strasse, darin es ihr von Anfang an gefiel.
Umgang fehlte freilich, aber sie hatte waehrend ihrer Pensionstage
von dem Verkehr mit Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, dass ihr
das Alleinsein nicht schwerfiel, wenigstens anfaenglich nicht. Mit
Roswitha liess sich allerdings kein aesthetisches Gespraech fuehren,
auch nicht mal sprechen ueber das, was in der Zeitung stand; aber wenn
es einfach menschliche Dinge betraf und Effi mit einem "ach, Roswitha,
mich aengstigt es wieder ..." ihren Satz begann, dann wusste die treue
Seele jedesmal gut zu antworten und hatte immer Trost und meist auch
Rat.

Bis Weihnachten ging es vorzueglich; aber der Heiligabend verlief
schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz
schwermuetig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch,
und wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto laenger. Was
tun? Sie las, sie stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin,
aber diese Notturnos waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben
zu tragen, und wenn Roswitha mit dem Teebrett kam und ausser dem
Teezeug auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine
Scheiben geschnittenen Wiener Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte
Effi, waehrend sie das Piano schloss: "Ruecke heran, Roswitha. Leiste
mir Gesellschaft."

Roswitha kam denn auch. "Ich weiss schon, die gnaedige Frau haben
wieder zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote
Flecke. Der Geheimrat hat es doch verboten."

"Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es
auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen?
Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der
Christuskirche hin uebersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn
die Fenster beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinueber; aber es hilft
mir auch nichts, mir wird dann immer noch schwerer ums Herz."

"Ja, gnaedige Frau, dann sollten Sie mal hineingehen. Einmal waren Sie
ja schon drueben."

"O schon oefters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er predigt
ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich waere froh, wenn ich
das Hundertste davon wuesste. Aber es ist doch alles bloss, wie wenn
ich ein Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und
seine schwarzen Locken schuettelt, dann bin ich aus meiner Andacht
heraus."

"Heraus?"

Effi lachte. "Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es wird
wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er
spricht immer soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut
ist, es erbaut mich nicht. Ueberhaupt all das Zuhoeren; es ist nicht
das Rechte. Sieh, ich muesste so viel zu tun haben, dass ich nicht
ein noch aus wuesste. Das waere was fuer mich. Da gibt es so Vereine,
wo junge Maedchen die Wirtschaft lernen, oder Naehschulen oder
Kindergaertnerinnen. Hast du nie davon gehoert?"

"Ja, ich habe mal davon gehoert. Anniechen sollte mal in einen
Kindergarten."

"Nun, siehst du, du weisst es besser als ich. Und in solchen Verein,
wo man sich nuetzlich machen kann, da moechte ich eintreten. Aber
daran ist gar nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an und
koennen es auch nicht. Und das ist das schrecklichste, dass einem die
Welt so zu ist und dass es sich einem sogar verbietet, bei Gutem mit
dabeizusein. Ich kann nicht mal armen Kindern eine Nachhilfestunde
geben ..."

"Das waere auch nichts fuer Sie, gnaedige Frau; die Kinder haben immer
so fettige Stiefel an, und wenn es nasses Wetter ist'- das ist dann
solch Dunst und Schmook, das halten die gnaedige Frau gar nicht aus."

Effi laechelte. "Du wirst wohl recht haben, Roswitha; aber es ist
schlimm, dass du recht hast, und ich sehe daran, dass ich noch zu viel
von dem alten Menschen in mir habe und dass es mir noch zu gut geht."

Davon wollte aber Roswitha nichts wissen. "Wer so gut ist wie gnaedige
Frau, dem kann es gar nicht zu gut gehen. Und Sie muessen nur nicht
immer so was Trauriges spielen, und mitunter denke ich mir, es wird
alles noch wieder gut, und es wird sich schon was finden."

Und es fand sich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter aus Polzin,
deren Kuenstlerduenkel ihr immer noch als etwas Schreckliches
vorschwebte, wollte Malerin werden, und wiewohl sie selber darueber
lachte, weil sie sich bewusst war, ueber eine unterste Stufe des
Dilettantismus nie hinauskommen zu koennen, so griff sie doch mit
Passion danach, weil sie nun eine Beschaeftigung hatte, noch dazu
eine, die, weil still und geraeuschlos, ganz nach ihrem Herzen war.
Sie meldete sich denn auch bei einem ganz alten Malerprofessor, der in
der maerkischen Aristokratie sehr bewandert und zugleich so fromm war,
dass ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachsen erschien. Hier, so
gingen wohl seine Gedanken, war eine Seele zu retten, und so kam er
ihr, als ob sie seine Tochter gewesen waere, mit einer ganz besonderen
Liebenswuerdigkeit entgegen. Effi war sehr gluecklich darueber, und
der Tag ihrer ersten Malstunde bezeichnete fuer sie einen Wendepunkt
zum Guten Ihr armes Leben war nun nicht so arm mehr, und Roswitha
triumphierte, dass sie recht gehabt und sich nun doch etwas gefunden
habe.

Das ging so Jahr und Tag und darueber hinaus. Aber dass sie nun wieder
eine Beruehrung mit den Menschen hatte, wie sie's beglueckte, so liess
es auch wieder den Wunsch in ihr entstehen, dass diese Beruehrungen
sich erneuern und mehren moechten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen
erfasste sie mitunter mit einer wahren Leidenschaft, und noch
leidenschaftlicher sehnte sie sich danach, Annie wiederzusehen. Es war
doch ihr Kind, und wenn sie dem nachhing und sich gleichzeitig der
Trippelli erinnerte, die mal gesagt hatte, die Welt sei so klein,
und in Mittelafrika koenne man sicher sein, ploetzlich einem alten
Bekannten zu begegnen, so war sie mit Recht verwundert, Annie noch nie
getroffen zu haben. Aber auch das sollte sich eines Tages aendern. Sie
kam aus der Malstunde, dicht am Zoologischen Garten, und stieg, nahe
dem Halteplatz, in einen die lange Kurfuerstenstrasse passierenden
Pferdebahnwagen ein. Es war sehr heiss, und die herabgelassenen
Vorhaenge, die bei dem starken Luftzuge, der ging, hin und her
bauschten, taten ihr wohl. Sie lehnte sich in die dem Vorderperron
zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere in eine Glasscheibe
eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln daran, als sie -
der Wagen war gerade in einem langsamen Fahren - drei Schulkinder
aufspringen sah, die Mappen auf dem Ruecken, mit kleinen spitzen
Hueten, zwei blond und ausgelassen, die dritte dunkel und ernst. Es
war Annie. Effi fuhr heftig zusammen, und eine Begegnung mit dem Kinde
zu haben, wonach sie sich doch so lange gesehnt, erfuellte sie jetzt
mit einer wahren Todesangst. Was tun? Rasch entschlossen oeffnete sie
die Tuer zu dem Vorderperron, auf dem niemand stand als der Kutscher,
und bat diesen, sie bei der naechsten Haltestelle vorn absteigen zu
lassen. "Is verboten, Fraeulein", sagte der Kutscher; sie gab ihm aber
ein Geldstueck und sah ihn so bittend an, dass der gutmutige Mensch
anderen Sinnes wurde und vor sich hin sagte: "Sind soll es eigentlich
nich; aber es wird ja woll mal gehen." Und als der Wagen hielt, nahm
er das Gitter aus, und Effi sprang ab.

Noch in grosser Erregung kam Effi nach Hause.

"Denke dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen." Und nun erzaehlte sie
von der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha war unzufrieden,
dass Mutter und Tochter keine Wiedersehensszene gefeiert hatten, und
liess sich nur ungern ueberzeugen, dass das in Gegenwart so vieler
Menschen nicht wohl angegangen sei. Dann musste Effi erzaehlen, wie
Annie ausgesehen habe, und als sie das mit muetterlichem Stolz getan,
sagte Roswitha: "Ja, sie ist so halb und halb. Das Huebsche und, wenn
ich es sagen darf, das Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das
Ernste, das ist ganz der Papa. Und wenn ich mir so alles ueberlege,
ist die doch wohl mehr wie der gnaedige Herr."

"Gott sei Dank!" sagte Effi.

"Na, gnaed'ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage. Und da wird
ja wohl mancher sein, der mehr fuer die Mama ist." "Glaubst du,
Roswitha? Ich glaube es nicht."

"Na, na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube, die gnaedige
Frau weiss auch ganz gut, wie's eigentlich ist und was die Maenner am
liebsten haben."

"Ach, sprich nicht davon, Roswitha."

Damit brach das Gespraech ab und wurde auch nicht wieder aufgenommen.
Aber Effi, wenn sie's auch vermied, grade ueber Annie mit Roswitha zu
sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch nicht verwinden
und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen Kind geflohen zu
sein. Es quaelte sie bis zur Beschaemung, und das Verlangen nach einer
Begegnung mit Annie steigerte sich bis zum Krankhaften. An Innstetten
schreiben und ihn darum bitten, das war nicht moeglich. Ihrer Schuld
war sie sich wohl bewusst, sie naehrte das Gefuehl davon mit einer
halb leidenschaftlichen Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres
Schuldbewusstseins fuehlte sie sich andererseits auch von einer
gewissen Auflehnung gegen Innstetten erfuellt. Sie sagte sich, er
hatte recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er
doch unrecht. Alles Geschehene lag so weit zurueck, ein neues Leben
hatte begonnen; er haette es koennen verbluten lassen, statt dessen
verblutete der arme Crampas.

Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte
sie sehen und sprechen und an ihr Herz druecken, und nachdem sie's
tagelang ueberlegt hatte, stand ihr fest, wie's am besten zu machen
sei.

Gleich am andern Vormittag kleidete sie sich sorgfaeltig in ein
dezentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei der
Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte herein, auf der
nur stand: Effi von Innstetten geb. von Briest. Alles andere war
fortgelassen, auch die Baronin. "Exzellenz lassen bitten", und Effi
folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer, wo sie sich niederliess und
trotz der Erregung, in der sie sich befand, den Bilderschmuck an den
Waenden musterte. Da war zunaechst Guido Renis Aurora, gegenueber
aber hingen englische Kupferstiche, Stiche nach Benjamin West, in der
bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und Schatten. Eines der
Bilder war Koenig Lear im Unwetter auf der Heide.

Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tuer des angrenzenden
Zimmers sich oeffnete und eine grosse, schlanke Dame von einem sofort
fuer sie einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin zutrat und ihr
die Hand reichte. "Meine liebe, gnaedigste Frau", sagte sie, "welche
Freude fuer mich, Sie wiederzusehen ..."

Und waehrend sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und zog Effi,
waehrend sie selber Platz nahm, zu sich nieder.

Effi war bewegt durch die sich in allem aussprechende Herzensguete.
Keine Spur von Ueberheblichkeit oder Vorwurf, nur menschlich schoene
Teilnahme. "Womit kann ich Ihnen dienen?" nahm die Ministerin noch
einmal das Wort.

Um Effis Mund zuckte es. Endlich sagte sie. "Was mich herfuehrt, ist
eine Bitte, deren Erfuellung Exzellenz vielleicht moeglich machen. Ich
habe eine zehnjaehrige Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen
habe und gern wiedersehen moechte."

Die Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an. "Wenn ich
sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz richtig. Vor
drei Tagen habe ich sie wiedergesehen." Und nun schilderte Effi mit
grosser Lebendigkeit die Begegnung, die sie mit Annie gehabt hatte.
"Vor meinem eigenen Kinde auf der Flucht. Ich weiss wohl, man liegt,
wie man sich bettet, und ich will nichts aendern in meinem Leben. Wie
es ist, so ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das
mit dem Kinde, das ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch,
es dann und wann sehen zu duerfen, nicht heimlich und verstohlen,
sondern mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten."

"Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligten", wiederholte die
Ministerin Effis Worte. "Das heisst also unter Zustimmung Ihres Herrn
Gemahls. Ich sehe, dass seine Erziehung dahin geht, das Kind von der
Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, ueber das ich mir kein Urteil
erlaube. Vielleicht, dass er recht hat; verzeihen Sie mir diese
Bemerkung, gnaedige Frau."

Effi nickte.

"Sie finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls zurecht und
verlangen nur, dass einem natuerlichen Gefuehl, wohl dem schoensten
unserer Gefuehle (wenigstens wir Frauen werden uns darin finden), sein
Recht werde. Treff ich es darin?"

"In allem."

"Und so soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen
erwirken, in Ihrem Hause, wo Sie versuchen koennen, sich das Herz
Ihres Kindes zurueckzuerobern."

Effi drueckte noch einmal ihre Zustimmung aus, waehrend die Ministerin
fortfuhr: "Ich werde also tun, meine gnaedigste Frau, was Ich tun
kann. Aber wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr Herr Gemahl,
verzeihen Sie, dass ich ihn nach wie vor so nenne, ist ein Mann der
nicht nach Stimmungen und Laune, sondern nach Grundsaetzen handelt
und diese fallenzulassen oder auch nur momentan aufzugeben, wird
ihn hart ankommen. Laeg' es nicht so, so waere seine Handlungs- und
Erziehungsweise laengst eine andere gewesen. Das, was hart fuer Ihr
Herz ist, haelt er fuer richtig."

"So meinen Exzellenz vielleicht, es waere besser, meine Bitte
zurueckzunehmen?"

"Doch nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Gemahls erklaeren, um
nicht zu sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten
andeuten, auf die wir aller Wahrscheinlichkeit nach stossen werden.
Aber ich denke, wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen, wenn wir's
klug einleiten und den Bogen nicht ueberspannen, wissen mancherlei
durchzusetzen. Zudem gehoert Ihr Herr Gemahl zu meinen besonderen
Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die ich an ihn richte, nicht
wohl abschlagen. Wir haben morgen einen kleinen Zirkel, auf dem ich
ihn sehe, und uebermorgen frueh haben Sie ein paar Zeilen von mir, die
Ihnen sagen werden, ob ich's klug, das heisst gluecklich eingeleitet
oder nicht. Ich denke, wir siegen in der Sache, und Sie werden Ihr
Kind wiedersehen und sich seiner freuen. Es soll ein sehr schoenes
Maedchen sein. Nicht zu verwundern."



Dreiunddreissigstes Kapitel

Am zweitfolgenden Tage trafen, wie versprochen, einige Zeilen ein, und
Effi las: "Es freut mich, liebe gnaedige Frau, Ihnen gute Nachricht
geben zu koennen. Alles ging nach Wunsch; Ihr Herr Gemahl ist zu
sehr Mann von Welt, um einer Dame eine von ihr vorgetragene Bitte
abschlagen zu koennen; zugleich aber - auch das darf ich Ihnen nicht
verschweigen -, ich sah deutlich, dass sein 'Ja' nicht dem entsprach,
was er fuer klug und recht haelt. Aber kritteln wir nicht, wo wir uns
freuen sollen. Ihre Annie, so haben wir es verabredet, wird ueber
Mittag kommen, und ein guter Stern stehe ueber Ihrem Wiedersehen."

Es war mit der zweiten Post, dass Effi diese Zeilen empfing, und bis
zu Annies Erscheinen waren mutmasslich keine zwei Stunden mehr. Eine
kurze Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi schritt in Unruhe durch
beide Zimmer und dann wieder in die Kueche, wo sie mit Roswitha von
allem moeglichen sprach: von dem Efeu drueben an der Christuskirche,
naechstes Jahr wuerden die Fenster wohl ganz zugewachsen sein, von dem
Portier, der den Gashahn wieder so schlecht zugeschraubt habe (sie
wuerden doch noch naechstens in die Luft fliegen), und dass sie das
Petroleum doch lieber wieder aus der grossen Lampenhandlung Unter den
Linden als aus der Anhaltstrasse holen solle - von allem moeglichen
sprach sie, nur von Annie nicht, weil sie die Furcht nicht aufkommen
lassen wollte, die trotz der Zeilen der Ministerin, oder vielleicht
auch um dieser Zeilen willen, in ihr lebte.

Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, schuechtern, und Roswitha
ging, um durch das Guckloch zu sehen. Richtig, es war Annie. Roswitha
gab dem Kinde einen Kuss, sprach aber sonst kein Wort, und ganz leise,
wie wenn ein Kranker im Hause waere, fuehrte sie das Kind vom Korridor
her erst in die Hinterstube und dann bis an die nach vorn fuehrende
Tuer.

"Da geh hinein, Annie." Und unter diesen Worten, sie wollte nicht
stoeren, liess sie das Kind allein und ging wieder auf die Kueche zu.

Effi stand am andern Ende des Zimmers, den Ruecken gegen den
Spiegelpfeiler, als das Kind eintrat. "Annie!" Aber Annie blieb an
der nur angelehnten Tuer stehen, halb verlegen, aber halb auch mit
Vorbedacht, und so eilte denn Effi auf das Kind zu, hob es in die
Hoehe und kuesste es.

"Annie, mein suesses Kind, wie freue ich mich. Komm, erzaehle mir",
und dabei nahm sie Annie bei der Hand und ging auf das Sofa zu, um
sich da zu setzen. Annie stand aufrecht und griff, waehrend sie die
Mutter immer noch scheu ansah, mit der Linken nach dem Zipfel der
herabhaengenden Tischdecke. "Weisst du wohl, Annie, dass ich dich
einmal gesehen habe?"

"Ja, mir war es auch so."

"Und nun erzaehle mir recht viel. Wie gross du geworden bist! Und das
ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzaehlt. Du warst immer so
wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast du von deiner Mama, die
war auch so. Und in der Schule? Ich denke mir, du bist immer die
Erste, du siehst mir so aus, als muesstest du eine Musterschuelerin
sein und immer die besten Zensuren nach Hause bringen. Ich habe auch
gehoert, dass dich das Fraeulein von Wedelstaedt so gelobt haben soll.
Das ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche
gute Schule. Mythologie war immer mein Bestes. Worin bist du denn am
besten?"

"Ich weiss es nicht."

"Oh, du wirst es schon wissen. Das weiss man. Worin hast du denn die
beste Zensur?"

"In der Religion."

"Nun, siehst du, da weiss ich es doch. Ja, das ist sehr schoen; ich
war nicht so gut darin, aber es wird wohl auch an dem Unterricht
gelegen haben. Wir hatten bloss einen Kandidaten."

"Wir hatten auch einen Kandidaten." "Und der ist fort?"

Annie nickte.

"Warum ist er fort?"

"Ich weiss es nicht. Wir haben nun wieder den Prediger." "Den ihr alle
sehr liebt."

"Ja; zwei aus der ersten Klasse wollen auch uebertreten." "Ah, ich
verstehe; das ist schoen. Und was macht Johanna?" "Johanna hat mich
bis vor das Haus begleitet ..."

"Und warum hast du sie nicht mit heraufgebracht?"

"Sie sagte, sie wolle lieber unten bleiben und an der Kirche drueben
warten."

"Und da sollst du sie wohl abholen?" "Ja."

"Nun, sie wird da hoffentlich nicht ungeduldig werden. Es ist ein
kleiner Vorgarten da, und die Fenster sind schon halb von Efeu
ueberwachsen, als ob es eine alte Kirche waere."

"Ich moechte sie aber doch nicht gerne warten lassen ..." "Ach, ich
sehe, du bist sehr ruecksichtsvoll, und darueber werde ich mich wohl
freuen muessen. Man muss es nur richtig einteilen ... Und nun sage mir
noch, was macht Rollo?"

"Rollo ist sehr gut. Aber Papa sagt, er wuerde so faul; er liegt immer
in der Sonne."

"Das glaub ich. So war er schon, als du noch ganz klein warst ...
Und nun sage mir, Annie - denn heute haben wir uns ja bloss so mal
wiedergesehen -, wirst du mich oefter besuchen?"

"O gewiss, wenn ich darf."

"Wir koennen dann in dem Prinz Albrechtschen Garten spazierengehen."

"O gewiss, wenn ich darf."

"Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis, Ananas- oder Vanilleeis,
das ass ich immer am liebsten."

"O gewiss, wenn ich darf."

Und bei diesem dritten "wenn ich darf" war das Mass voll; Effi sprang
auf, und ein Blick, in dem es wie Empoerung aufflammte, traf das Kind.
"Ich glaube, es ist die hoechste Zeit, Annie; Johanna wird sonst
ungeduldig." Und sie zog die Klingel. Roswitha, die schon im
Nebenzimmer war, trat gleich ein. "Roswitha, gib Annie das Geleit bis
drueben zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht
erkaeltet. Es sollte mir leid tun. Gruesse Johanna."

Und nun gingen beide.

Kaum aber, dass Roswitha draussen die Tuer ins Schloss gezogen hatte,
so riss Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel
in ein krampfhaftes Lachen. "So also sieht ein Wiedersehen aus", und
dabei stuerzte sie nach vorn, oeffnete die Fensterfluegel und suchte
nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch was in der Not ihres
Herzens. Da neben dem Fenster war ein Buecherbrett, ein paar Baende
von Schiller und Koerner darauf, und auf den Gedichtbuechern, die alle
gleiche Hoehe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch. Sie griff
danach, weil sie was haben musste, vor dem sie knien und beten konnte,
und legte Bibel und Gesangbuch auf den Tischrand, gerade da, wo Annie
gestanden hatte, und mit einem heftigen Ruck warf sie sich davor
nieder und sprach halblaut vor sich hin: "O du Gott im Himmel, vergib
mir, was ich getan; ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein
Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch
gewusst, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das
ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kinde, das bist nicht du, Gott, der
mich strafen will, das ist er, bloss er! Ich habe geglaubt, dass er
ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefuehlt;
aber jetzt weiss ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein
ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem
Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so
genannt, spoettisch damals, aber er hat recht gehabt. '0 gewiss, wenn
ich darf.' Du brauchst nicht zu duerfen; ich will euch nicht mehr,
ich hasse euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein
Streber war er, weiter nichts. - Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er
den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich
vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und
nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind,
weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind
schickt, richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase
bei 'wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch
mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muss leben, aber
ewig wird es ja wohl nicht dauern."

Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt, wie
leblos.



Vierunddreissigstes Kapitel

Rummschuettel, als er gerufen wurde, fand Effis Zustand nicht
unbedenklich. Das Hektische, das er seit Jahr und Tag an ihr
beobachtete, trat ihm ausgesprochener als frueher entgegen, und was
schlimmer war, auch die ersten Zeichen eines Nervenleidens waren da.
Seine ruhig freundliche Weise aber, der er einen Beisatz von Laune zu
geben wusste, tat Effi wohl, und sie war ruhig, solange Rummschuettel
um sie war. Als er schliesslich ging, begleitete Roswitha den alten
Herrn bis in den Vorflur und sagte: "Gott, Herr Geheimrat, mir ist so
bange; wenn es nu mal wiederkommt, und es kann doch; Gott - da hab'
ich ja keine ruhige Stunde mehr. Es war aber doch auch zuviel, das mit
dem Kind. Die arme gnaedige Frau. Und noch so jung, wo manche erst
anfangen."

"Lassen Sie nur, Roswitha. Kann noch alles wieder werden. Aber sie
muss fort. Wir wollen schon sehen. Andere Luft, andere Menschen."

Den zweiten Tag danach traf ein Brief in Hohen-Cremmen ein, der
lautete: "Gnaedigste Frau! Meine alten freundschaftlichen Beziehungen
zu den Haeusern Briest und Belling und nicht zum wenigsten die
herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau Tochter hege, werden diese
Zeilen rechtfertigen. Es geht so nicht weiter. Ihre Frau Tochter, wenn
nicht etwas geschieht, das sie der Einsamkeit und dem Schmerzlichen
ihres nun seit Jahren gefuehrten Lebens entreisst, wird schnell
hinsiechen. Eine Disposition zu Phtisis war immer da, weshalb ich
schon vorjahren Ems verordnete; zu diesem alten Uebel hat sich nun ein
neues gesellt: Ihre Nerven zehren sich auf. Dem Einhalt zu tun, ist
ein Luftwechsel noetig. Aber wohin? Es wuerde nicht schwer sein, in
den schlesischen Baedern eine Auswahl zu treffen, Salzbrunn gut, und
Reinerz, wegen der Nervenkomplikation, noch besser. Aber es darf
nur Hohen-Cremmen sein. Denn, meine gnaedigste Frau, was Ihrer Frau
Tochter Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein; sie siecht
hin, weil sie nichts hat als Roswitha. Dienertreue ist schoen,
aber Elternliebe ist besser. Verzeihen Sie einem alten Manne dies
Sicheinmischen in Dinge, die jenseits seines aerztlichen Berufes
liegen. Und doch auch wieder nicht, denn es ist schliesslich auch der
Arzt, der hier spricht und seiner Pflicht nach, verzeihen Sie dies
Wort, Forderungen stellt ... Ich habe so viel vom Leben gesehen ...
aber nichts mehr in diesem Sinne. Mit der Bitte, mich Ihrem Herrn
Gemahl empfehlen zu wollen, in vorzueglicher Ergebenheit Doktor
Rummschuettel." Frau von Briest hatte den Brief ihrem Manne
vorgelesen; beide sassen auf dem schattigen Steinfliesengang, den
Gartensaal im Ruecken, das Rondell mit der Sonnenuhr vor sich. Der
um die Fenster sich rankende wilde Wein bewegte sich leise in dem
Luftzug, der ging, und ueber dem Wasser standen ein paar Libellen im
hellen Sonnenschein.

Briest schwieg und trommelte mit dem Finger auf dem Teebrett. "Bitte,
trommle nicht; sprich lieber."

"Ach, Luise, was soll ich sagen. Dass ich trommle, sagt gerade genug.
Du weisst seit Jahr und Tag, wie ich darueber denke. Damals, als
Innstettens Brief kam, ein Blitz aus heiterem Himmel, damals war ich
deiner Meinung. Aber das ist nun schon wieder eine halbe Ewigkeit her;
soll ich hier bis an mein Lebensende den Grossinquisitor spielen? Ich
kann dir sagen, ich hab es seit langem satt ..."

"Mache mir keine Vorwuerfe, Briest; ich liebe sie so wie du,
vielleicht noch mehr, jeder hat seine Art. Aber man lebt doch nicht
bloss in der Welt, um schwach und zaertlich zu sein und alles mit
Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz und Gebot ist und was die
Menschen verurteilen und, vorlaeufig wenigstens, auch noch - mit Recht
verurteilen."

"Ach was. Eins geht vor."

"Natuerlich, eins geht vor; aber was ist das eine?"

"Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn man gar bloss eines hat
..."

"Dann ist es vorbei mit Katechismus und Moral und mit dem Anspruch der
'Gesellschaft'."

"Ach, Luise, komme mir mit Katechismus, soviel du willst; aber komme
mir nicht mit 'Gesellschaft'."

"Es ist sehr schwer, sich ohne Gesellschaft zu behelfen." "Ohne Kind
auch. Und dann glaube mir, Luise, die 'Gesellschaft', wenn sie nur
will, kann auch ein Auge zudruecken. Und ich stehe so zu der Sache:
Kommen die Rathenower, so ist es gut, und kommen sie nicht, so ist es
auch gut. Ich werde ganz einfach telegrafieren: 'Effi komm.' Bist du
einverstanden?" Sie stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
"Natuerlich bin ich's. Du solltest mir nur keinen Vorwurf machen. Ein
leichter Schritt ist es nicht. Und unser Leben wird von Stund an ein
anderes."

"Ich kann's aushalten. Der Raps steht gut, und im Herbst kann ich
einen Hasen hetzen. Und der Rotwein schmeckt mir noch. Und wenn ich
das Kind erst wieder im Hause habe, dann schmeckt er mir noch besser
... Und nun will ich das Telegramm schicken."

Effi war nun schon ueber ein halbes Jahr in Hohen-Cremmen; sie
bewohnte die beiden Zimmer im ersten Stock, die sie schon frueher,
wenn sie zu Besuch da war, bewohnt hatte; das groessere war fuer sie
persoenlich hergerichtet, nebenan schlief Roswitha. Was Rummschuettel
von diesem Aufenthalt und all dem andern Guten erwartet hatte, das
hatte sich auch erfuellt, soweit sich's erfuellen konnte. Das Huesteln
liess nach, der herbe Zug, der das so guetige Gesicht um ein gut Teil
seines Liebreizes gebracht hatte, schwand wieder hin, und es kamen
Tage, wo sie wieder lachen konnte. Von Kessin und allem, was da
zuruecklag, wurde wenig gesprochen, mit alleiniger Ausnahme von Frau
von Padden und natuerlich von Gieshuebler, fuer den der alte Briest
eine lebhafte Vorliebe hatte. "Dieser Alonzo, dieser Preciosaspanier,
der einen Mirambo beherbergt und eine Trippelli grosszieht - ja, das
muss ein Genie sein, das lass ich mir nicht ausreden." Und dann musste
sich Effi bequemen, ihm den ganzen Gieshuebler, mit dem Hut in der
Hand und seinen endlosen Artigkeitsverbeugungen, vorzuspielen, was
sie, bei dem ihr eigenen Nachahmungstalent, sehr gut konnte, trotzdem
aber ungern tat, weil sie's allemal als ein Unrecht gegen den guten
und lieben Menschen empfand. - Von Innstetten und Annie war nie die
Rede, wiewohl feststand, dass Annie Erbtochter sei und Hohen-Cremmen
ihr zufallen wuerde. Ja, Effi lebte wieder auf, und die Mama, die nach
Frauenart nicht ganz abgeneigt war, die ganze Sache, so schmerzlich
sie blieb, als einen interessanten Fall anzusehen, wetteiferte mit
ihrem Manne in Liebes- und Aufmerksamkeitsbezeugungen.

"Solchen Winter haben wir lange nicht gehabt", sagte Briest. Und dann
erhob sich Effi von ihrem Platz und streichelte ihm das spaerliche
Haar aus der Stirn. Aber so schoen das alles war, auf Effis Gesundheit
hin angesehen, war es doch alles nur Schein, in Wahrheit ging die
Krankheit weiter und zehrte still das Leben auf. Wenn Effi - die
wieder, wie damals an ihrem Verlobungstag mit Innstetten, ein blau und
weiss gestreiftes Kittelkleid mit einem losen Guertel trug - rasch
und elastisch auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten Morgen zu
bieten, so sahen sich diese freudig verwundert an, freudig verwundert,
aber doch auch wehmuetig, weil ihnen nicht entgehen konnte, dass
es nicht die helle Jugend, sondern eine Verklaertheit war, was der
schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen eigentuemlichen
Ausdruck gab. Alle, die schaerfer zusahen, sahen dies, nur Effi selbst
sah es nicht und lebte ganz dem Gluecksgefuehle, wieder an dieser fuer
sie so freundlich friedreichen Stelle zu sein, in Versoehnung mit
denen, die sie immer geliebt hatte und von denen sie immer geliebt
worden war, auch in den Jahren ihres Elends und ihrer Verbannung.

Sie beschaeftigte sich mit allerlei Wirtschaftlichem und sorgte fuer
Ausschmueckung und kleine Verbesserungen im Haushalt. Ihr Sinn fuer
das Schoene liess sie darin immer das Richtige treffen. Lesen aber
und vor allem die Beschaeftigung mit den Kuensten hatte sie ganz
aufgegeben. "Ich habe davon so viel gehabt, dass ich froh bin, die
Haende in den Schoss legen zu koennen." Es erinnerte sie auch wohl zu
sehr an ihre traurigen Tage. Sie bildete statt dessen die Kunst aus,
still und entzueckt auf die Natur zu blicken, und wenn das Laub von
den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen auf dem Eis des kleinen
Teiches blitzten oder die ersten Krokus aus dem noch halb winterlichen
Rondell aufbluehten - das tat ihr wohl, und auf all das konnte sie
stundenlang blicken und dabei vergessen, was ihr das Leben versagt,
oder richtiger wohl, um was sie sich selbst gebracht hatte.

Besuch blieb nicht ganz aus, nicht alle stellten sich gegen sie; ihren
Hauptverkehr aber hatte sie doch in Schulhaus und Pfarre. Dass im
Schulhaus die Toechter ausgeflogen waren, schadete nicht viel, es
wuerde nicht mehr so recht gegangen sein; aber zu Jahnke selbst - der
nicht bloss ganz Schwedisch-Pommern, sondern auch die Kessiner Gegend
als skandinavisches Vorland ansah und bestaendig darauf bezuegliche
Fragen stellte -, zu diesem alten Freunde stand sie besser denn je.
"Ja, Jahnke, wir hatten ein Dampfschiff, und wie ich Ihnen, glaub'
ich, schon einmal schrieb oder vielleicht auch schon mal erzaehlt
habe, beinahe waer ich wirklich ,rueber nach Wisby gekommen. Denken
Sie sich, beinahe nach Wisby. Es ist komisch, aber ich kann eigentlich
von vielem in meinem Leben sagen, 'beinah'."

"Schade, schade", sagte Jahnke.

"Ja, freilich schade. Aber auf Ruegen bin ich wirklich umhergefahren.
Und das waere so was fuer Sie gewesen, Jahnke. Denken Sie sich, Arkona
mit einem grossen Wendenlagerplatz, der noch sichtbar sein soll;
denn ich bin nicht hingekommen; aber nicht allzuweit davon ist der
Herthasee mit weissen und gelben Mummeln. Ich habe da viel an Ihre
Hertha denken muessen ..."

"Nun, ja, ja, Hertha ... Aber Sie wollten von dem Herthasee sprechen
..."

"Ja, das wollt' ich ... Und denken Sie sich, Jahnke, dicht an dem
See standen zwei grosse Opfersteine, blank und noch die Rinnen drin,
in denen vordem das Blut ablief. Ich habe von der Zeit an einen
Widerwillen gegen die Wenden."

"Ach, gnaed'ge Frau verzeihen. Aber das waren ja keine Wenden. Das mit
den Opfersteinen und mit dem Herthasee, das war ja schon viel, viel
frueher, ganz vor Christum natum; reine Germanen, von denen wir alle
abstammen ..."

"Versteht sich", lachte Effi, "von denen wir alle abstammen, die
Jahnkes gewiss und vielleicht auch die Briests."

Und dann liess sie Ruegen und den Herthasee fallen und fragte nach
seinen Enkeln und welche ihm lieber waeren; die von Bertha oder die
von Hertha Ja, Effi stand gut zu Jahnke. Aber trotz seiner intimen
Stellung zu Herthasee, Skandinavien und Wisby war er doch nur
ein einfacher Mann, und so konnte es nicht ausbleiben, dass der
vereinsamten jungen Frau die Plaudereien mit Niemeyer um vieles lieber
waren. Im Herbst, solange sich im Parke promenieren liess, hatte sie
denn auch die Huelle und Fuelle davon; mit dem Eintreten des Winters
aber kam eine mehrmonatige Unterbrechung, weil sie das Predigerhaus
selbst nicht gern betrat; Frau Pastor Niemeyer war immer eine sehr
unangenehme Frau gewesen und schlug jetzt vollends hohe Toene an,
trotzdem sie nach Ansicht der Gemeinde selber nicht ganz einwandfrei
war.

Das ging so den ganzen Winter durch, sehr zu Effis Leidwesen. Als dann
aber, Anfang April, die Straeucher einen gruenen Rand zeigten und die
Parkwege rasch abtrockneten, da wurden auch die Spaziergaenge wieder
aufgenommen.

Einmal gingen sie auch wieder so. Von fernher hoerte man den Kuckuck,
und Effi zaehlte, wie viele Male er rief. Sie hatte sich an Niemeyers
Arm gehaengt und sagte: "Ja, da ruft der Kuckuck. Ich mag ihn nicht
befragen. Sagen Sie, Freund, was halten Sie vom Leben?"

"Ach, liebe Effi, mit solchen Doktorfragen darfst du mir nicht kommen.
Da musst du dich an einen Philosophen wenden oder ein Ausschreiben
an eine Fakultaet machen. Was ich vom Leben halte? Viel und wenig.
Mitunter ist es recht viel, und mitunter ist es recht wenig."

"Das ist recht, Freund, das gefaellt mir; mehr brauch' ich nicht zu
wissen." Und als sie das so sagte, waren sie bis an die Schaukel
gekommen. Sie sprang hinauf mit einer Behendigkeit wie in ihren
juengsten Maedchentagen, und ehe sich noch der Alte, der ihr zusah,
von seinem halben Schreck erholen konnte, huckte sie schon zwischen
den zwei Stricken nieder und setzte das Schaukelbrett durch ein
geschicktes Auf- und Niederschnellen ihres Koerpers in Bewegung. Ein
paar Sekunden noch, und sie flog durch die Luft, und bloss mit einer
Hand sich haltend, riss sie mit der andern ein kleines Seidentuch von
Brust und Hals und schwenkte es wie in Glueck und Uebermut. Dann liess
sie die Schaukel wieder langsam gehen und sprang herab und nahm wieder
Niemeyers Arm.

"Effi, du bist doch noch immer, wie du frueher warst."

"Nein. Ich wollte, es waere so. Aber es liegt ganz zurueck, und ich
hab es nur noch einmal versuchen wollen. Ach, wie schoen es war, und
wie mir die Luft wohltat; mir war, als floeg ich in den Himmel. Ob
ich wohl hineinkomme? Sagen Sie mir's Freund, Sie muessen es wissen.
Bitte, bitte ..."

Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Haende und gab ihr einen
Kuss auf die Stirn und sagte: "Ja, Effi, du wirst."



Fuenfunddreissigstes Kapitel

Effi war den ganzen Tag draussen im Park, weil sie das Luftbeduerfnis
hatte; der alte Friesacker Doktor Wiesike war auch einverstanden
damit, gab ihr aber in diesem Stueck doch zu viel Freiheit, zu tun,
was sie wolle, so dass sie sich waehrend der kalten Tage im Mai heftig
erkaeltete: Sie wurde fiebrig, hustete viel, und der Doktor, der
sonst jeden dritten Tag herueberkam, kam jetzt taeglich und war in
Verlegenheit, wie er der Sache beikommen solle, denn die Schlaf- und
Hustenmittel, nach denen Effi verlangte, konnten ihr des Fiebers
halber nicht gegeben werden.

"Doktor", sagte der alte Briest, "was wird aus der Geschichte? Sie
kennen sie ja von klein auf, haben sie geholt. Mir gefaellt das alles
nicht; sie nimmt sichtlich ab, und die roten Flecke und der Glanz in
den Augen, wenn sie mich mit einem Male so fragend ansieht. Was meinen
Sie? Was wird? Muss sie sterben?"

Wiesike wiegte den Kopf langsam hin und her. "Das will ich nicht
sagen, Herr von Briest Dass sie so fiebert, gefaellt mir nicht. Aber
wir werden es schon wieder runter kriegen, dann muss sie nach der
Schweiz oder nach Mentone. Reine Luft und freundliche Eindruecke, die
das Alte vergessen machen ..."

"Lethe, Lethe."

"Ja, Lethe", laechelte Wiesike. "Schade, dass uns die alten Schweden,
die Griechen, bloss das Wort hinterlassen haben und nicht zugleich
auch die Quelle selbst ..."

"Oder wenigstens das Rezept dazu; Waesser werden ja jetzt nachgemacht.
Alle Wetter, Wiesike, das waer ein Geschaeft, wenn wir hier so ein
Sanatorium anlegen koennten: Friesack als Vergessenheitsquelle. Nun,
vorlaeufig wollen wir's mit der Riviera versuchen. Mentone ist ja
wohl Riviera? Die Kornpreise sind zwar in diesem Augenblicke wieder
schlecht, aber was sein muss, muss sein. Ich werde mit meiner Frau
darueber sprechen."

Das tat er denn auch und fand sofort seiner Frau Zustimmung, deren in
letzter Zeit - wohl unter dem Eindruck zurueckgezogenen Lebens - stark
erwachte Lust, auch mal den Sueden zu sehen, seinem Vorschlage zu
Hilfe kam. Aber Effi selbst wollte nichts davon wissen. "Wie gut ihr
gegen mich seid. Und ich bin egoistisch genug, ich wuerde das Opfer
auch annehmen, wenn ich mir etwas davon verspraeche. Mir steht es aber
fest, dass es mir bloss schaden wuerde."

"Das redest du dir ein, Effi."

"Nein. Ich bin so reizbar geworden; alles aergert mich. Nicht hier bei
euch. Ihr verwoehnt mich und raeumt mir alles aus dem Wege. Aber auf
einer Reise, da geht das nicht, da laesst sich das Unangenehme nicht
so beiseite tun; mit dem Schaffner faengt es an, und mit dem Kellner
hoert es auf. Wenn ich mir die sueffisanten Gesichter bloss vorstelle,
so wird mir schon ganz heiss. Nein, nein, lasst mich hier. Ich mag
nicht mehr weg von Hohen-Cremmen, hier ist meine Stelle. Der Heliotrop
unten auf dem Rondell, um die Sonnenuhr herum, ist mir lieber als
Mentone."

Nach diesem Gespraech liess man den Plan wieder fallen, und Wiesike,
soviel er sich von Italien versprochen hatte, sagte: "Das muessen wir
respektieren, denn das sind keine Launen; solche Kranken haben ein
sehr feines Gefuehl und wissen mit merkwuerdiger Sicherheit, was ihnen
hilft und was nicht. Und was Frau Effi da gesagt hat von Schaffner und
Kellner, das ist doch auch eigentlich ganz richtig, und es gibt keine
Luft, die so viel Heilkraft haette, den Hotelaerger (wenn man sich
ueberhaupt darueber aergert) zu balancieren. Also lassen wir sie hier;
wenn es nicht das beste ist, so ist es gewiss nicht das schlechteste."

Das bestaetigte sich denn auch. Effi erholte sich, nahm um ein
geringes wieder zu (der alte Briest gehoerte zu den Wiegefanatikern)
und verlor ein gut Teil ihrer Reizbarkeit. Dabei war aber ihr
Luftbeduerfnis in einem bestaendigen Wachsen, und zumal wenn Westwind
ging und graues Gewoelk am Himmel zog, verbrachte sie viele Stunden im
Freien. An solchen Tagen ging sie wohl auch auf die Felder hinaus und
ins Luch, oft eine halbe Meile weit, und setzte sich, wenn sie muede
geworden, auf einen Huerdenzaun und sah, in Traeume verloren, auf die
Ranunkeln und roten Ampferstauden, die sich im Winde bewegten.

"Du gehst immer so allein", sagte Frau von Briest. "Unter unseren
Leuten bist du sicher; aber es schleicht auch so viel fremdes Gesindel
umher."

Das machte doch einen Eindruck auf Effi, die an Gefahr nie gedacht
hatte, und als sie mit Roswitha allein war, sagte sie: "Dich kann ich
nicht gut mitnehmen, Roswitha; du bist zu dick und nicht mehr fest auf
den Fuessen."

"Nu, gnaed'ge Frau, so schlimm ist es doch noch nicht. Ich koennte ja
doch noch heiraten."

"Natuerlich", lachte Effi. "Das kann man immer noch. Aber weisst du,
Roswitha, wenn ich einen Hund haette, der mich begleitete. Papas
Jagdhund hat gar kein Attachement fuer mich, Jagdhunde sind so dumm,
und er ruehrt sich immer erst, wenn der Jaeger oder der Gaertner die
Flinte vom Riegel nimmt. Ich muss jetzt oft an Rollo denken."

"Ja", sagte Roswitha, "so was wie Rollo haben sie hier gar nicht. Aber
damit will ich nichts gegen 'hier' gesagt haben. Hohen-Cremmen ist
sehr gut."

Es war drei, vier Tage nach diesem Gespraeche zwischen Effi und
Roswitha, dass Innstetten um eine Stunde frueher in sein Arbeitszimmer
trat als gewoehnlich. Die Morgensonne, die sehr hell schien, hatte ihn
geweckt, und weil er fuehlen mochte, dass er nicht wieder einschlafen
wuerde, war er aufgestanden, um sich an eine Arbeit zu machen, die
schon seit geraumer Zeit der Erledigung harrte.

Nun war es eine Viertelstunde nach acht, und er klingelte. Johanna
brachte das Fruehstueckstablett, auf dem neben der Kreuzzeitung
und der Norddeutschen Allgemeinen auch noch zwei Briefe lagen. Er
ueberflog die Adressen und erkannte an der Handschrift, dass der eine
vom Minister war. Aber der andere? Der Poststempel war nicht deutlich
zu lesen, und das "Sr. Wohlgeboren Herrn Baron von Innstetten"
bezeugte eine glueckliche Unvertrautheit mit den landesueblichen
Titulaturen. Dem entsprachen auch die Schriftzuege von sehr primitivem
Charakter. Aber die Wohnungsangabe war wieder merkwuerdig genau: W.
Keithstrasse I C, zwei Treppen hoch.

Innstetten war Beamter genug, um den Brief von "Exzellenz" zuerst zu
erbrechen. "Mein lieber Innstetten! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu
koennen, dass Seine Majestaet Ihre Ernennung zu unterzeichnen geruht
haben, und gratuliere Ihnen aufrichtig dazu." Innstetten war erfreut
ueber die liebenswuerdigen Zeilen des Ministers, fast mehr als ueber
die Ernennung selbst. Denn was das Hoeherhinaufklimmen auf der Leiter
anging, so war er seit dem Morgen in Kessin, wo Crampas mit einem
Blick, den er immer vor Augen hatte, Abschied von ihm genommen, etwas
kritisch gegen derlei Dinge geworden. Er mass seitdem mit anderem
Mass, sah alles anders an. Auszeichnung, was war es am Ende? Mehr als
einmal hatte er waehrend der ihm immer freudloser dahinfliessenden
Tage einer halbvergessenen Ministerialanekdote aus den Zeiten des
aelteren Ladenberg her gedenken muessen, der, als er nach langem
Warten den Roten Adlerorden empfing, ihn wuetend und mit dem Ausruf
beiseite warf: "Da liege, bis du schwarz wirst." Wahrscheinlich war er
dann hinterher auch "schwarz" geworden, aber um viele Tage zu spaet
und sicherlich ohne rechte Befriedigung fuer den Empfaenger.

Alles, was uns Freude machen soll, ist an Zeit und Umstaende gebunden,
und was uns heute noch beglueckt, ist morgen wertlos. Innstetten
empfand das tief, und so gewiss ihm an Ehren und Gunstbezeugungen von
oberster Stelle her lag, wenigstens gelegen hatte, so gewiss stand
ihm jetzt fest, es kaeme bei dem glaenzenden Schein der Dinge nicht
viel heraus, und das, was man "das Glueck" nenne, wenn's ueberhaupt
existiere, sei was anderes als dieser Schein. "Das Glueck, wenn mir
recht ist, liegt in zweierlei: darin, dass man ganz da steht, wo
man hingehoert (aber welcher Beamte kann das von sich sagen), und
zum zweiten und besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz
Alltaeglichen, also darin, dass man ausgeschlafen hat und dass die
neuen Stiefel nicht druecken. Wenn einem die 720 Minuten eines
zwoelfstuendigen Tages ohne besonderen Aerger vergehen, so laesst sich
von einem gluecklichen Tage sprechen." In einer Stimmung, die derlei
schmerzlichen Betrachtungen nachhing, war Innstetten auch heute
wieder. Er nahm nun den zweiten Brief. Als er ihn gelesen, fuhr er
ueber seine Stirn und empfand schmerzlich, dass es ein Glueck gebe,
dass er es gehabt, aber dass er es nicht mehr habe und nicht mehr
haben koenne.

Johanna trat ein und meldete: "Geheimrat Wuellersdorf." Dieser stand
schon auf der Tuerschwelle. "Gratuliere, Innstetten."

"Ihnen glaub ich's; die anderen werden sich aergern. Im uebrigen ..."

"Im uebrigen. Sie werden doch in diesem Augenblick nicht kritteln
wollen."

"Nein. Die Gnade Seiner Majestaet beschaemt mich, und die wohlwollende
Gesinnung des Ministers, dem ich das alles verdanke, fast noch mehr."

"Aber ..."

"Aber ich habe mich zu freuen verlernt. Wenn ich es einem anderen als
Ihnen sagte, so wuerde solche Rede fuer redensartlich gelten. Sie
aber, Sie finden sich darin zurecht. Sehen Sie sich hier um; wie leer
und oede ist das alles. Wenn die Johanna eintritt, ein sogenanntes
Juwel, so wird mir angst und bange. Dieses Sich-in-Szene-Setzen
(und Innstetten ahmte Johannas Haltung nach), diese halb komische
Buestenplastik, die wie mit einem Spezialanspruch auftritt, ich weiss
nicht, ob an die Menschheit oder an mich - ich finde das alles so
trist und elend, und es waere zum Totschiessen, wenn es nicht so
laecherlich waere."

"Lieber Innstetten, in dieser Stimmung wollen Sie Ministerialdirektor
werden?"

"Ah, bah. Kann es anders sein? Lesen Sie, diese Zeilen habe ich eben
bekommen."

Wuellersdorf nahm den zweiten Brief mit dem unleserlichen Poststempel,
amuesierte sich ueber das "Wohlgeboren" und trat dann ans Fenster, um
bequemer lesen zu koennen.

"Gnaed'ger Herr! Sie werden sich wohl am Ende wundern, dass ich Ihnen
schreibe, aber es ist wegen Rollo. Anniechen hat uns schon voriges
Jahr gesagt: Rollo waere jetzt so faul; aber das tut hier nichts, er
kann hier so faul sein, wie er will, je fauler, je besser. Und die
gnaed'ge Frau moechte es doch so gern. Sie sagt immer, wenn sie ins
Luch oder ueber Feld geht: 'Ich fuerchte mich eigentlich, Roswitha,
weil ich da so allein bin; aber wer soll mich begleiten? Rollo, ja,
das ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, dass sich
die Tiere nicht so drum kuemmern.' Das sind die Worte der gnaed'gen
Frau, und weiter will ich nichts sagen und den gnaed'gen Herrn bloss
noch bitten, mein Anniechen zu gruessen. Und auch die Johanna. Von
Ihrer treu ergebenen Dienerin

Roswitha Gellenhagen"

"Ja", sagte Wuellersdorf, als er das Papier wieder zusammenfaltete,
"die ist uns ueber."

"Finde ich auch."

"Und das ist auch der Grund, dass Ihnen alles andere so fraglich
erscheint."

"Sie treffen's. Es geht mir schon lange durch den Kopf, und diese
schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch nicht
gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Haeuschen
gebracht. Es quaelt mich seit Jahr und Tag schon, und ich moechte aus
dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefaellt mir mehr; je mehr man
mich auszeichnet, je mehr fuehle ich, dass dies alles nichts ist. Mein
Leben ist verpfuscht, und so hab ich mir im stillen ausgedacht, ich
muesste mit all den Strebungen und Eitelkeiten ueberhaupt nichts mehr
zu tun haben und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentliches
ist, als ein hoeherer Sittendirektor verwenden koennen. Es hat
ja dergleichen gegeben. Ich muesste also, wenn's ginge, solche
schrecklich beruehmte Figur werden, wie beispielsweise der Doktor
Wichern im Rauhen Hause zu Hamburg gewesen ist, dieser Mirakelmensch,
der alle Verbrecher mit seinem Blick und seiner Froemmigkeit baendigte
..."

"Hm, dagegen ist nichts zu sagen; das wuerde gehen."

"Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht mal. Mir ist eben alles
verschlossen. Wie soll ich einen Totschlaeger an seiner Seele packen?
Dazu muss man selber intakt sein. Und wenn man's nicht mehr ist und
selber so was an den Fingerspitzen hat, dann muss man wenigstens vor
seinen zu bekehrenden Confratres den wahnsinnigen Buesser spielen und
eine Riesenzerknirschung zum besten geben koennen."

Wuellersdorf nickte.

Nun, sehen Sie, Sie nicken. Aber das alles kann ich nicht mehr. Den
Mann im Buesserhemd bring ich nicht mehr heraus und den Derwisch oder
Fakir, der unter Selbstanklagen sich zu Tode tanzt, erst recht nicht.
Und da hab ich mir denn, weil das alles nicht geht, als ein Bestes
herausgekluegelt: weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze
Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Gluecklichen! Denn
gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus
Passion, was am Ende gehen moechte, tut man dergleichen nicht. Also
blossen Vorstellungen zuliebe ... Vorstellungen! ... Und da klappt
denn einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloss noch
schlimmer."

"Ach was, Innstetten, das sind Launen, Einfaelle. Quer durch Afrika,
was soll das heissen? Das ist fuer 'nen Leutnant, der Schulden
hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit einem roten Fes einem
Palaver praesidieren oder mit einem Schwiegersohn von Koenig Mtesa
Blutfreundschaft schliessen? Oder wollen Sie sich in einem Tropenhelm,
mit sechs Loechern oben, am Kongo entlangtasten, bis Sie bei Kamerun
oder da herum wieder herauskommen? Unmoeglich!"

"Unmoeglich? Warum? Und wenn unmoeglich, was dann?" "Einfach
hierbleiben und Resignation ueben. Wer ist denn unbedrueckt? Wer sagte
nicht jeden Tag: 'Eigentlich eine sehr fragwuerdige Geschichte.'
Sie wissen, ich habe auch mein Paeckchen zu tragen, nicht gerade
das Ihrige, aber nicht viel leichter. Es ist Torheit mit dem
Im-Urwald-Umherkriechen oder In-einem-Termitenhuegel-Naechtigen; wer's
mag, der mag es, aber fuer unserem ist es nichts. In der Bresche
stehen und aushalten, bis man faellt, das ist das beste. Vorher aber
im kleinen und kleinsten so viel herausschlagen wie moeglich und ein
Auge dafuer haben, wenn die Veilchen bluehen oder das Luisendenkmal in
Blumen steht oder die kleinen Maedchen mit hohen Schnuerstiefeln ueber
die Korde springen. Oder auch wohl nach Potsdam fahren und in die
Friedenskirche gehen, wo Kaiser Friedrich liegt und wo sie jetzt eben
anfangen, ihm ein Grabhaus zu bauen. Und wenn Sie da stehen, dann
ueberlegen Sie sich das Leben von dem, und wenn Sie dann nicht
beruhigt sind, dann ist Ihnen freilich nicht zu helfen."

"Gut, gut. Aber das Jahr ist lang, und jeder einzelne Tag ... und dann
der Abend."

"Mit dem ist immer noch am ehesten fertig zu werden. Da haben wir
'Sardanapal' oder 'Coppelia' mit der del Era, und wenn es damit aus
ist, dann haben wir Siechen. Nicht zu verachten. Drei Seidel beruhigen
jedesmal. Es gibt immer noch viele, sehr viele, die zu der ganzen
Sache nicht anders stehen wie wir, und einer, dem auch viel verquer
gegangen war, sagte mir mal: 'Glauben Sie mir, Wuellersdorf, es geht
ueberhaupt nicht ohne 'Hilfskonstruktionen'.' Der das sagte, war ein
Baumeister und musste es also wissen. Und er hatte recht mit seinem
Satz. Es vergeht kein Tag, der mich nicht an die 'Hilfskonstruktionen'
gemahnte."

Wuellersdorf, als er sich so expektoriert, nahm Hut und Stock.
Innstetten aber, der sich bei diesen Worten seines Freundes seiner
eigenen voraufgegangenen Betrachtungen ueber das "kleine Glueck"
erinnert haben mochte, nickte halb zustimmend und laechelte vor sich
hin.

"Und wohin gehen Sie nun, Wuellersdorf? Es ist noch zu frueh fuer das
Ministerium."

"Ich schenk es mir heute ganz. Erst noch eine Stunde Spaziergang
am Kanal hin bis an die Charlottenburger Schleuse und dann wieder
zurueck. Und dann ein kleines Vorsprechen bei Huth, Potsdamer Strasse,
die kleine Holztreppe vorsichtig hinauf. Unten ist ein Blumenladen."

"Und das freut Sie? Das genuegt Ihnen?"

"Das will ich nicht gerade sagen. Aber es hilft ein bisschen. Ich
finde da verschiedene Stammgaeste, Fruehschoppler, deren Namen ich
klueglich verschweige. Der eine erzaehlt dann vom Herzog von Ratibor,
der andere vom Fuerstbischof Kopp und der dritte wohl gar von
Bismarck. Ein bisschen faellt immer ab. Dreiviertel stimmt nicht, aber
wenn es nur witzig ist, krittelt man nicht lange dran herum und hoert
dankbar zu." Und damit ging er.



Sechsunddreissigstes Kapitel

Der Mai war schoen, der Juni noch schoener, und Effi, nachdem ein
erstes schmerzliches Gefuehl, das Rollos Eintreffen in ihr geweckt
hatte, gluecklich ueberwunden war, war voll Freude, das treue Tier
wieder um sich zu haben. Roswitha wurde belobt, und der alte Briest
erging sich seiner Frau gegenueber in Worten der Anerkennung fuer
Innstetten, der ein Kavalier sei, nicht kleinlich und immer das Herz
auf dem rechten Fleck gehabt habe. "Schade, dass die dumme Geschichte
dazwischenfahren musste. Eigentlich war es doch ein Musterpaar." Der
einzige, der bei dem Wiedersehen ruhig blieb, war Rollo selbst, weil
er entweder kein Organ fuer Zeitmass hatte oder die Trennung als eine
Unordnung ansah, die nun einfach wieder behoben sei. Dass er alt
geworden, wirkte wohl auch mit dabei. Mit seinen Zaertlichkeiten
blieb er sparsam, wie er beim Wiedersehen sparsam mit seinen
Freudenbezeugungen gewesen war, aber in seiner Treue war er womoeglich
noch gewachsen. Er wich seiner Herrin nicht von der Seite. Den
Jagdhund behandelte er wohlwollend, aber doch als ein Wesen auf
niederer Stufe. Nachts lag er vor Effis Tuer auf der Binsenmatte,
morgens, wenn das Fruehstueck im Freien genommen wurde, neben der
Sonnenuhr, immer ruhig, immer schlaefrig, und nur wenn sich Effi vom
Fruehstueckstisch erhob und auf den Flur zuschritt und hier erst den
Strohhut und dann den Sonnenschirm vom Staender nahm, kam ihm seine
Jugend wieder, und ohne sich darum zu kuemmern, ob seine Kraft auf
eine grosse oder kleine Probe gestellt werden wuerde, jagte er die
Dorfstrasse hinauf und wieder herunter und beruhigte sich erst, wenn
sie zwischen den ersten Feldern waren. Effi, der freie Luft noch mehr
galt als landschaftliche Schoenheit, vermied die kleinen Waldpartien
und hielt meist die grosse, zunaechst von uralten Ruestern und dann,
wo die Chaussee begann, von Pappeln besetzte grosse Strasse, die nach
der Bahnhofsstation fuehrte, wohl eine Stunde Wegs. An allem freute
sie sich, atmete beglueckt den Duft ein, der von den Raps- und
Kleefeldern herueberkam, oder folgte dem Aufsteigen der Lerchen und
zaehlte die Ziehbrunnen und Troege, daran das Vieh zur Traenke ging.
Dabei klang ein leises Laeuten zu ihr herueber. Und dann war ihr
zu Sinn, als muesse sie die Augen schliessen und in einem suessen
Vergessen hinuebergehen. In Naehe der Station, hart an der Chaussee,
lag eine Chausseewalze. Das war ihr taeglicher Rastplatz, von dem
aus sie das Treiben auf dem Bahndamm verfolgen konnte; Zuege kamen
und gingen, und mitunter sah sie zwei Rauchfahnen, die sich einen
Augenblick wie deckten und dann nach links und rechts hin wieder
auseinandergingen, bis sie hinter Dorf und Waeldchen verschwanden.
Rollo sass dann neben ihr, an ihrem Fruehstueck teilnehmend, und wenn
er den letzten Bissen aufgefangen hatte, fuhr er, wohl um sich dankbar
zu bezeigen, irgendeine Ackerfurche wie ein Rasender hinauf und hielt
nur inne, wenn ein paar beim Brueten gestoerte Rebhuehner dicht neben
ihm aus einer Nachbarfurche aufflogen.

"Wie schoen dieser Sommer! Dass ich noch so gluecklich sein koennte,
liebe Mama, vor einem Jahr haette ich's nicht gedacht" - das sagte
Effi jeden Tag, wenn sie mit der Mama um den Teich schritt oder einen
Fruehapfel vom Zweig brach und tapfer einbiss. Denn sie hatte die
schoensten Zaehne. Frau von Briest streichelte ihr dann die Hand und
sagte: "Werde nur erst wieder gesund, Effi, ganz gesund; das Glueck
findet sich dann; nicht das alte, aber ein neues. Es gibt Gott sei
Dank viele Arten von Glueck. Und du sollst sehen, wir werden schon
etwas finden fuer dich."

"Ihr seid so gut. Und eigentlich hab ich doch auch euer Leben
geaendert und euch vor der Zeit zu alten Leuten gemacht." "Ach, meine
liebe Effi, davon sprich nicht. Als es kam, da dacht ich ebenso. Jetzt
weiss ich, dass unsere Stille besser ist als der Laerm und das laute
Getriebe von vordem. Und wenn du so fortfaehrst, koennen wir noch
reisen. Als Wiesike Mentone vorschlug, da warst du krank und reizbar
und hattest, weil du krank warst, ganz recht mit dem, was du von den
Schaffnern und Kellnern sagtest; aber wenn du wieder festere Nerven
hast, dann geht es, dann aergert man sich nicht mehr, dann lacht man
ueber die grossen Allueren und das gekraeuselte Haar. Und dann das
blaue Meer und weisse Segel und die Felsen ganz mit rotem Kaktus
ueberwachsen - ich habe es noch nicht gesehen, aber ich denke es mir
so. Und ich moechte es wohl kennenlernen."

So verging der Sommer, und die Sternschnuppennaechte lagen schon
zurueck. Effi hatte waehrend dieser Naechte bis ueber Mitternacht
hinaus am Fenster gesessen und sich nicht muede sehen koennen. "Ich
war immer eine schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da
oben stammen und, wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat
zurueckkehren, zu den Sternen oben oder noch drueber hinaus! Ich weiss
es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht."
Arme Effi, du hattest zu den Himmelwundern zu lange hinaufgesehen und
darueber nachgedacht, und das Ende war, dass die Nachtluft und die
Nebel, die vom Teich her aufstiegen, sie wieder aufs Krankenbett
warfen, und als Wiesike gerufen wurde und sie gesehen hatte, nahm er
Briest beiseite und sagte: "Wird nichts mehr; machen Sie sich auf ein
baldiges Ende gefasst." Er hatte nur zu wahr gesprochen, und wenige
Tage danach, es war noch nicht spaet und die zehnte Stunde noch nicht
heran, da kam Roswitha nach unten und sagte zu Frau von Briest:
"Gnaedigste Frau, mit der gnaedigen Frau oben ist es schlimm; sie
spricht immer so still vor sich hin, und mitunter ist es, als ob sie
bete, sie will es aber nicht wahrhaben, und ich weiss nicht, mir ist,
als ob es jede Stunde vorbei sein koennte."

"Will sie mich sprechen?"

"Sie hat es nicht gesagt. Aber ich glaube, sie moechte es. Sie wissen
ja, wie sie ist; sie will Sie nicht stoeren und aengstlich machen.
Aber es waere doch wohl gut."

"Es ist gut, Roswitha", sagte Frau von Briest, "ich werde kommen."

Und ehe die Uhr noch einsetzte, stieg Frau von Briest die Treppe
hinauf und trat bei Effi ein. Das Fenster stand offen, und sie lag auf
einer Chaiselongue, die neben dem Fenster stand.

Frau von Briest schob einen kleinen schwarzen Stuhl mit drei goldenen
Staebchen in der Ebenholzlehne heran, nahm Effis Hand und sagte:
"Wie geht es dir, Effi? Roswitha sagt, du seiest so fiebrig." "Ach,
Roswitha nimmt alles so aengstlich. Ich sah ihr an, sie glaubt, ich
sterbe. Nun, ich weiss nicht. Aber sie denkt, es soll es jeder so
aengstlich nehmen wie sie selbst."

"Bist du so ruhig ueber Sterben, liebe Effi?" "Ganz ruhig, Mama."

"Taeuschst du dich darin nicht? Alles haengt am Leben und die Jugend
erst recht. Und du bist noch so jung, liebe Effi."

Effi schwieg eine Weile. Dann sagte sie: "Du weisst, ich habe nicht
viel gelesen, und Innstetten wunderte sich oft darueber, und es war
ihm nicht recht."

Es war das erste Mal, dass sie Innstettens Namen nannte, was einen
grossen Eindruck auf die Mama machte und dieser klar zeigte, dass es
zu Ende sei.

"Aber ich glaube", nahm Frau von Briest das Wort, "du wolltest mir was
erzaehlen."

"Ja, das wollte ich, weil du davon sprachst, ich sei noch so jung.
Freilich bin ich noch jung. Aber das schadet nichts. Es war noch in
gluecklichen Tagen, da las mir Innstetten abends vor; er hatte sehr
viele Buecher, und in einem hiess es: Es sei wer von einer froehlichen
Tafel abgerufen worden, und am anderen Tag habe der Abgerufene
gefragt, wie's denn nachher gewesen sei. Da habe man ihm geantwortet:
'Ach, es war noch allerlei; aber eigentlich haben Sie nichts
versaeumt.' Sieh, Mama, diese Worte haben sich mir eingepraegt - es
hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas frueher
abgerufen wird."

Frau von Briest schwieg. Effi aber schob sich etwas hoeher hinauf
und sagte dann: "Und da ich nun mal von alten Zeiten und auch von
Innstetten gesprochen habe, muss ich dir doch noch etwas sagen, liebe
Mama."

"Du regst dich auf, Effi."

"Nein, nein; etwas von der Seele heruntersprechen, das regt mich nicht
auf, das macht still. Und da wollte ich dir denn sagen: Ich sterbe mit
Gott und Menschen versoehnt, auch versoehnt mit ihm."

"Warst du denn in deiner Seele in so grosser Bitterkeit mit ihm?
Eigentlich, verzeih mir, meine liebe Effi, dass ich das jetzt noch
sage, eigentlich hast du doch euer Leid heraufbeschworen."

Effi nickte. "Ja, Mama. Und traurig, dass es so ist. Aber als dann all
das Schreckliche kam, und zuletzt das mit Annie, du weisst schon, da
hab ich doch, wenn ich das laecherliche Wort gebrauchen darf, den
Spiess umgekehrt und habe mich ganz ernsthaft in den Gedanken
hineingelebt, er sei schuld, weil er nuechtern und berechnend gewesen
sei und zuletzt auch noch grausam. Und da sind Verwuenschungen gegen
ihn ueber meine Lippen gekommen."

"Und das bedrueckt dich jetzt?"

"Ja. Und es liegt mir daran, dass er erfaehrt, wie mir hier in meinen
Krankheitstagen, die doch fast meine schoensten gewesen sind, wie mir
hier klargeworden, dass er in allem recht gehandelt. In der Geschichte
mit dem armen Crampas - ja, was sollte er am Ende anders tun? Und
dann, womit er mich am tiefsten verletzte, dass er mein eigen Kind in
einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so
weh es mir tut, er hat auch darin recht gehabt. Lass ihn das wissen,
dass ich in dieser Ueberzeugung gestorben bin. Es wird ihn troesten,
aufrichten, vielleicht versoehnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner
Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe
ist."

Frau von Briest sah, dass Effi erschoepft war und zu schlafen schien
oder schlafen wollte. Sie erhob sich leise von ihrem Platz und ging.
Indessen kaum dass sie fort war, erhob sich auch Effi und setzte
sich an das offene Fenster, um noch einmal die kuehle Nachtluft
einzusaugen. Die Sterne flimmerten, und im Park regte sich kein Blatt.
Aber je laenger sie hinaushorchte, je deutlicher hoerte sie wieder,
dass es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein
Gefuehl der Befreiung ueberkam sie. "Ruhe, Ruhe."

Es war einen Monat spaeter, und der September ging auf die Neige. Das
Wetter war schoen, aber das Laub im Park zeigte schon viel Rot und
Gelb, und seit den Aequinoktien, die die drei Sturmtage gebracht
hatten, lagen die Blaetter ueberallhin ausgestreut.

Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veraenderung vollzogen, die
Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag
seit gestern eine weisse Marmorplatte, darauf stand nichts als "Effi
Briest" und darunter ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen:
"Ich moechte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe
dem andern keine Ehre gemacht." Und es war ihr versprochen worden.
Ja, gestern war die Marmorplatte gekommen und aufgelegt worden, und
angesichts der Stelle sassen nun wieder Briest und Frau und sahen
darauf hin und auf den Heliotrop, den man geschont und der den Stein
jetzt einrahmte. Rollo lag daneben, den Kopf in die Pfoten gesteckt.
Wilke, dessen Gamaschen immer weiter wurden, brachte das Fruehstueck
und die Post, und der alte Briest sagte: "Wilke, bestelle den kleinen
Wagen. Ich will mit der Frau ueber Land fahren."

Frau von Briest hatte mittlerweile den Kaffee eingeschenkt und sah
nach dem Rondell und seinem Blumenbeet. "Sieh, Briest, Rollo liegt
wieder vor dem Stein. Es ist ihm doch noch tiefer gegangen als uns. Er
frisst auch nicht mehr."

"Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht
so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am
Ende ist es doch das beste."

"Sprich nicht so. Wenn du so philosophierst ... nimm es mir nicht
uebel, Briest, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du hast deinen guten
Verstand, aber du kannst doch nicht an solche Fragen ..."

"Eigentlich nicht."

"Und wenn denn schon ueberhaupt Fragen gestellt werden sollen, da gibt
es ganz andere, Briest, und ich kann dir sagen, es vergeht kein Tag,
seit das arme Kind da liegt, wo mir solche Fragen nicht gekommen waren
..."

"Welche Fragen?"

"Ob wir nicht doch vielleicht schuld sind?" "Unsinn, Luise. Wie meinst
du das?"

"Ob wir sie nicht anders in Zucht haetten nehmen muessen.

Gerade wir. Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil er alles
in Zweifel laesst. Und dann, Briest, so leid es mir tut ... deine
bestaendigen Zweideutigkeiten ... und zuletzt, womit ich mich selbst
anklage, denn ich will nicht schadlos ausgehen in dieser Sache, ob sie
nicht doch vielleicht zu jung war?"

Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schuettelte den Kopf langsam
hin und her, und Briest sagte ruhig: "Ach, Luise, lass ... das ist ein
zu weites Feld."




*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, EFFI BRIEST ***

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